# taz.de -- Ausstellung „Lose Enden“ in Hamburg: Bedeutsame Textilien | |
> Flechtmatten von den Marshall-Inseln erzählen viel über Kolonialisierung, | |
> Atomwaffentests und Klimawandel. Das zeigt eine Ausstellung im MARKK. | |
Bild: Gutes Geschäft mit Kokosplantagen: Kaufmann Adolph Capelle mit seiner Fr… | |
Es sind ja bloß Matten. Und nein, es sind nicht bloß Matten. Es sind | |
hochkomplexe Flechtwerke, auch wenn sie zunächst nicht so wirken: Dezent, | |
fast unscheinbar hängen die mit braun-beige Mustern überzogenen Matten aus | |
Hibiskus- und Kokosfasern auf algengrünen Museumswänden. Sie stammen von | |
den [1][Marshall-Inseln] im West-Pazifik, entstanden zwischen 1900 und 1940 | |
und gehören zur Ausstellung „Lose Enden“ des Hamburger „Museums am | |
Rothenbaum. Kulturen und Künste der Welt (MARKK)“. | |
Wer mag, kann abstrahierte Vögel und Reptilien in die Muster hineinlesen. | |
Doch dahinter liegt mehr: Diese zunächst so „folkloristisch“ wirkenden, | |
einst als Kleidungsstücke verwendeten Matten – von der hellen „weiblichen�… | |
Mitte her gewoben und dann von einer „männlichen“ Bordüre eingefasst – | |
zeigen Gesellschaftsschicht, Erbfolge und Segenswünsche an. Ganz streng | |
reglementiert waren die Codes dabei nicht. Der oder die FlechtkünstlerIn | |
konnte auch selbst erfundene Symbole hinzufügen, deren jeweilige Deutung | |
offen bleibt. | |
Das änderte sich erst, nachdem 1857 britische Kolonisatoren eine | |
Missionsstation samt Schule auf Ebon errichteten, einer der über 1.000 zu | |
Mikronesien gehörenden Inseln. Die heißen eigentlich „jolet jen Anij“ | |
(„Geschenke von Gott“). Ihr europäischer Name bezieht sich auf John | |
Marshall, der die Inseln 1788 als erster Brite angesteuert und erstmals | |
kartiert hatte. | |
Im puncto Kleidung agitierten die Missionare von Anfang an gegen die | |
oberkörperfreien Matten, plädierten für Baumwollkleider. So verschwand die | |
Kulturtechnik des Mattenflechtens im Laufe der Jahre weitgehend – und mit | |
ihr die „biologisch abbaubaren“ Textilien. | |
Nur in Museen des globalen Nordens gibt es noch Matten, von den | |
Kolonialmächten hergebracht. „Ausgezeichnete Leistungen sind die schönen | |
Matten und die großen Kanus …“ steht noch heute auf der revisionistischen | |
Homepage „deutsche-schutzgebiete.de“: 1885 besetzte das Deutsche | |
Kaiserreich die Inseln, die dann 1906 Teil der [2][Kolonie | |
Deutsch-Neuguinea] wurden. | |
Da waren deutsche Händler, die auf den lukrativen Handel mit dem aus | |
Kokosnüssen gewonnen Kokosöl-Grundstoff Kopra zielten, längst vor Ort. Der | |
Gifhorner Kaufmann Georg Eduard Adolph Capelle war 1859 nach Ebon gekommen, | |
hatte eine Einheimische geheiratet und so Land für Kokosplantagen erworben. | |
Ein vergilbtes Foto in der Ausstellung zeigt das Paar. 1873 folgte der | |
Hamburger Kaufmann [3][Johan Cesar Godeffroy]. Auch er betrieb – nicht nur | |
dort – Kokosplantagen, unter Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung. | |
Wie die Matten in das Hamburger Museum kamen, ist nicht ganz klar. Einige | |
werden die Kaufleute mitgebracht haben, weitere jene Forscher, die im Zuge | |
der Hamburger [4][Südsee-Expedition] (1908–1910) die deutschen | |
Kolonialgebiete bereisten und erkundeten. Ein „gewaltvoller | |
Erwerbungskontext“ kann laut Jamie Dau, Provenienzforscher des MARKK, zwar | |
nicht nachgewiesen werden. Offen sei aber, ob die Aneignungen nach heutigen | |
Maßstäben unter fairen Bedingungen stattgefunden hätten, sagt er. | |
Fest steht aber, dass die Matten als Wissensspeicher fungieren, und das in | |
einer merkwürdigen zeitlichen Koinzidenz: Einerseits haben | |
CO2-Einsparbemühungen sowie die Tatsache, dass in Coronazeiten keine | |
Baumwolle importiert werden konnte, zu einem Revival der Flechttechnik auf | |
den Marshall-Inseln geführt. Anderseits kam fast zeitgleich – 2021 – | |
Meitaka Kendall-Lekka, Professorin für Business Studies am College of the | |
Marshall Islands, für die Ausstellungsvorbereitung ins MARKK, um dort | |
erstmals die „Jaki-ed“ genannten Matten zu begutachten. | |
„Es war ein tiefes Gefühl von Verantwortung, aber auch von Stolz und | |
Traurigkeit“, schreibt sie in der Ausstellungsbroschüre. Es sei, „als ob | |
unser kulturelles Erbe still und zeitlos in der Ferne darauf gewartet | |
hätte, wiedervereint und willkommen geheißen zu werden“. Ihr erster Impuls | |
