| # taz.de -- Zukunft der Anti-AKW-Bewegung: Es ist noch nicht vorbei | |
| > Die Anti-AKW-Bewegung ist auch nach dem Abschalten der Meiler nötig: Das | |
| > Müllproblem bleibt, Atomforschung und Brennstäbeproduktion gehen weiter. | |
| Bild: Demonstration auf Parkplatz vor ehemaligem Kernkraftwerk Würgassen im M�… | |
| Am 15. April war Schluss. Eine Minute vor Mitternacht ging mit dem Reaktor | |
| Neckarwestheim II das letzte von einst 36 Atomkraftwerken in Deutschland | |
| vom Netz. Die Produktion von Atomstrom und Atommüll ist seitdem Geschichte | |
| – ein jahrzehntelanger gesellschaftlicher Großkonflikt scheint mit einem | |
| großen Erfolg der Anti-AKW-Bewegung beendet. Schließlich hat sie mit | |
| langem Atem mächtige Gegenspieler aus Wirtschaft und Politik zum Umlenken | |
| gebracht. Zahlreiche geplante Atomkraftwerke wurden nie gebaut, nukleare | |
| Wiederaufarbeitungsanlagen im Wendland und in Wackersdorf verhindert, den | |
| Anstoß für den Siegeszug der erneuerbaren Energien gab die Bewegung | |
| ebenfalls. Wie viele Gerichtsbeschlüsse und vor allem das Brokdorf-Urteil | |
| des Bundesverfassungsgerichts zeigen, wurde auch die Demokratie in der | |
| Wilstermarsch und in Gorleben verteidigt. | |
| Dennoch fiel die Freude über das AKW-Aus bei vielen aus der Bewegung eher | |
| verhalten aus. Denn der Konflikt um Atomkraft und Energiewende ist mit der | |
| Abschaltung der Meiler nicht vorbei. Nicht nur der laufende Betrieb von | |
| Atomkraftwerken, auch der sich über Jahrzehnte hinziehende Abriss birgt | |
| Gefahren. Zehntausende Tonnen teils stark verstrahlten Schrotts müssen | |
| abgetragen und abtransportiert werden. Die Strahlenschutzverordnung erlaubt | |
| es, radioaktiv belastetes Material wie kontaminierten Bauschutt oder | |
| Metallteile als „normalen“ Müll zu entsorgen – sofern ein bestimmter | |
| Grenzwert nicht überschritten wird. Erst vor wenigen Tagen sorgte die | |
| Meldung für Unruhe, dass der Betreiber des Gorlebener Zwischenlagers Hauben | |
| von Castorbehältern bei einem örtlichen Schrotthändler entsorgen ließ. | |
| Vollständig ist der [1][Atomaussstieg] auch nicht: Die Brennelementefabrik | |
| in Lingen und die Urananreicherungsanlage in Gronau, die Atomkraftwerke in | |
| halb Europa mit frischem „Brennstoff“ beliefern, haben unbefristete | |
| Betriebsgenehmigungen. Die Lingener Fabrik will ihre Produktion in einem | |
| Joint Venture mit dem russischen Atomkonzern Rosatom sogar ausweiten und | |
| Brennstäbe künftig auch nach Osteuropa exportieren. Diverse | |
| Forschungsreaktoren sind ebenfalls noch in Betrieb. Und in die | |
| Atomforschung etwa in Karlsruhe oder Aachen fließen nach wie vor erhebliche | |
| Summe aus öffentlicher Hand. | |
| Noch nicht einmal ansatzweise erledigt hat sich das Atommüllproblem. Es | |
| betrifft einerseits die neu aufgerollte Suche nach einem Endlager für die | |
| hochradioaktiven Abfälle. Nachdem die mit der Suche betraute | |
| Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) 2020 einen ersten Zwischenbericht | |
| veröffentlichte, der mehr als die Hälfte des Bundesgebietes als potenziell | |
| geeignet ausweist, soll die Suche zunächst im Verborgenen weiterlaufen. Es | |
| besteht die Gefahr, dass die BGE erst in einigen Jahren weitere | |
| Gebietsausschlüsse veröffentlicht, wenn sie Standortregionen benennt, die | |
