# taz.de -- Veränderung in der Landwirtschaft: Bauer sucht Zukunft | |
> Es gibt immer weniger Bauern, und sie werden älter. Die Gesellschaft aber | |
> wünscht sich bessere und gesündere Produkte. Brauchen wir neue Bauern? | |
„Huhu, guckt mal, meine neuen Gummistiefel!“, ruft Paula und hüpft in hohen | |
Sätzen über das matschige Feld, dass die Erde quietscht. Ihr Lachen | |
übertönt für einen kurzen Moment die Reggaemusik aus der Boombox, die | |
einige Meter entfernt aus einer Plastiktüte herauslugt. | |
Ein dunkler, wolkenverhangener Januartag auf einem Feld kurz vor | |
Frankfurt/Oder: Schnee bedeckt die langen Reihen von Hackschnitzeln, an | |
denen sieben Menschen Erde ausheben und junge Bäume pflanzen. Es ist so ein | |
Tag und ein Wetter, dass man glücklich ist, drinnen und in der Nähe eines | |
Sofas zu sein, selbst bei Corona. Nicht so diese jungen Leute auf dem Feld. | |
Schaut man in die Gesichter über den schlammverkrusteten Jacken und | |
Overalls, dann spiegelt das Lächeln einen sonnigen Junitag wider. Und | |
Paula Schwartau, 23, Pflanzhelferin, strahlt besonders. Jemand hat ihr mit | |
Neopren gefütterte warme und wasserdichte Stiefel aufs Feld gebracht. Sie | |
streift die dicken Gummihandschuhe über, greift in die klamme Erde und | |
drückt die nächsten Jungbäume fest, eine Walnuss, einen Meter weiter eine | |
junge Elsbeere, dann einen Speierling, Sanddorn, auch Hasel und Rose. | |
Was hier entstehen soll, ist der Gegenentwurf zu vielen umliegenden Äckern | |
– bis zum Horizont dehnt sich die Monotonie der aufgebrochenen, weiß | |
verkrusteten Erde. Ein „Habitat“ nennt es Renke de Vries, der der Planer | |
dieses Feldversuchs ist. Das Feld hier soll einmal Kühe, Hühner und | |
vielleicht auch Ziegen ernähren und dabei auch etwas für den Menschen | |
abwerfen: Früchte und Holz. Gleichzeitig soll das Feld CO2 im Boden binden | |
und den Folgen der Klimakatastrophe trotzen, die hier schon seit Jahren | |
spürbar sind. Ostbrandenburg gehört zu den [1][trockensten Regionen | |
Deutschlands]. | |
Das Feld ist Teil des Schlossguts Alt Madlitz. Hier findet ein besonderes | |
Experiment statt, „das einzige in Europa, das ich kenne“, sagt de Vries. | |
Der 27-Jährige mit Rastafrisur spricht über eine Landwirtschaft, die in ein | |
sich selbst regenerierendes System eingebunden ist, das auf Vielfalt setzt | |
und ohne Dünger, Bewässerung und große Maschinen auskommt. | |
Der Kopf dahinter heißt Benedikt Bösel, der Geschäftsführer des Hofs. „Es | |
ist Zeit“, sagt er, „dass wir uns von dem exploitativen Verständnis von | |
Landwirtschaft verabschieden. Dass das klappt, will ich hier beweisen.“ Er | |
sagt das auch, weil er ein Bauernsohn ist, der lange nicht Bauer sein | |
wollte. Trotz seiner 36 Jahre ist er ein Spätberufener. | |
Bösel gehört zu einer neuen Generation von Landwirten, die ihren Beruf | |
lieben, aber mit dem Ansehen ihres Berufsstandes hadern. Die sich um das | |
Wohl ihres Betriebes, ihrer Mitarbeiter und ihrer Tiere sorgen, aber auch | |
um Umwelt- und Klimaschutz. Die ihrem Metier wieder eine Zukunft geben | |
wollen. | |
Und das ist dringend nötig. Es sind zwei Zahlen, die besonders deutlich | |