sei gewesen, diese Dinge mitzunehmen. Aber sie erinnere sich auch „an die | |
Erkenntnis und die Angst, dass die Gegenstände, wenn man sie nach Hause | |
bringen würde, wahrscheinlich so gut wie weg wären“. | |
Auch ihre StudentInnen und andere MashallesInnen hätten ihr in einer | |
Umfrage mehrheitlich gesagt, dass Inseln keine Kapazitäten hätten, diese | |
Dinge angemessen aufzubewahren. Die [5][Restitutionsfrage], schreibt | |
Meitaka Kendall-Lekka, sei also noch offen. | |
Wenn man es zu Ende denkt, liegt hinter der Sorge, die Matten nicht | |
angemessen zu bewahren, auch die Bedrohung durch den klimawandelbedingten | |
[6][Anstieg des Meeresspiegels]: Die Marshall-Inseln liegen zwei Meter über | |
Normalnull und werden ForscherInnen zufolge zwischen 2030 und 2050 | |
überspült werden. | |
Marshallesische PolitikerInnen appellieren deshalb seit Jahren an die | |
Weltgemeinschaft, den Klimawandel einzudämmen. Ein Video der | |
marshallesischen Künstlerin und Aktivistin Selima Leem im MARKK zeigt eine | |
entsprechende Rede des damaligen Präsidenten Christopher Loeak auf der | |
Pariser Klimakonferenz 2015. Und 2021 hat Tina Stege, Klimabotschafterin | |
der Marshall-Inseln, den Hilferuf auf der Glasgower Klimakonferenz | |
wiederholt. | |
Passiert ist wenig. Dafür wurde bekannt, dass die mit Beton überbauten | |
Atommüll-Deponien auf dem Bikini-Atoll Risse bekommen – und ihr Untergrund | |
nie abgedichtet wurde, sodass auch der Pazifik radioaktiv verseucht werden | |
könnte. Der auch „Sarg“ genannte Betondeckel ist ein Relikt der | |
Atombomben-Tests der USA, denen die UNO die Inseln nach 1945 als | |
Treuhandgebiet überlassen hatte. Von 1946 bis 1958 zündeten die Vereinigten | |
Staaten 67 radioaktive Testbomben auf dem [7][Bikini- und dem | |
Eniwetok-Atoll.] | |
## Atombomben-Tests vernichteten Atoll | |
Die BewohnerInnen wurden auf benachbarte Inseln evakuiert – nicht weit | |
genug, um der Radioaktivität zu entgehen. 20 Jahre später, in den 1970ern, | |
wurde besagter Beton-Sarg gebaut. Ob man aus Nachlässigkeit oder | |
absichtsvoll so lange wartete, ist offen. Das US-Energieministerium soll – | |
so die Website „Atomwaffen A–Z“ des Bonner Netzwerks Friedenskooperative … | |
1977 notiert haben, die verstrahlten Menschen seien „die beste verfügbare | |
Datenquelle zum Transfer von Plutonium, das von einem biologischen System | |
durch die Darmwände aufgenommen wurde“. In der Tat haben Krebserkrankungen | |
und Missbildungen bei Neugeborenen dort seither stark zugenommen. | |
Die marshallesische Künstlerin und Aktivistin Kathy Jetnil-Kijiner | |
thematisiert das in ihrem Video „Anointed“ – was hier sowohl „gesalbt�… | |
auch „ermächtigt“ bedeutet. Im Mattenrock läuft sie über den Betonsarg, | |
sucht Spuren der Vergangenheit. Beschwört die Unversehrtheit der Inseln – | |
damals, als man die unverstrahlten Melonen und Kokosnüsse noch essen und | |
sorglos in der Lagune baden konnte. | |
Dann kamen die Tests – mit Strahlung, Feuer, Hitze. Ein Atoll soll ganz | |
verdampft sein damals. Und in dem verzweifelten Versuch, eine Erinnerung an | |
das Davor, eine Rückbindung an die Vergangenheit zu finden, erzählt Kathy | |
Jetnil-Kijiner die Legende von Letao, dem Sohn der Schildkrötengöttin. Er | |
wurde von ihr gesalbt und ermächtigt, sich in alles zu verwandeln, sogar in | |
Feuer. Das tat er, gab es einem kleinen Jungen, der versehentlich sein | |
Heimatdorf verbrannte. „Und Letao lachte und lachte“, rezitiert sie. | |
Eine böse Legende. Unverkennbar die Parallele zu den Atomwaffentests. „Wer | |
gab ihnen die Macht?“, fragt die Künstlerin. „Wer ermächtigte sie, uns zu | |
verbrennen? Uns anzulügen: „Ihr seid nicht mehr verstrahlt. Eure | |
Krankheiten sind normal.“ | |
So verhöhnen Täter ihre Opfer, aber die wehren sich: Auf ihre Klage hin | |
richten die USA 1986 einen Entschädigungsfonds ein. 2001 beschloss das | |
Nuclear Claims Tribunal, dass die USA rund 1,1 Milliarden US-Dollar zahlen | |
müssten. Der Fonds zahlte 300 Millionen und ab 2009 nichts mehr. | |
Was das alles mit den Matten zu tun hat? Sie sind nicht nur Auslöser dieser | |
Recherchen, stehen für koloniale Vergangenheit und heutige | |
[8][Öko-Apartheid]. Sie sind auch die einzigen Relikte der unverstrahlten | |
Ära der Marshall-Inseln, die bald selbst vergangen sein werden. | |
7 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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