# taz.de -- Buch über Andrew Weatherall: Den Schrullen verpflichtet | |
> Leidenschaft für musikalisches Außenseitertum: Das Buch „Andrew | |
> Weatherall. A Jockey Slut Tribute“ ist eine Verneigung vor dem britischen | |
> DJ. | |
Bild: Denker und DJ: Im vergangenen Jahr starb Andrew Weatherall | |
Gute Korkenzieher haben eine Seele. Gute DJs sind wie gute Korkenzieher, | |
die der Musik auf den Grund gehen, ohne dass der Geist aus der Flasche | |
entweicht. So einer war [1][der Brite Andrew Weatherall, der vergangenes | |
Jahr im Alter von 56 Jahren an einer Lungenembolie gestorben ist]. Zu | |
seinem Andenken haben Freunde und Kolleg:Innen um das Magazin Jockey | |
Slut aus Manchester nun ein Buch veröffentlicht. „Andrew Weatherall. A | |
Jockey Slut Tribute“ liest sich so, wie es heißt: wie eine Verneigung vor | |
einem Multitasker und umtriebigen Denker und Lenker am Dancefloor. | |
Zugleich ist es eine Geburtsurkunde, die belegt, wie Weatherall ab 1986 in | |
kleinen Londoner Clubs und auf Partys Musik aufgelegt und die Explosion von | |
Acid House und Rave im ganzen Land mitausgelöst hat. Neben alten | |
Interviews, Reportagen, Flyern und Fotos bildet eine Oral History das | |
Kernstück des Buches. | |
Zwischen seinen Anfängen als DJ und den Engagements als Remixer von | |
Popbands wie Primal Scream, Saint Etienne und My Bloody Valentine, deren | |
Songs er für die Tanzfläche neuarrangierte, lagen nur wenige Monate. | |
Momente, in denen Mainstreammedien aus Angst vor Ravekultur sogar zur | |
moralischen Panikmache griffen. Dabei war elektronische Tanzmusik die | |
größte kulturelle Umwälzung seit Punk. Weatherall hatte keine | |
konventionelle Musikausbildung durchlaufen, er konnte aus Songs mit | |
subtilen Samples und Drumbreaks das Quäntchen Wahnsinn herauskitzeln, das | |
darin vergraben war. | |
Und er sah in Popmusik etwas Größeres als nur sich selbst. „Andrew waren | |
die Regeln im Aufnahmestudio gar nicht bewusst, deshalb hat er sie beim | |
Remix unseres Songs ‚Loaded‘ auch nicht beachtet“, erklärt Bobby Gillesp… | |
von Primal Scream. Nebenbei lässt sich mit der Lektüre auch britische | |
Popgeschichte von 1987 bis 2020 erfassen, aus Sicht von jemandem, der | |
abseits von Hypes und Moden bescheiden geblieben ist. | |
Ein Job, keine Karriere | |
In den 1990ern begann Weatherall zusammen mit anderen, auch eigene | |
elektronische Musik zu produzieren, unter Namen wie Sabres of Paradise und | |
Two Lone Swordsmen. Immer wieder schlug er vermeintlich zu kommerzielle | |
Angebote aus, stattdessen ließ er Projekte auslaufen und verschwand von der | |
Bildfläche, nur, um in anderen Zusammenhängen weiterzumachen. „Das Wort | |
Handwerk kann ich nicht leiden, ich betrachte Deejaying als Job, nicht als | |
Karriere. Ich dachte immer, ich mache das ein paar Monate und dann kommt | |
was anderes.“ Er habe – so erkärt es Weatherall in einem 2013 publizierten | |
Interview – geglaubt, Musik, die in sechs Stunden entstanden sei, könne gar | |
nicht gut klingen. Bis er merkte, dass zu den sechs Stunden auch noch die | |
25 Jahre vorherige Erfahrungswerte mit dazugezählt werden. | |
Entrückt auf der Kanzel thronend, so wurde die Figur DJ im | |
Nachwende-Deutschland eingeführt und sehr einseitig als Ebenbild eines | |
modernen Schamanen, Kaisers und Gotts des Klangs inszeniert, dem Millionen | |
bei der Loveparade zujubeln. Nicht nur aus heutiger Sicht macht es Sinn, | |
den Seinszusammenhang von DJs kleinteiliger zu erschließen und ihr Schaffen | |
an einer „Lebenstotalität“ zu spiegeln, wie sie einst der Soziologe Arnold | |
Hauser aus allen Neigungen, Interessen und Bestrebungen einer Persona | |
herausdestilliert hatte, doppelt vorkommend im Alltag und in der Kunst | |
selbst. | |
„Kannst du mich bitte noch mal in einer halben Stunde anrufen, ich schaue | |
mir gerade die neue Folge von ‚Coronation Street‘ an.“ So erinnert sich d… | |
Belfaster Produzent und Booker David Holmes an seinen ersten Kontakt zu | |
Andrew Weatherall. Die seit 1960 nonstop im britischen Fernsehen | |
ausgestrahlte Serie „Coronation Street“ erscheint wie das Gegenteil eines | |
umkulteten Einpeitschers an den Plattentellern. Nur ist ihr Setting, eine | |
Arbeitersiedlung in der fiktiven nordenglischen Industriestadt | |
Weatherfield, eben doch nicht so weit entfernt von Andrew Weatherall. Aus | |
einer unteren Mittelklassen-Familie in Windsor stammend, hatte er es auf | |
die Kunsthochschule geschafft, brach sie jedoch vorzeitig ab und arbeitete | |
als Möbelschreiner und am Bau, bevor seine schlau zusammengestellten Mixe | |
zwischen Postpunk, Dub Reggae und Disco für Furor auf der Tanzfläche | |
sorgten. Mal humorlos hart bis zum Nasenbluten, mal den Schrullen und | |
Abgründen der Frühzeit von Rock ’n’ Roll verpflichtet, Weatheralls | |
Selektionen blieben immer schwer ausrechenbar. | |
Und doch machte ihn die Leidenschaft für musikalisches Außenseitertum | |
zugänglich, eben nicht zynisch und selbstzufrieden. „Als Jugendlicher | |
dachte ich, mir gehört die Welt. Heute weiß ich, dass ich nichts weiß. Aber | |
das ist auch interessant, denn es führt dazu, dass ich weiter lese, höre | |
und aufnehme.“ In den zehner Jahren verschaffte ihm seine Leidenschaft für | |
Bücher einen Job als „Probeleser“ für den Verlag Faber & Faber. Er tat si… | |
mit dem Schriftsteller Michael Smith zusammen, flanierte durch London. Sie | |
nahmen auch das Album „The Unreal City“ auf, in Anlehnung an „The Waste | |
Land“ des Schriftstellers T. S. Eliot. „Wenn ich an Musik denke, kommt mir | |
eher nicht der Weltraum in den Sinn, meist fällt mir das Seebad Clacton | |
ein“, Weatherall war ein Lotse, der im Trockeneisnebel den Verkehr zwischen | |
Tanzenden und Musik regelte und die Nächte orchestrierte, leicht erhöht von | |
der Tanzfläche. | |
28 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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