| # taz.de -- Der Wert von Streuobstwiesen: Wer holt die Äpfel runter? | |
| > Eigentlich würde Bruno Reuer seine Streuobstwiese gern loswerden. Er | |
| > findet nur keinen Käufer. Streuobstwiesen lohnen sich nicht. | |
| Bild: Die Streuobstwiese in Hamburg-Schnelsen | |
| Jetzt machen wir richtig Maskerade“, sagt Bruno Reuer und hüllt sich in | |
| seine Pflückschürze, einen Kittel mit Seitentaschen, in die bis zu zehn | |
| Kilogramm Äpfel passen. Dann steigt der 74-Jährige auf eine gefährlich hoch | |
| aussehende Leiter, die in die Wipfel des „Wohlschmeckers“ führt. „Der ist | |
| einer der Ersten, die reif werden“, ruft Reuer aus der Baumkrone hinunter. | |
| Und schon fliegt ein Apfel in eine der Kisten auf dem Boden. Hier wird das | |
| Obst, das Reuer pflückt, sortiert: in verfaulte Äpfel, Tafelobst zum | |
| Verkauf und Früchte zur Weiterverarbeitung als Kompott, Aufstrich und Saft. | |
| Bruno Reuers Streuobstwiese liegt im Hamburger Stadtteil Schnelsen. Hier | |
| wachsen über 40 Bäume, von denen viele um die 100 Jahre alt sind. Sie | |
| tragen etwa 30 seltene Sorten mit Namen wie Prinz Albrecht von Preußen, | |
| Schweizer Orangenapfel und Pfannkuchenapfel. Gepflanzt wurden sie von | |
| Reuers Familie, als die Streuobstwiese noch ein Bauerngarten war, und | |
| später von Reuer selbst. Er nahm die Wiese zehn Jahre nach dem Tod des | |
| Vaters in seine Obhut und setzt auf dem Grundstück seitdem regelmäßig einen | |
| Baum mit der Sorte des Jahres in die Erde. | |
| 300.000 Hektar Streuobstwiesen gibt es [1][nach Schätzungen des Nabu] noch | |
| in Deutschland, sie sind [2][wertvolle Biotope] und beherbergen über 5.000 | |
| Pflanzen-, Tier- und Pilzarten. Seit Beginn der 50er Jahre sind sie von der | |
| massentauglichen Plantagenwirtschaft, dem sogenannten Erwerbsobstbau, | |
| verdrängt worden. In Mitteleuropa gab es zwischen 1965 und 2010 einen | |
| Rückgang der Streuobstwiesen um 70 bis 75 Prozent; bis 1974 wurden sogar | |
| Rodungsprämien für die Streuobstbäume gezahlt. | |
| ## Ein ganz anderer Abgang, wie Wein | |
| Äpfel von Streuobstwiesen enthalten eine größere Menge sogenannter | |
| Polyphenole als Plantagenobst. Aus diesem Grund sind sie besonders | |
| verträglich für Allergiker. Außerdem sind die Früchte deswegen | |
| aromatischer. „Jeder Apfel hat eine eigene Note und auch einen anderen | |
| Abgang, wie Wein“, erklärt Reuers Lebensgefährtin Hajni Szepesváry. | |
| Reuer führt durch das noch ungemähte Gras unter den knorrigen Ästen seiner | |
| 100-jährigen Bäume. Er pflückt zwei Äpfel. „Der hier hat Sonnenbrand“, | |
| meint er nach kurzer Inspektion. Sonnenbrand bei Äpfeln bezeichnet | |
| verfaulte Stellen in der Frucht, die durch klimawandelbedingte Hitze | |
| vermehrt entstehen. | |
| Diesen Prozess vermeide man auf Plantagen möglichst, indem deren Boden mit | |
| bestimmten Stoffen versorgt werde, erzählt Reuer. Auf Streuobstwiesen | |
| greife man nicht auf diese Art und Weise in die Natur ein. Weil die meisten | |
| Menschen aber perfekte Züchtungen gewohnt sind und Äpfel auch die | |
| sogenannte Vermarktungsnorm der EU erfüllen müssen, können Bruno Reuer und | |
| seine Lebensgefährtin Hajni Sepesvary braun gewordenes Tafelobst nicht | |
| verkaufen. | |
| Weggeworfen werden die Äpfel deshalb aber keineswegs: Das Paar schneidet | |
| die betroffenen Stellen aus der Frucht heraus und bereitet dann Kompott und | |
| Aufstrich zu. Auf seinem Grundstück hat Reuer ein kleines Haus gebaut, in | |
| dem die beiden während ihrer Ernte und der Pflege der Wiese wohnen. Hier | |