| oberirdisch geprüft werden sollen. Damit blieben die Betroffenen erneut | |
| außen vor. Maßgeblich dem Einsatz Anti-AKW-Bewegter ist es zu verdanken, | |
| dass diese „Transparenzlücke“ wenigstens öffentlich problematisiert wurde. | |
| Völlig ungeklärt ist der dauerhafte Verbleib des schwach und | |
| mittelradioaktiven Atommülls. Zwar wird dafür seit Jahren das frühere | |
| [2][Eisenerzbergwerk Konrad] umgebaut, doch der Standort steht nach | |
| massivem Bürgerprotest auf der Kippe. Die Kritik: Konrad entspricht nicht | |
| dem Stand von Wissenschaft und Technik, es handelt sich um ein altes | |
| Bergwerk, es gab kein vergleichendes Auswahlverfahren. Außerdem wäre Konrad | |
| viel zu klein – für die Abfälle, die aus dem maroden Atomlager Asse | |
| geborgen werden sollen, und für die Rückstände aus der Urananreicherung | |
| gäbe es dort gar keinen Platz. | |
| Ebenso umstritten ist das auf dem Gelände des früheren AKW Würgassen in | |
| Nordrhein-Westfalen geplante Bereitstellungslager, in dem die Abfälle für | |
| Konrad zunächst gesammelt und neu verpackt werden sollen. Durch dieses | |
| Lager würde sich die Zahl der gefährlichen Atommülltransporte durch | |
| Deutschland deutlich vermehren. Dazu kommt: Die Genehmigungen für die in | |
| den vergangenen Jahrzehnten an den AKW-Standorten hochgezogenen | |
| Zwischenlager für hochradioaktive Abfälle laufen in absehbarer Zeit aus. | |
| Ein Endlager wird wohl erst zur Jahrhundertwende betriebsbereit sein. Bis | |
| dort alle rund 1.900 Castoren aus den 16 Zwischenlagern eingelagert sind, | |
| werden weitere Jahrzehnte vergehen. | |
| Womöglich droht mittelfristig sogar eine [3][Renaissance der Atomkraft] | |
| durch die Hintertür. Lobbyorganisationen verweisen schon länger auf den im | |
| Vergleich zu Kohlekraftwerken deutlich geringeren CO2-Ausstoß. Und | |
| verschweigen dabei die gigantischen Umweltschäden durch Uranerzabbau und | |
| -aufbereitung, die Unfallgefahren sowie ungelösten Probleme bei der | |
| Lagerung des Atommülls. Wenn es nach Europas Konservativen und Liberalen | |
| geht, soll der EU-Standard für nachhaltige Investitionen, die sogenannte | |
| EU-Taxonomie, künftig auch Investitionen in Kernkraftanlagen umfassen. | |
| Damit bekämen diese ein Ökolabel, vergleichbar dem Bau von Windrädern und | |
| Solaranlagen. Aber verfügt die Anti-AKW-Bewegung noch die Stärke, um sich | |
| erfolgreich um diese Probleme zu kümmern? Gibt es die Bewegung überhaupt | |
| noch? | |
| Ja, es gibt sie noch. Allerdings nicht mehr als Massenbewegung, die | |
| Zehntausende mobilisiert. Doch sind AKW-Gegner:innen weiterhin präsent, an | |
| den Standorten der Atomanlagen ebenso wie in überregionalen Organisationen | |
| und Strukturen wie der bundesweiten Atommüllkonferenz oder „ausgestrahlt!“. | |
| Um als interventionsfähige Bewegung mittelfristig zu bestehen, bräuchte es | |
| auch wirkmächtige Symbole und „Hot Spots“ wie früher die Bauplätze in Wy… | |
| Brokdorf und Wackersdorf oder die Castortransporte nach Gorleben. Nach der | |
| Abschaltung der AKWs sind solche Symbole zunächst nicht in Sicht. Das | |
| Atomthema trotzdem in der Öffentlichkeit zu halten, wird eine große | |
| Herausforderung für die Bewegung. | |
| 4 Jul 2023 | |
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| Reimar Paul | |
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