| # taz.de -- Energiewende und Klimaschutz: „Wir dürfen nichts unversucht lass… | |
| > Unter Obama hat Steven Chu die Energiewende der USA mitgestaltet, jetzt | |
| > zerstört Trump sie. Ein Gespräch über Klimaflüchtlinge, Kernkraft und | |
| > Kompromisse. | |
| taz: Herr Chu, Sie sind Physiker und verfolgen die weltweite Energiepolitik | |
| seit Jahrzehnten. Was prognostizieren Sie: Auf welche Welt steuern wir zu? | |
| Steven Chu: Angesichts des zögerlichen Handelns glaube ich, wir bewegen uns | |
| auf mindestens drei Grad Erderwärmung zu. Die Frage ist: Was passiert dann? | |
| Viele Menschen in reichen Ländern argumentieren, sie könnten sich an den | |
| Klimawandel anpassen und dass es nicht so schlimm kommen wird, wie es | |
| Menschen in ärmeren Ländern vorhersagen. Das ist eine schwere | |
| Fehleinschätzung. | |
| taz: Worin liegt die Fehleinschätzung? | |
| Chu: Wenn Extremwetter Ernten zerstört oder anhaltende Dürre die | |
| Wasserversorgung bedroht, können soziale Strukturen und Regierungen | |
| zusammenbrechen. Dann verlassen verzweifelte Menschen ihr Zuhause, um sich | |
| einen neuen Ort zum Leben zu suchen. Das bedeutet Migration auf einem | |
| bisher unbekannten Niveau. Die Weltbank erwartet bis Mitte des Jahrhunderts | |
| mehr als 200 Millionen Klimaflüchtlinge. Viele Leute scheinen noch nicht | |
| verinnerlicht zu haben, dass es sehr viel Sinn macht, Menschen auf der | |
| anderen Seite der Welt zu unterstützen. | |
| taz: Und zwar wie? | |
| Chu: Zunächst muss es darum gehen, die negativen Auswirkungen des | |
| Klimawandels zu begrenzen, indem man den Menschen dabei hilft, sich so gut | |
| wie möglich anzupassen. Ziel muss es sein, die Gesellschaftsstrukturen | |
| intakt zu halten. Beim Ausbruch des Zika-Virus’ 2016 hätten die USA ihre | |
| Grenzen gegenüber Menschen aus Afrika schließen können. Stattdessen | |
| schickte Präsident Obama Hilfsteams, um den Ausbruch vor Ort zu bekämpfen. | |
| taz: Aktuell setzten USA und [1][EU auf Abschottung]. | |
| Chu: Das ist völlig falsch, es wird nicht funktionieren. Ich erinnere mich | |
| an eine Unterhaltung aus meiner Zeit als US-Energieminister: Meine Kollegen | |
| in Indien machten sich Sorgen über mögliche Klimaflüchtlinge aus | |
| Bangladesch. Dort leben 90 Prozent der Menschen nur wenige Meter über dem | |
| Meeresspiegel. Wenn der Meeresspiegel weiter steigt, könnten vorwiegend | |
| Muslime aus Bangladesch in das nicht muslimische Indien strömen. „Was | |
| sollen wir dann machen?“, fragten meine Kollegen. „Wir können sie doch | |
| nicht an der Grenze erschießen.“ Natürlich nicht! Man muss den Menschen in | |
| Bangladesch helfen, sich zu schützen, ehe eine Katastrophe eintritt. | |
| Andernfalls landet das Problem bei Ihnen vor der Haustür. | |
| taz: Hat Ihr rationales Argument eine Chance gegen Ideologie und die | |
| aktuelle Stimmung, das Thema Klimawandel lieber zu verdrängen? | |
| Chu: Ich mache mir große Sorgen über die aktuelle Entwicklung. Trump zum | |
| Beispiel bremst alle Fortschritte aus, die in den USA gemacht wurden. Er | |
| versucht sogar, Projekte zu stoppen, die schon finanziert sind. Denken Sie | |
| an die Windparks an der Atlantikküste: Die Hälfte der Anlagen steht | |
| bereits, die übrigen liegen im Hafen bereit. Aber der Weiterbau wird | |
| verboten, weil Trump es so will. Es ist ähnlich wie bei den Medikamenten | |
