# taz.de -- Ende der Atomenergie: Unsozialer Ausstieg | |
> Das Ende der AKW-Nutzung verschärft die sozialen Verwerfungen der | |
> Energiewende. Unter den Preisen werden in erster Linie die Ärmeren | |
> leiden. | |
Bild: Das AKW Emsland wurde im April abgeschaltet | |
Mitte April war es also vorbei. [1][In Deutschland gingen auch die letzten | |
drei Kernkraftwerke vom Netz]. Vor allem im Lichte der Klimakrise erschien | |
die Reihenfolge der deutschen Energiewende – erst aus der Atomkraft raus, | |
dann aus der Kohle, und dann irgendwann auch aus dem Gas – mit der Zeit | |
immer merkwürdiger. Statt mit der Kohle anzufangen, entledigte man sich | |
zunächst einer fast CO2-freien Energiequelle. | |
Neben dem Weltklima leidet aber auch das oft beschworene soziale Klima | |
unter dem Atomausstieg. Der Plan, das Stromnetz von fossiler und atomarer | |
Grundlastversorgung auf 100 Prozent Erneuerbare umzustellen, bringt nämlich | |
gewaltige Kosten mit sich, unter denen besonders die Ärmsten ächzen. | |
Zwar können Fotovoltaik und vor allem Windkraft im Alltag recht billig | |
Strom gewinnen. Doch die Gesamtkosten für die Transformation des | |
Energiesystems sind gewaltig. So wollen die Treiber der Energiewende in den | |
kommenden Jahrzehnten eine riesige Infrastruktur aus Kurzzeit- und | |
Langzeitspeichern aus dem Boden stampfen, die bei Bedarf für die | |
wetterabhängigen Erneuerbaren einspringen können. | |
Darüber hinaus muss Deutschland auch das Stromnetz aus- und umbauen, neue | |
Versorgungsleitungen legen und zur Harmonisierung der vielen dezentralen | |
Energiequellen die Digitalisierung voranbringen. Schon heute sehen sich die | |
Netzbetreiber häufig gezwungen, [2][mit teuren „Redispatches“ | |
(Anpassungen)] einzugreifen, um Stromproduktion und -nachfrage im | |
Gleichgewicht zu halten. | |
## Die Maßnahmen vergrößern die Rechnung für Energiewende | |
Alle diese Maßnahmen vergrößern die Rechnung für die Energiewende. Man | |
könnte diese Kosten abmildern, würde man statt der Totaltransformation die | |
Atomkraft als CO2-armen Grundlastsockel für Wind und Sonne beibehalten oder | |
sie gar weiter ausbauen, wie es andere Länder planen. | |
Schon 2021 zog der Bundesrechnungshof bittere Bilanz: Die Energiewende | |
„droht Privathaushalte und Unternehmen finanziell zu überfordern“; die | |
Kosten des Netzumbaus „treiben den Strompreis absehbar weiter in die Höhe“. | |
Dazu kommt der Preis der CO2-Zertifikate, der in den kommenden Jahren | |
weiter steigen und die noch fest verankerte fossile Grundlastproduktion mit | |
Kohle und Gas verteuern wird. | |
Am Ende zahlen die Verbraucherinnen. Erst vor Kurzem hat die | |
Bundesregierung die EEG-Umlage gestrichen, mit der alle Stromkunden | |
jahrelang den Ausbau von Solar- und Windkraft bezuschussten. Auch die | |
kleine Stromverbraucherin subventionierte darüber großindustrielle | |
Windparkbetreiber und gut betuchte Eigenheimbesitzer, die Solarzellen auf | |
ihre Dächer pflasterten – eine Umverteilung von unten nach oben. Nach über | |
zwanzig Jahren Energiewende und Subventionen [3][in Höhe von Hunderten | |
Milliarden Euro hat Deutschland] nicht nur das fossillastigste Netz | |
Westeuropas, sondern auch mit die höchsten Strompreise auf dem Kontinent. | |
## Neoliberale Methoden | |
Teuer an der Kernenergie wiederum ist vor allem der Bau von AKWs. Im | |
Alltagsbetrieb produzieren sie hingegen effektiv und damit auch günstig | |