machen, wie die Aussichten der deutschen Landwirtschaft abseits der | |
jährlichen Ernteerträge, Schlachtzahlen und Exportleistungen sind: die Zahl | |
der Höfe, die Jahr um Jahr abnimmt, und das Durchschnittsalter derer, die | |
die Höfe noch betreiben. In den letzten zehn Jahren hat jeder zehnte Bauer | |
aufgegeben, derzeit gibt es noch 267.000 Höfe in Deutschland. Und die | |
Betriebsinhaber werden immer älter, Mitte 50 sind sie heute im | |
Durchschnitt, nur ein Viertel ist jünger als 45 Jahre. | |
Kein Sektor in Deutschland ist so überaltert wie die Landwirtschaft. Und | |
gleichzeitig wollen immer mehr Menschen anders und gesünder essen und mit | |
ihren Konsumentscheidungen eine nachhaltige Zukunft beeinflussen. Die | |
traditionelle Landwirtschaft, einer der großen CO2-Verursacher und | |
Insektenkiller, passt nicht mehr in dieses Bild. Gleichzeitig müssen sich | |
Bauern die Frage stellen, wie sie in Zukunft – angesichts der durch | |
Klimaveränderung und Krankheiten sinkenden Erträge – wettbewerbsfähig | |
bleiben wollen. | |
Das bleibt die Ausgangssituation für die Landwirtschaftspolitik nach einem | |
selten turbulenten Jahr, das nächste Woche mit der [2][Grünen Woche] in | |
Berlin einen Stichtag bekommt, dessen Probleme dann aber nicht beendet sein | |
werden. Teilweise im Wochentakt sind Landwirte, darunter auch viele junge, | |
2020 auf ihre Traktoren gestiegen und haben demonstriert anlässlich der | |
Düngeverordnung, der Verhandlungen über Agrarsubventionen in der EU, der | |
Dumpingpreise des Lebensmittelhandels oder der Debatte über Ernte- und | |
Schlachthelfer. | |
Nicht von ungefähr stellt auch die wichtigste Landwirtschaftsmesse der | |
Welt, die in diesem Jahr auf zwei Tage verkürzt und sehr virtuell | |
stattfindet, die Zukunftsfrage. „Rooting for tomorrow“ – Wurzeln für das | |
Morgen – heißt das Motto. | |
„Bauer“, sagt Benedikt Bösel, „ist so eine Art Schimpfwort geworden. Es … | |
nicht hip, es ist nicht cool.“ Aber wenn jemand wie ein cooler Bauer | |
aussieht, dann Bösel selbst. Schlank, groß gewachsen, Vollbart, die Basecap | |
umgedreht auf dem Kopf, die Hosen stecken in abgewetzten Chelsea-Boots. | |
Bösel hat einen weitreichenden Ansatz. „Beyond Farming“ nennt er diese | |
Vision. „Unsere beste Chance, nachfolgenden Generationen eine lebenswerte | |
Welt zu hinterlassen, ist bei der Produktion von Lebensmitteln“, sagt er. | |
„Aber in Zeiten, in denen die Herstellung von Lebensmitteln durch Einsatz | |
von synthetischen Düngern, Pflanzenschutz und Monokulturen stark auf Kosten | |
der Umwelt geht, leiden die Natur und die Qualität der Nahrungsmittel immer | |
mehr unter den Eingriffen des Menschen.“ | |
Und er fügt hinzu: „Die Verödung von überlebenswichtigem Ackerland, | |
Wasserknappheit, der Verlust von Esskultur, die Entwicklung ländlicher | |
Regionen – alles hängt unmittelbar damit zusammen, wie wir Landwirtschaft | |
betreiben.“ | |
Das [3][Klima] wird zum Schlüsselbegriff, wenn man mit Bösel spricht. Die | |
Vorhersagen, dass hier, eben in einer der trockensten Gegenden | |
Deutschlands, in 30 Jahren keine Landwirtschaft mehr möglich sein wird, | |