| des Hilfsprogramms USAID, die in Lagerhäusern bereitliegen, aber jemand in | |
| der Regierung sagt: „Nein, wir verteilen sie nicht.“ Das ist wirklich total | |
| verrückt. | |
| taz: Könnte das zum Bumerang für die USA werden? | |
| Chu: Natürlich kann Trump versuchen, alles zu stoppen, was ihm nicht passt | |
| – aber die Welt dreht sich weiter, und der Klimawandel ist eine Tatsache. | |
| China wird weiterhin in erneuerbare Energie, in Batterieforschung und | |
| Elektromobilität investieren, und auch Europa wird nicht sagen: „Oh, der | |
| Präsident der Vereinigten Staaten glaubt nicht daran, dass es den | |
| Treibhauseffekt gibt, also gibt es ihn auch nicht.“ Im Gegenteil. Das | |
| Investieren in grüne Technologien wird zu wirtschaftlichen Vorteilen | |
| führen. Wer eine führende Rolle dabei spielt, diese Technologien zu | |
| entwickeln, wird auch mehr Wohlstand ernten. | |
| taz: Auch Deutschland tut sich schwer mit der [2][Energiewende]. Haben Sie | |
| Tipps für Friedrich Merz? | |
| Chu: Ihre beste Ressource für erneuerbare Energie ist die Windkraft, und je | |
| mehr Offshore-Windparks in Nord- und Ostsee existieren, umso billiger wird | |
| Strom werden. Das große Problem, das ich sehe, ist der Widerstand der | |
| Menschen gegen den Bau neuer Hochspannungsleitungen. Die muss es aber | |
| geben, um die Energie in den Süden, zu den energiehungrigen Branchen zu | |
| transportieren. Andernfalls wird die Energiewende zum Handicap. | |
| taz: Die Lösung unserer Ministerin für Energie und Wirtschaft ist es, | |
| [3][neue Gaskraftwerke] zu bauen. | |
| Chu: Erdgas ist eine Übergangslösung, aber langfristig muss Deutschland die | |
| Stromerzeugung dekarbonisieren. Ich hoffe weiterhin, dass es gelingen wird, | |
| Kernkraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen. In den USA akzeptiert | |
| mittlerweile die Mehrheit der Erwachsenen Kernkraft als Teil unseres | |
| Energiemixes. Ich habe jahrelang versucht, Deutschland davon zu überzeugen, | |
| dass es ein Fehler ist, Atomkraftwerke abzuschalten, die man noch 15 oder | |
| 20 Jahre lang hätte weiterbetreiben können. | |
| taz: Das Thema ist in Deutschland erst recht kontrovers – und viele | |
| Forscher*innen halten eine [4][Energiewende auch ohne Atomkraft] für | |
| möglich. | |
| Chu: Was bleibt noch, wenn Sie sich gegen alles sperren? CO2 abzuscheiden | |
| und unterirdisch zu speichern, das wollen Sie auch nicht, weil die Menschen | |
| Angst haben, dass diese Technik Erdbeben auslösen könnte. So weitermachen | |
| wie bisher geht auch nicht, das ist die schlechteste Alternative. Alles, | |
| was wir beobachten, entspricht den Prognosen zu den Auswirkungen des | |
| Treibhauseffekts. Seit Jahren häufen sich außergewöhnliche Ereignisse. | |
| Starkregen mit Überflutungen, lange Dürrephasen, Rekordhitze – die Lage ist | |
| wirklich sehr ernst. | |
| taz: Da würden auch nur wenige widersprechen. | |
| Chu: Den meisten Menschen ist klar, dass wir etwas gegen den Klimawandel | |
| unternehmen müssen. Also brauchen wir Kompromisse. Bei Kernkraft gibt es | |
| vielversprechende neue Ansätze für das Problem der Endlagerung und auch das | |
| Reaktordesign. Moderne Reaktoren sind oft kleiner, modular aufgebaut und | |
| deutlich sicherer. Man nennt sie auch „walkaway safe“, weil sie keine | |
| Gefahr darstellen, selbst wenn der Zugang zu Strom und Kühlwasser verloren | |
