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# taz.de -- Klimaethikerin zur Überforderung: „Wir sollten mehr tun“
> Viele Menschen fühlen sich von Klimaschutzmaßnahmen überfordert. Die
> Klimaethikerin Kirsten Meyer erklärt, warum wir uns etwas abverlangen
> sollten.
Bild: Dieser Mann hat sein Familienhaus an den steigenden Meeresspiegel verloren
wochentaz: Frau Meyer, die Klimakrise scheint viele Menschen
herauszufordern. Manche verzweifeln angesichts der Erderwärmung. Andere
fühlen sich von den Maßnahmen dagegen überfordert. Können Sie das alles
nachvollziehen?
Kirsten Meyer: An diesen Überforderungen deutet sich ja schon an, dass das
ein etwas vager Ausdruck ist. Wenn man den Klimawandel für so desaströs
hält, dass man ihn am liebsten verdrängen will, ist das eine emotionale
Überforderung. Das zweite ist eine ganz andere Art von wahrgenommener
Überforderung. Da geht es darum, dass ich meinen Lebensstil einschränken
muss, um etwas gegen den Klimawandel zu tun. In der Philosophie gibt es
eine Debatte darüber, ob moralische Forderungen angepasst werden sollen,
damit sie Menschen nicht überfordern.
Inwiefern?
Kritiker*innen mancher Moraltheorien erheben den Einwand, dass diese
überfordernd seien. Es gibt aber auch Philosoph*innen, die sagen, dass sich
die Frage nach Überforderung gar nicht stellt. Da geht es nur darum: Was
ist moralisch geboten? Es gibt ein altes Gesetz in der Philosophie, dass
„Sollen“ auch „Können“ impliziert. Das heißt, wir sollen nur tun, was…
auch tun können. Das akzeptieren eigentlich alle. Aber es gibt auch
Moralphilosoph*innen, die sagen: Wenn wir es dann wirklich sollen, dann
müssen wir es auch tun.
Ganz praktisch auf den Klimawandel bezogen: Wenn wir unsere Emissionen
senken können, sind wir auch dazu verpflichtet?
Genau. Mir scheint das beim Klimawandel nahezuliegen, weil wir mit
[1][unseren Emissionen] ja massiv Schaden anrichten, jetzt und in der
Zukunft. Dann ist es nicht angebracht, zu sagen: Es überfordert mich, die
Schädigung zu unterlassen – wenn überfordern hier nicht heißt: „Ich kann…
nicht“, sondern nur: „Es verlangt mir etwas ab“. Wenn es um unsere
moralischen Verpflichtungen angesichts des Klimawandels geht, muss man
vorsichtig sein mit dem Einwand der Überforderung.
Manchen verlangt es aber mehr ab als anderen. Oder?
Ich halte es für legitim, zu fordern, dass die einen nicht mehr schultern
müssen als andere. Da muss auch berücksichtigt werden, wer seinen
Lebensstil wie ändern muss. Wenn die einen sich sehr stark einschränken
müssen, die anderen aber gar nicht, weil nur der CO2-Preis steigt, ist das
ungerecht. Da scheinen mir Regulierungen, die alle gleich betreffen,
manchmal das bessere Mittel.
Wie würde man ethisch begründen, wer die Kosten der Krise tragen muss?
In der Klimaethik ist das Verursacherprinzip weit verbreitet. Es besagt,
dass jene, die sehr viel CO2 emittiert haben, sich deshalb jetzt besonders
stark einschränken müssen. Wenn man dieses Prinzip auf die individuellen
Emissionen anwendet, deckt es allerdings nicht alle CO2-Emissionen seit
Beginn der Industrialisierung ab. [2][Denn die Menschen, die heute leben,
haben ja einen Großteil dieser Emissionen gar nicht verursacht]. Da auch
diese Emissionen heute Schäden anrichten, muss man anders begründen, wieso
Menschen in Deutschland dafür aufkommen sollten. Hier kommt das Prinzip der
Zahlungsfähigkeit ins Spiel: Für die Verhinderung des Klimawandels und die
Anpassung daran sollten jene aufkommen, die es sich leisten können. Man
kann aber auch sagen, dass die Belastungen, die mit dem Klimaschutz
einhergehen, gleich hoch sein sollten. Der gleiche Betrag belastet aber
Menschen mit geringeren Einkommen mehr als solche mit größeren. [3][Klima-
und Sozialpolitik gehören hier zusammen.]
Manche Menschen glauben, dass ihr individueller Beitrag zum Klimaschutz
nichtig sei. Sie sagen: Ich muss mehr Geld für eine Wärmepumpe zahlen,
dabei geht es nur um einen kleinen Anteil des gesamtdeutschen
CO2-Ausstoßes, und der ist nur ein kleiner Teil des globalen Ausstoßes.