bewegt ihn. Sie ist mit ein Grund, warum der Investmentbanker vor vier | |
Jahren seinen Beruf an den Nagel hängte, auf das Gut seiner Familie | |
zurückkehrte und damit begann, ein für diese Region passgenaues Modell von | |
„regenerativer Landwirtschaft“ zu suchen. Denn er ist überzeugt: „Wir | |
können die Probleme nur vor Ort lösen.“ Nicht in Berlin, nicht in | |
Brüssel, vielleicht sogar nicht einmal so sehr im Supermarkt. | |
Alt Madlitz ist seit fast 300 Jahren im Besitz seiner Familie. Schon seit | |
beinahe 20 Jahren wird es von den Eltern ökologisch bewirtschaftet, | |
hauptsächlich mit Getreideanbau. Und früh stand fest, dass der Sohn einmal | |
den Hof bewirtschaften sollte. Aber Biobauer war für Benedikt Bösel lange | |
nicht das Ziel seiner Träume. Ihn zog es hinaus in die Welt, in die | |
Metropolen, nach Großbritannien. Er wurde Banker. „Während der Finanzkrise | |
sah ich, wie Menschen, die wochenlang vor Charts saßen, auf einmal an ihren | |
Schreibtischen zu weinen anfingen.“ | |
Das war für ihn der Moment, sich etwas Neues zu suchen, etwas | |
Sinnstiftendes. Es war das erste Mal, dass er sich auf die | |
Familiengeschichte besann. „Ich wollte mein Finanz-Know-how mit | |
Landwirtschaft verbinden.“ | |
Bösel studierte an der Berliner Humboldt-Universität Agrarökonomie, | |
anschließend arbeitete er als Berater für Venture-Kapitalgeber bei | |
Investitionen in Agrar-Start-ups. 2016 dann sei er spontan wandern | |
gegangen, das erste Mal seit Jahren habe er freigehabt. Auf dem Jakobsweg | |
habe er gespürt, es reiche ihm noch immer nicht, er müsse nach Hause. | |
Lange hat er sich mit der Frage beschäftigt, wie Landwirtschaft den Boden | |
nicht nur ausbeutet, sondern auch wieder urbarer machen kann, eine Zeit | |
lang hat er auf dem Gut auch Start-ups Platz gegeben. Für das Gut Alt | |
Madlitz hat er die Antwort bei Ernst Götsch gefunden, einem Pionier der | |
regenerativen Landwirtschaft. Der Schweizer Landwirt übernahm Anfang der | |
80er Jahre in Brasilien eine ausgedörrte Kakaofarm, die als unbrauchbar | |
galt. Heute baut er die Frucht wieder genauso ertragreich an wie seine | |
Nachbarn und hat in Brasilien schon Tausende Nachahmer gefunden. | |
Die Methode, die Götsch nutzte, nennt sich Syntropie. Vieles daran erinnert | |
an die Permakultur, die darauf setzt, dass die Natur Systeme organisiert, | |
die sich selbst stützen. Syntropie bezeichnet die vergesellschaftete | |
Lebensweise verschiedener Organismen. Es ist eine Mischung aus Wald und | |
Feld. Pflanzen und Bäume werden mit Tieren kombiniert. | |
Solch eine Fläche soll dort entstehen, wo Paula Schwartau und Renke de | |
Vries Bäume eingraben. „Es ist eigentlich ein Dschungel, den wir hier | |
pflanzen“, sagt Rosanna Gahler, 24, die die Jungbäume im Meterabstand auf | |
dem Feld verteilt. Man kann sich das wie eine große Kuhweide vorstellen, | |
die mit Zäunen aus wildem Bewuchs in Flure unterteilt ist. Ganzjährig | |
stehen dort Tiere, wechselweise Kühe, Ziegen, Hühner. | |
Tatsächlich experimentiert Bösel auch bei den Kühen: „Mob Grazing“ | |
beziehungsweise holistisches Weidemanagement heißt das Modell. Die Tiere | |