| kochen sie die geernteten Äpfel ein, wie Hajni Szepesváry erzählt. Sie holt | |
| zwei Gläser aus dem Keller. Auf liebevoll gestalteten Etiketten steht | |
| „Apfelgewürzaufstrich mit Ingwer“ und „Apfelgelee“. | |
| ## Eine dunkle, trübe Flüssigkeit | |
| Produkte wie diese machen den Großteil ihres Ertrags aus, mehr als das | |
| verkaufte Tafelobst. Aber auch Saft lassen Reuer und seine Lebensgefährtin | |
| von einem Hamburger Produzenten herstellen. Hajni Szepesváry hat ein | |
| Tetrapack mit ihrem eigenen Apfelsaft auf den Tisch auf der Terasse gelegt | |
| und zapft eine dunkle, trübe Flüssigkeit in kleine Gläser. „Frischer | |
| Direktsaft, so wie er ist – ganz ohne Zucker und Zusatzstoffe“, erklärt sie | |
| stolz. | |
| Reuer und Szepesváry ernten jährlich etwa drei Tonnen Äpfel von ihrer | |
| Streuobstwiese. Ihre Produkte verkaufen sie bei den [3][norddeutschen | |
| Apfeltagen] und je nach Erntejahr manchmal auch in ihrem Hof. Finanziell | |
| lohnt sich das nicht: Der Baumschnitt, den Reuer hin und wieder durchführen | |
| lassen muss, kostet 300 Euro am Tag, außerdem zahlt er in die | |
| landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft ein, die eine Versicherung für | |
| Unfälle beim Baumschneiden bietet. Der Verkauf der Äpfel und Apfelprodukte | |
| kompensiere diese Kosten und den Aufwand für das Mähen und Ernten nicht, | |
| sagt Reuer. | |
| Dann will er noch mehr Bäume zeigen. Doch bevor er einen Gummistiefel ins | |
| ungemähte Gras setzen kann, zieht seine Lebensgefährtin ihn zurück: „Bruno, | |
| da sind zu viele Mücken, nimm lieber den anderen Weg!“ Reuer zuckt mit den | |
| Schultern und sagt: „Wir haben hier eine Chefin.“ | |
| Dann läuft er am Zitronenapfelbaum und der Champagnerette vorbei zum Kaiser | |
| Wilhelm, der besonders gut geeignet ist für Allergiker:innen. Manchmal | |
| denkt sich Reuer auch Spitznamen für seine Äpfel aus. Er zeigt auf eine | |
| Frucht der Sorte Finkenwerder Herbstprinz und sagt: „Den hier nenne ich | |
| Müsliapfel, weil er so schön resch ist.“ | |
| Man merkt Reuers Wortwahl an, dass seine Wahlheimat schon lange in | |
| Österreich liegt; „resch“ bedeutet so viel wie „knackig“. Der gebürti… | |
| Hamburger ist Kulturwissenschaftler, [4][er hat Musikethnologie in Budapest | |
| und Wien studiert]. Heute lebt er mit seiner Lebensgefährtin in Kärnten, in | |
| einem selbst konzipierten, mit Hanf gedämmten Holzhaus mit Lehmziegeln. | |
| Die Entfernung zu Hamburg erschwert den Erhalt der Streuobstwiese noch um | |
| einiges mehr. Drei Mal im Jahr kommt Reuer für ein paar Wochen von Kärnten | |
| nach Hamburg, im Winter zum Baumschneiden, im Frühjahr zum Mähen der Wiese | |
| und im Sommer und Spätsommer zusammen mit seiner Lebensgefährtin für die | |
| Ernte. | |
| Seit Jahren versucht der Grundstücksbesitzer erfolglos, eine | |
| Nachfolger:in für die Pflege seiner Wiese zu finden. Vor kurzem hat sich | |
| eine Mitarbeiterin vom BUND-Landesverband Hamburg die Bäume angeschaut. Nun | |
| prüft der BUND, ob sich genügend Ehrenamtliche finden, um eine Patenschaft | |
| für Reuers Wiese zu übernehmen. „Aber sonst will niemand hier arbeiten, | |
| weil die Wiese so wenig wirtschaftlichen Ertrag bringt“, klagt Reuer. | |
| Der Hochstamm Deutschland e. V. – der Name des Vereins bezieht sich auf die | |
| hohen Stämme der Streuobstwiesen im Unterschied zu den niedrigen der | |
| Obstplantagen – dokumentiert, wie viel Landwirte mit ihrem Streuobst | |
| verdienen. In Baden-Württemberg, [5][wo es die meisten Streuobstwiesen | |
| Mitteleuropas gibt], stehen laut dem Verein höchstens 50 Prozent der Wiesen | |