Diese Menschen argumentieren also mit den direkten Folgen ihres Handelns.
Aus moralischer Sicht ist aber nicht klar, dass es nur darum geht. Es gibt
auch philosophische Traditionen, von der Goldenen Regel über den
Kategorischen Imperativ, die verlangen, dass unser Handeln
universalisierbar sein muss. Es können aber heute nicht alle so viel
fliegen und so viel Fleisch essen wie wir in Europa. Unser Lebensstil ist
also nicht verallgemeinerbar. Wir können Menschen anderswo auf der Welt
nicht zugestehen, dass sie denselben Lebensstil und dieselben hohen
[4][Pro-Kopf-Emissionen] haben wie wir.
Der Utilitarismus konzentriert sich dagegen stark auf die Folgen unseres
Handelns. Utilitaristen, wie der australische Philosoph Peter Singer,
wollen zweckorientiert den größtmöglichen Nutzen für alle erreichen.
Singer nimmt dabei eine globale Perspektive ein und meint, dass wir immer
dann helfen sollen, wenn wir Leid verhindern können – selbst wenn wir es
gar nicht selbst verursacht haben, zum Beispiel bei einem Erdbeben. Das ist
eine sehr anspruchsvolle philosophische Position, die es hier meiner
Meinung nach gar nicht braucht. Beim Klimawandel geht es nämlich nicht
darum, dass wir anderen nur zu Hilfe kommen. Wir selbst verursachen
vielmehr durch unsere Emissionen die Naturkatastrophen, unter denen sie
leiden.
Kann die globale Sichtweise nicht trotzdem hilfreich sein?
Ja, er scheint mir einen wichtigen Punkt zu haben. Singer fragt sich, wieso
so wenige Menschen geneigt sind, ihm zu folgen. Er glaubt nicht, dass das
an seinem Utilitarismus liegt, sondern daran, dass wir Schwierigkeiten
haben, uns die Situation anderer Menschen vorzustellen, wenn sie weit
entfernt sind. Dasselbe trifft auf Langzeitwirkungen unseres Handelns zu,
die in die fernere Zukunft reichen. Uns fehlt da oft die Vorstellungskraft.
Wir sind moralisch leichter ansprechbar, wenn uns diejenigen, die von
unserem Handeln negativ betroffen sind, direkt vor Augen stehen und ihre
Ansprüche uns gegenüber vielleicht auch stärker einfordern können. Aber wie
weit ein Mensch räumlich oder zeitlich entfernt ist, ändert nichts an
unseren moralischen Verpflichtungen – besonders wenn wir selbst schädigen.
Aber wann sind Menschen zu Veränderungen bereit? Beim Fleischessen ist das
Tierleid ein wichtiges Argument. Aber viele steigen wohl erst um, wenn es
Alternativen gibt.
Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass diese verschiedenen Ebenen
ineinander greifen müssen. Wenn es nicht gewisse Vorreiter gegeben hätte,
die in den Supermarktregalen zu [5][Fleischersatzprodukten] gegriffen
haben, als die noch nicht etabliert waren, dann würden die da gar nicht
mehr liegen. Je mehr solcher Produkte es gibt, desto eher kommt man auf die
Idee, es zu probieren. Und stellt dann fest: Grillen mit Tofuwürstchen
macht jetzt echt Spaß! Vielleicht entdeckt man die Vorzüge von
Fleischersatzprodukten aber auch, wenn man einen Tag in der Woche in der
Kantine kein Fleisch findet.
Also sanfter Zwang. Sind Sie als Moralphilosophin nicht eher für das beste
Argument?
Ja, beim Veggie-Day würde die Freiheit eingeschränkt, an diesem einen Tag
in der Woche mittags Fleisch zu essen. Man muss sich aber auch klarmachen,
dass Freiheiten oft eingeschränkt werden, um andere Freiheiten zu schützen.
Die Freiheit der einen, ein Verbrenner-Auto zu fahren, verträgt sich eben
nicht mit der Freiheit der anderen, ihr Eigentum vor Überschwemmungen
geschützt zu wissen, weil die CO2-Emissionen letztlich solche
Überschwemmungen verursachen. Freiheitseinschränkungen sind hier vielleicht
nicht das schlechteste Mittel.
29 Jun 2023
## LINKS
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[3] /Einigung-beim-Heizungsgesetz/!5938597
[4] /Erdueberlastungstag-immer-frueher/!5932309
[5] /Markt-fuer-Fleischersatz-gewachsen/!5933793
## AUTOREN
Leon Holly
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