werden nicht auf die gesamte Weide gelassen, sondern nur auf ein kleines, | |
eingezäuntes Segment, dürfen aber täglich auf ein frisches Feld | |
weiterziehen. Dort ist das Gras so hoch gewachsen, dass die Tiere den | |
Bewuchs gar nicht ganz abweiden können, aber doch das meiste | |
niedertrampeln. | |
„Die freuen sich jeden Morgen wie die Kinder“, sagt Bösel. „Und springen… | |
die Luft, wenn sie auf die neue Fläche kommen.“ Die Kuh düngt mit ihren | |
Ausscheidungen den Boden, das umgeknickte Gras wirkt wie eine Mulchschicht, | |
die den Mikroorganismen im Boden noch zusätzliche Nahrung bietet. | |
So kann sich Humus bilden und CO2 im Boden gebunden werden, mehr als das | |
Tier selbst verursacht. Bösel entwirft ein Bild vom Rind, das, wenn es im | |
Massenstall steht, ein Klimakiller ist, so aber ein Klimaretter. Für Bösel | |
ist dabei selbstverständlich: Der mit Billigpreisen gestützte Fleischkonsum | |
ist so nicht zu halten. | |
Auch auf der syntropischen Fläche sollen die Kühe bald weiden, wechseln sie | |
die Flur, folgen Hühner nach, für die auf dem Gut mobile Ställe entstehen. | |
Die Leibspeise der Hühner sind Fliegenlarven, die sich in den Kuhfladen | |
entwickeln. Beim Picken und Kratzen verteilen die Hühner den Dung auf der | |
Fläche. Das hat viele Vorteile: für den Boden, auf dem, würden die Vögel | |
ständig dort sein, nichts mehr wüchse; für die Kühe, die weniger Probleme | |
mit den Fliegen haben; und für den Bauer, der sich so Futterkosten spart. | |
Auch in den natürlichen Zäunen steckt viel Überlegung. Erst einmal sind | |
solche Hecken gut, um Erosion aufzuhalten. Sie schützen den Boden vor Wind | |
und Sonne, richtig angelegt aber heben die Sträucher und Pflanzen auch den | |
Grundwasserspiegel. Die aufeinander abgestimmten Pflanzen wachsen in vier | |
Höhen: Hasel- und Sanddornsträucher, darüber Walnuss oder Mispeln, eine | |
Etage weiter Speierling und Elsbeere. | |
Sie alle sollen einen Nutzen haben, als Holz, wegen der Früchte und als | |
Futter für die Tiere. Was die Helfer gerade an zweijährigen Bäumchen in die | |
Erde stecken, dient als Pionierpflanze für den restlichen Bewuchs. Zwischen | |
die einzelnen Stämme haben sie Hunderte verschiedene Samen gesät. „Wir | |
setzen auf die Kraft der Natur“, sagt Bösel, „und sind gespannt, was sich | |
durchsetzt und was nicht.“ | |
Wie Zukunft und wie Vergangenheit aussieht, das kann man auf dem Hof von | |
Christian Vincke besichtigen. Er wechselt täglich zwischen dem Gestern und | |
dem Morgen, und das bei einem Thema, das die Gemüter in der Landwirtschaft | |
wohl mit am meisten bewegt: der Schweinezucht. | |
Schwarz wie kleine Walrücken heben sich die Tiere vom hoch gewachsenen Gras | |
ab, als Vincke im Spätsommer seinen Hof im Münsterland zeigt. Es sind | |
Ibérico-Schweine, eine ursprüngliche spanische Rasse, die er auf der Weide | |
hält; berühmt für Schinken wie den Pata Negra oder den Bellota. Ein Schwein | |
hat sich auf eine angrenzende Streuobstwiese geschlichen. | |
Es sucht nach den ersten Äpfeln, die vom Baum gefallen sind. „Mann, wie | |
schnell die merken, wenn auf dem Draht kein Strom ist“, sagt Vincke | |
seufzend und geht los, um den Ausbrecher wieder ins Gehege zu treiben. Auf | |