| geht und das Personal keine aktive Kontrolle mehr über den Reaktor besitzt. | |
| taz: Das klingt nicht gerade vertrauenerweckend. | |
| Chu: Als ich Energieminister war, haben wir nur unter dieser Bedingung | |
| Fördergelder vergeben: Die neu entwickelten Reaktoren mussten unter allen | |
| Umständen sicher sein – keine Gefahr einer Kernschmelze oder | |
| Kontaminierung. Es wird Zeit brauchen, Menschen davon zu überzeugen, dass | |
| das gelingen kann. Aber die Gesundheitsgefahr, die von Kohlekraftwerken | |
| ausgeht, ist um ein Vielfaches höher, weil Feinstaub erwiesenermaßen | |
| zahlreiche Krankheiten auslösen kann, von Lungenkrebs bis zu | |
| Schlaganfällen. | |
| taz: Wären [5][Batteriespeicher für erneuerbare Energien] nicht die bessere | |
| Alternative zu neuen Kernkraftwerken? | |
| Chu: Ich bin ein großer Fan von solchen Speichern. Die Frage ist, wie | |
| schnell sich die Kosten senken lassen. Bislang sind sie immer noch etwa | |
| fünfmal höher als beim Bau einer Erdgasanlage ohne CO2-Abscheidung. Mein | |
| Rat ist, Forschung und Entwicklung von Batteriespeichern für den | |
| industriellen Einsatz mit aller Macht voranzutreiben, so schnell es nur | |
| geht. Denn es stimmt natürlich: Wenn wir an den Punkt kommen, dass grüne | |
| Energie extrem billig und immer verfügbar ist, können wir auch auf | |
| Kernenergie verzichten. | |
| taz: Reicht das Tempo, oder ist vielleicht alles schon zu spät? | |
| Chu: Goldene Regel Nummer eins: Man darf niemals sagen, dass es zu spät | |
| ist. Zu sagen, dass es zu spät ist, bedeutet, dass man seine Kinder und | |
| Enkelkinder ansieht und sagt: „Ihr seid auf euch allein gestellt. Ich gebe | |
| auf.“ Deshalb dürfen wir nichts unversucht lassen. | |
| taz: Zählt dazu auch [6][Geoengineering], also technische Eingriffe zur | |
| Manipulation des Klimas? | |
| Chu: Vermutlich schon. Es gibt ja verschiedene Ansätze, etwa den Versuch, | |
| die Wolkenbildung gezielt zu fördern. Oder das Einbringen von Aerosolen in | |
| die oberen Schichten der Atmosphäre, wo sie das Sonnenlicht reflektieren. | |
| Das Problem dabei ist, dass wir nicht wissen, ob diese Ansätze | |
| funktionieren und welche unbeabsichtigten Folgen sie womöglich haben. So | |
| könnten zum Beispiel große Mengen an Schwefeldioxidpartikeln die | |
| Ozonschicht schädigen oder das biologische Gleichgewicht der Ozeane stören. | |
| Mir sind landwirtschaftliche Lösungen lieber; das ist ohnehin | |
| Geoengineering, aber es lässt sich viel besser kontrollieren. | |
| taz: Woran denken Sie dabei? | |
| Chu: Beispielsweise an die Produktion und Einlagerung von mehr Biomasse. | |
| Oder an den gezielten Anbau von Pflanzen, die CO2 aus der Atmosphäre in | |
| Biomasse umwandeln. Die ungenutzte Biomasse kann in Form von Biokohle in | |
| den Boden zurückgeführt werden, der Rest sollte sicher isoliert werden. Die | |
| Photosynthese ist eine sehr wirkungsvolle Methode, um CO2 aus der | |
| Atmosphäre zu entfernen. Auch Gesteinsverwitterung ist ein sehr | |
| vielversprechender Ansatz, um Kohlenstoff zu binden und zugleich den Ertrag | |
| der Böden zu steigern. Ich habe immer gesagt: Geoengineering der oberen | |
| Atmosphäre oder der Ozeane ist ein Akt der Verzweiflung. Ich hoffe, dass | |
| wir diesen Punkt der Verzweiflung nicht erreichen. | |
| 10 Nov 2025 | |
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