Strom, wie Zahlen der Internationalen Energieagentur zeigen – Endlagerungs- | |
und Rückbaukosten eingeschlossen. Besonders eine Laufzeitverlängerung | |
bestehender Meiler hätte also ein Gegenmittel für steigenden Strompreise | |
sein können. | |
Die Politik hat mittlerweile erkannt, dass der Abbau gesicherter Leistung | |
zum Problem werden könnte – und setzt deshalb bei der Nachfrage an. [4][Das | |
Umweltbundesamt bezeichnet „die Reduktion des Energieverbrauches“ als „ei… | |
der größten Herausforderungen der Energiewende“]. Um das Stromsparen zu | |
erleichtern, sollen alle Anbieter variable Stromtarife anbieten: Der Preis | |
wird dann stündlich schwanken, abhängig davon, ob die Sonne gerade scheint | |
oder der Wind weht. | |
Bis 2032 will die Bundesregierung zudem digitale Strommessgeräte in jedes | |
Haus bringen. Auf den sogenannten Smart Metern können Kunden in Echtzeit | |
erkennen, wie hoch der Strompreis ist und ihr Verhalten daran anpassen. | |
„Demand Management“ nennt die Regierung das. Was nach neoliberalem Sprech | |
klingt, atmet auch ebenjenen Geist: Sind die Strompreise in der | |
Dunkelflaute gerade hoch, werden sich Menschen mit geringem Einkommen wohl | |
zweimal überlegen, ob sie sich den Tarif leisten können. Sie werden einfach | |
aus dem „dynamischen“ Markt gedrängt – oder müssen entsprechend Geld | |
berappen. | |
## Es war nicht alternativlos | |
In Großbritannien will die Regierung Smart-Meter-Nutzern nun sogar Geld für | |
eingesparten Strom bezahlen. Kritiker warnen zu Recht: Arme Menschen, die | |
bereits nicht viel Energie nutzen, könnten ihren Basisverbrauch noch weiter | |
einschränken, um am Ende des Monats etwas mehr Geld auf dem Konto zu haben. | |
Die gesicherte Leistung aus AKWs könnte solche Angebots- und | |
Preisschwankungen abschwächen. Der Kurs der Bundesregierung droht indes | |
auch hierzulande, den Armen eine neue Art der Austeritätspolitik | |
aufzuerlegen: Sobald die Gesellschaft zum Sparen aufgerufen wird, spüren es | |
die Armen als Erste. | |
Die Haupteinwände der Atomgegnerinnen bleiben die Sicherheitsrisiken sowie | |
der Atommüll. Schaut man sich jedoch statistisch die Todesfälle [5][pro | |
erzeugter Terawattstunde an, so ist die Kernenergie ungefähr so sicher wie | |
Solar- und Windkraft]. Und dass die Atommüllfrage keineswegs unlösbar ist, | |
zeigen die Finnen, die bereits ein Endlager gefunden haben. | |
Die Dekarbonisierung der gesamten Energiewirtschaft ist eine gewaltige | |
Aufgabe, die angesichts der Klimakrise nicht verhandelbar ist. Sie allein | |
wird mit vielen Kosten und sozialen Verwerfungen einhergehen. Der Ausstieg | |
aus der Kernenergie war hingegen keine alternativlose Entscheidung. Wenn | |
Deutschland freiwillig auf diese Stromquelle verzichtet, verknappt sie das | |
Angebot unnötig und schraubt die Transformationskosten in luftige Höhen. So | |
eine Politik muss man sich eben leisten können. | |
20 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Deutscher-Atomausstieg/!5924686 | |
[2] https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Fachthemen/ElektrizitaetundGas/Versorgu… | |
[3] https://www.bundestag.de/resource/blob/951272/6d1e9609bf5dd722d0fe085eae2fb… | |
[4] https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/378/publikationen… | |
[5] https://ourworldindata.org/safest-sources-of-energy | |
## AUTOREN | |
Leon Holly | |
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