seine Stimme hin erheben sich alle Tiere und drängen sich neugierig um den | |
Bauern. | |
Dunkelgrau bis schwarz das Fell, wache Augen, kernige, gedrungene Körper. | |
Nicht der Anblick, den man hier im Münsterland gewohnt ist, obwohl die | |
Region die Schweinehochburg der Republik ist: Über vier Millionen Schweine | |
werden hier gehalten, aber sie leben fast alle hinter Mauern. So wie auch | |
bei Vincke. Rund 2.500 rosig-weiße Schweine hält Vincke noch immer im | |
Stall. | |
Sie stehen auf Spaltenböden, meist im Halbdunkel. Im Laufe ihres Lebens | |
wechseln sie höchstens mal die Buchten im Stall. Bis sie ihr | |
Schlachtgewicht von etwa 120 Kilogramm erreicht haben, vergehen rund sieben | |
Monate. Ganz konventionell. | |
Hätte man den 34-Jährigen vor ein paar Jahren gefragt, ob er einmal | |
Schweine im Freiland halten werde, zwischen Eichen, mit großen Suhlen, | |
Christian Vincke hätte sich wahrscheinlich an den Kopf getippt. Damals | |
plante er mit seinem Vater gerade eine Hoferweiterung. Zu den rund 3.000 | |
Schweinemastplätzen sollten noch einmal 160.000 Hühner hinzukommen, | |
aufgeteilt auf vier Ställe. | |
Alles war quasi genehmigt, aber dann rebellierte die Nachbarschaft. Der | |
Protest war so gewaltig, dass die Vinckes das Projekt wieder abbliesen. | |
„Gut, dass es nicht geklappt hat“, sagt der Landwirt heute. „Ich habe | |
damals viel gelernt.“ | |
Heute plant er mit dem Erlernten die Zukunft. Für die Ibéricos, die er etwa | |
einen Kilometer entfernt auf dem Resthof seines Onkels hält, baut er gerade | |
eine baufällige Scheune zum Stall aus, hat in die Betonringe der alten | |
Silos Öffnungen geschnitten und sie zu Luxussuhlen umgebaut. | |
Auf den Wiesen und unter den Eichen nebenan lebt die 80-köpfige Herde ganz | |
nach ihrer Fasson. Die Tiere wühlen mit den Schnauzen in der Erde, nehmen | |
ein Schlammbad, wenn sie nicht gerade den Bauern und seinen Besuch | |
umringen, und versuchen, deren Schuhspitzen anzuknabbern. Vincke verteilt | |
freundliche Klapse unter den Tieren. | |
Vinckes Idee ist, einmal ganz auf Ibérico umzustellen. Deswegen wächst | |
seine dunkle Herde auf Kosten der anderen. Er nennt das die Metamorphose | |
seines Betriebs. Die konventionelle Zucht finanziert den Umbau, | |
gleichzeitig schrumpft die „normale“ Herde. „Das Vollwachstum führt in e… | |
Sackgasse, die Bauern begeben sich immer mehr in Abhängigkeit. Wenn die | |
Produktionseinheiten immer größer werden, wächst der Preisdruck.“ | |
Was das heißt, hat er gemerkt, als Tönnies wegen Corona geschlossen war. | |
„Pro Schwein haben wir 30 bis 40 Euro Verlust gemacht.“ Vincke setzt auf | |
Klasse statt Masse. „Qualität ist dabei das Topargument“, meint er. | |
Bei den Ibéricos hat der Bauer da einiges Lehrgeld zahlen müssen. Denn es | |
handelt sich um Fettschweine, im Gegensatz zu den Magerschweinen im Stall. | |
„Das erste Tier haben die in der Schlachterei ausgelacht“, erzählt er. Es | |
war eines der Ferkel, die er in Bayern für viel Geld erstanden hatte. | |
„Normalerweise würden wir das in die Tonne schmeißen“, hätten die | |
Schlachter gesagt. Fett, das ist heute nichts mehr für den normalen | |
Verbraucher. | |
Das Fett ist aber für Gourmets das, was die Ibéricos so interessant macht. | |
Denn die Tiere entwickeln gleichzeitig auch intramuskuläres Fett, das | |
Fleisch ist dunkel und ähnlich marmoriert wie man es von Wagyu- und | |
Kobe-Rindern kennt. Längst konkurriert es bei Fleischenthusiasten mit den | |
besten Stücken vom Rind. Zu viel Fett sollen die Tiere aber auch nicht | |
ansetzen, deshalb ist für die quirligen Edelschweine viel Auslauf | |
unabdingbar. Und es gibt „gesundes Vollkorn“, sagt Vincke. Er mische | |
Gerste, Mineralien und hochwertige Fette. | |
Vinckes Hof steht etwas außerhalb der Ortschaft Alverskirchen bei Münster. | |
Er ist ein typisches westfälisches Backsteinensemble mit gigantischen | |
Dächern, die wie umgedrehte Schiffe wirken, von Äckern umgeben, zwei hohe | |
Getreidesilos strecken sich in den Himmel. Der Hof war einst ein | |
klassischer Gemischtbetrieb. | |
Das erlaubt Vincke heute, das Futter für seine Tiere fast vollständig | |
selbst anzubauen. In drei Gebäuden mit großen Abluftkaminen ist die | |
konventionelle Schweinezucht untergebracht. In einem Aufzuchtstall hält er | |
noch einmal um die 80 Ibéricos. Durch ein großes Panoramafenster können | |
Besucher die Kinderstube besichtigen. | |
Der Vinckehof gilt auch in der konventionellen Zucht als Vorzeigebetrieb. | |
Für das Tierwohl hat Vincke bei den Ibérico-Schweinen zusätzlich | |
entschieden, die Schwänze der Ferkel nicht zu kupieren. Die Tiere dürfen | |
mehr als doppelt so alt werden wie die konventionellen, zwölf bis 14 | |
Monate, die meiste Zeit davon stehen sie auf der Weide. Im Stall hat er die | |
Spalten in den Böden geschlossen. | |
Aber Vincke sieht auch Grenzen. Die Haltung der Tiere rein auf Stroh sieht | |
er skeptisch. Er erzählt von einer der Sauen, die er einst über Ebay | |
gekauft hat, um die Zucht zu beginnen. Weil sich die Klauen auf dem Stroh | |
nicht abwetzten, sei dem Tier eine Hinterklaue wie ein Storchenschnabel | |
gewachsen, es habe bis heute Schwierigkeiten beim Auftreten und | |
Gelenkprobleme. „Da darf man die Klauenpflege nicht vernachlässigen.“ | |
Während Vincke durch die Ställe führt, kommt er ungefragt auf viele | |
strittige Themen in der Schweinehaltung zu sprechen. Ja, er schleife den | |
erst ein paar Tage alten Ferkeln die Zähnchen, damit sie die Zitzen der | |
Mütter nicht blutig bissen. „Da fließt kein Blut. Man nimmt einen kleinen | |
Diamantschleifer wie für die Maniküre“, sagt er. Betäubungslose | |
Ferkelkastration? Klar, das sei unangenehm für das Tier, aber nach | |
spätestens zwei Tagen vergessen, meint er. | |
Und was sei die Alternative? Die Kastration sei unverzichtbar, ohne sie sei | |
Eberfleisch wegen des Beigeschmacks unverkäuflich. Und stattdessen Hormone? | |
„Wirklich? Nachdem Jahrzehnte über Hormone im Fleisch diskutiert wurde?“ | |
Ein Betäubungsapparat koste 10.000 Euro. Und nicht selten wachen die jungen | |
Schweine aus der Narkose nicht wieder auf. Für den Bauer gibt es keinen | |
idealen Weg. | |
Offen ist er auch bei Kastenständen, einem der umstrittensten Themen der | |
Tierwohldebatte. Für die Besamung und die Geburt werden die Mütter zwischen | |
enge Stangen gesperrt, sodass sie stehen und liegen können, mehr nicht. In | |
der Massenproduktion kann sich diese Fixierung auf viereinhalb Monate | |
summieren. Viel zu lang, sagt auch Vincke, aber ganz ohne Kastenstand gehe | |
es auch nicht. Er habe selbst erlebt, dass Sauen den Nachwuchs töteten oder | |
unabsichtlich erdrückten, weil sie noch von der Geburt gestresst oder | |
geschwächt gewesen seien. | |
Bei Vincke stehen die Sauen zusammengerechnet höchstens vier Wochen im | |
Kastenstand. Und er versuche, es den Müttern so angenehm wie möglich zu | |
machen. Etwa, indem er in der gläsernen Ferkelbucht zwei Ibérico-Sauen mit | |
ihrem Nachwuchs zusammenstelle. Aber das sei ein Risiko. Erst am Morgen | |
habe er ein erdrücktes Ibérico-Junges im Stall gefunden. | |
„Es geht nur über Transparenz“, sagt er. „Ich kann hier keine heile Welt | |
vorgaukeln, wie es sich manch ein Verbraucher vielleicht wünscht.“ Das | |
falle ihm irgendwann nur auf die Füße, sagt Vincke. | |
Von Nordrhein-Westfalen geht es nach Niedersachsen: Kaspar Haller ist | |
einer, der sich nicht nur mit der Zukunft der Landwirtschaft | |
auseinandersetzt, sondern mit der Zukunft des Landes selbst. Noch zu Anfang | |
des 20. Jahrhunderts, rechnet er vor, hätten 85 Prozent der Erwerbstätigen | |
in der Landwirtschaft gearbeitet, 1950 seien es 60 Prozent gewesen, | |
inzwischen 1 oder 2 Prozent, je nach Region in Deutschland. „Überspitzt | |
gesagt, haben wir nur noch 1 Prozent, das seinen Lebensmittelpunkt also auf | |
dem Land hat“, sagt er. Er will das ändern. | |
Auf der Domäne Schickelsheim östlich von Braunschweig hat er gemeinsam mit | |
seiner Frau Donata im Frühjahr einen Ort gegründet, der ein „Bindeglied“ | |
sein soll. Die beiden nennen ihn den „dritten Ort“. Noch ist Haller dabei, | |
den Gutskomplex umzubauen, um Flächen zu schaffen. Er hat eine Vision, aber | |
keine Vorstellung, und das mit Absicht. Der 37-Jährige will seinen Hof | |
öffnen: für Menschen, für Ideen und Unternehmen. | |
Das hat an diesem Ort Tradition. Obwohl Schickelsheim eine 900-jährige | |
Geschichte hat, ist die Domäne vor 160 Jahren neu aufgebaut worden, die | |
Landwirtschaft war Mitte des 19. Jahrhunderts im Niedergang begriffen. | |
Gleichzeitig wurde ein großer Landschaftspark angelegt. Mit circa vier | |
Hektar bildet die Domäne eine abgeschlossene kleine Ortschaft. | |
Vor mehr als elf Jahren hat Haller den Betrieb mit seiner Schwester | |
übernommen, er hat in Göttingen und England Wirtschafts- und | |
Sozialwissenschaften im Landbau studiert. 2010 gründete er einen | |
Onlinelebensmittelhandel mit dem Ziel, Lebensmittel, die mit | |
„handwerklicher Fürsorge“ hergestellt würden, zu vermarkten. | |
Nicht nur deswegen kommt das Gespräch mit ihm schnell auf das Thema | |
Digitalisierung. Seit einem Jahr beherbergt die Domäne Schickelsheim das | |
Praxis-Labor Digitaler Ackerbau der Niedersächsischen | |
Landwirtschaftskammer. Hier werden Roboter getestet, die Unkraut jäten und | |
Schnecken aufsammeln. In erster Linie geht es bei den Projekten um den | |
Schutz der natürlichen Ressourcen: Wasser, Böden, Tiere, Artenvielfalt. | |
„Wir wollen der Digitalisierung Raum geben, damit Veränderungen auch aufs | |
Land kommen.“ | |
Mit den neuen Technologien, meint er, werde es wegen des Faktors | |
Nachhaltigkeit zu einer Verschmelzung von biologischer und konventioneller | |
Landwirtschaft kommen. „Kein Landwirt ist gewillt, möglichst viel Gift auf | |
seinen Acker zu spritzen. Das bedeutet Kosten und wird | |
irgendwannunökonomisch und gleichermaßen unökologisch, sagt er. | |
Im Konzept für das Praxis-Labor ist auch ein Start-up-Campus vorgesehen. | |
Vor allem anderen geht es Haller darum, langfristige Perspektiven zu | |
entwickeln. Die Digitalisierung bringe auch mit sich, dass „wir in immer | |
schneller werdenden Zyklen leben“, sagt er. „Politik und Gesellschaft | |
kommen da kaum noch mit.“ | |
Wegen dieser Überlegung will er den „dritten Ort“ nicht als Inkubator oder | |
als Co-Working-Space verstanden wissen. Er möchte hier einen Zukunftsort | |
entstehen lassen „Wir haben hier ein Fundament mit 150 Jahren Geschichte, | |
deshalb planen wir für die nächsten 100 Jahre.“ | |
## Drei Bauern, drei neue Wege | |
Christian Vincke hat für sein Fleisch eine eigene Marke gegründet: Ibérico | |
Westfalia. Er ist einer von ganz wenigen in Deutschland, die Ibérico | |
züchten. Er hat andere Landwirte in der Umgebung für seine Idee begeistert, | |
die Schweinezucht ganz neu, sinnvoller anzugehen. Weil die Nachfrage schon | |
jetzt sein Angebot übersteigt. Und er hat auch Abnehmer in der Gastronomie | |
gefunden, darauf ist er angewiesen. | |
Denn ein Schwein besteht nicht nur aus Schinken und Koteletts, Vincke will | |
das ganze Tier vermarkten; Teile, mit denen Hobbyköche nichts anfangen | |
können, Profis dafür umso mehr: Zunge, Herz, Maske. Und das Fett. Seine | |
neueste Idee ist deswegen Gewürzschmalz – ein bisschen aus der Not geboren, | |
gibt er zu. Er hat es „Crema d’Ibérico“ genannt. | |
Benedikt Bösel will in absehbarer Zeit unabhängig von Subventionen | |
wirtschaften. Sein Modell begeistert junge, gut ausgebildete Menschen. Sie | |
wollen in Alt Madlitz lernen und arbeiten. Bösel veranstaltet Workshops und | |
hat im Mai ein Symposium der Gemeinschaft zu Gast. | |
Das ist ein inzwischen in ganz Deutschland wachsender Zusammenschluss aus | |
Köchen und Produzenten, die sich mehr Achtsamkeit verschrieben haben – | |
gegenüber der Natur, beim Arbeiten und beim Essen. Wenn das mit der | |
regenerativen Landwirtschaft im trockenen Brandenburg klappt, sagt Bösel, | |
„dann funktioniert es überall“. | |
Und Kaspar Haller? Ihn zieht es neben seinen anderen Projekten in die | |
Politik. Er hat angekündigt, als Oberbürgermeister für Braunschweig zu | |
kandidieren. Als Parteiloser, aber für die CDU. Durch Themen wie | |
Klimawandel, Nachhaltigkeit und neue Mobilität würden Herausforderungen für | |
unser soziales Miteinander entstehen, heißt es auf der Website des | |
Kandidaten. Das wolle er zu Kernpunkten seiner Politik machen. | |
19 Jan 2021 | |
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[2] https://www.gruenewoche.de/ | |
[3] /Schwerpunkt-Klimawandel/!t5008262 | |
## AUTOREN | |
Jörn Kabisch | |
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