| auf landwirtschaftlichen Flächen. Der Rest sind sogenannte Stückle, kleine | |
| Grundstücke, die zu wenig Fläche haben, um als Landwirtschaftsbetrieb | |
| anerkannt zu werden. | |
| ## Unter dem gesetzlichen Mindestlohn | |
| Aber selbst für Landwirt:innen sei Streuobst nicht rentabel, weil der | |
| Preis für das Obst schlicht zu niedrig sei, sagt ein Sprecher des Vereins. | |
| „Vielleicht kommt man am Tag auf 20 oder 50 Euro Lohn, und dafür hat man | |
| dann ungefähr sechs Stunden gemäht, sich gebückt und geerntet.“ | |
| Entsprechend verdienen Landwirt:innen mit Streuobst weitaus weniger als | |
| den gesetzlichen Mindestlohn. | |
| Als Resultat würden in Baden-Württemberg viele Streuobstbäume nicht | |
| gepflegt, bestätigt Almut Sattelberger, Naturschutzreferentin des dortigen | |
| BUND-Landesverbandes. Im städtischen Raum rund um Stuttgart kümmerten sich | |
| Menschen vor allem hobbymäßig um kleine Streuobstwiesen, aber auf dem Land | |
| finde sich wegen der geringen Wirtschaftlichkeit der Wiesen oft kaum | |
| jemand. | |
| Die „[6][Baumlandkampagne]“ der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche | |
| Landwirtschaft setzt sich deshalb dafür ein, dass die Politik | |
| Streuobstwiesen großflächig finanziell fördert, damit mehr Menschen die | |
| Wiesen wieder beruflich bewirtschaften. Zwar stellen die Länder bereits | |
| unterschiedliche Fördermittel zur Verfügung, die man als | |
| Bewirtschafter:in einer Streuobstwiese beantragen kann, aber die Gelder | |
| sind meist nur für einen begrenzten Zeitraum wie eineinhalb Jahre | |
| angesetzt. Außerdem fordert die Kampagne, dass man die Förderung | |
| unbürokratischer beantragen kann. Das wünscht sich auch Bruno Reuer: „Sonst | |
| setz’ ich mich da Tage und Wochen hin, um Formulare und Richtlinien zu | |
| studieren.“ | |
| Wie viel die Grundstücke, auf denen Streuobstwiesen stehen, wert sind, kann | |
| man laut Hochstamm e. V. pauschal nicht sagen. Streuobstwiesenbesitzer Ralf | |
| Gottwald aus Urbach östlich von Stuttgart erzählt, dass der Grundstückpreis | |
| in seiner Umgebung meist zwischen 40 Cent und drei Euro pro Quadratmeter | |
| liegt – oder, wie Gottwald es ausdrückt, „zwischen verschenkt und drei | |
| Euro“. Viele Besitzer:innen seien froh, wenn sich überhaupt jemand um | |
| ihre Wiese kümmere. Gottwald sagt, von Lohn könne man als | |
| Streuobstwiesenbesitzer:in nicht einmal sprechen. „So eine Wiese ist | |
| ein Hobby, die erhält man aus Idealismus – nicht, weil man daran verdient.“ | |
| Er beobachtet rund um Stuttgart viele Grundstücke, die verwildern, weil | |
| sich niemand darum kümmert. | |
| Wie solche Wiesen dann aussehen, kann man sich auch im Süden Hamburgs | |
| anschauen. Im Naturschutzgebiet Moorgürtel führt ein zugewucherter Forstweg | |
| zwischen Brennnesseln und hohem Gras auf eine ehemalige Streuobstwiese. Die | |
| Äste der alten Bäume tragen zwar noch Äpfel, sind aber oft abgebrochen oder | |
| eingeknickt. | |
| Weil Bruno Reuer so ein Szenario auf seinem eigenen Grundstück vermeiden | |
| wollte, hat er die Sache vor Jahren schon selbst in die Hand genommen – und | |
| seine Bäume mit nach Österreich gebracht. Von der Streuobstwiese in Hamburg | |
| ließ er ein paar alte Apfelbäume veredeln. Dabei werden die Triebe eines | |
| Baumes mit einem anderen Baum zusammengeführt, sodass beide miteinander | |
| verwachsen. Es entsteht einer neuer Baum, alte Apfelsorten lassen sich so | |
| erhalten. | |
| ## Hamburger Kinder für Kärnten | |
| 2018 brachten Reuer und seine Lebensgefährtin die ersten „Kinder aus | |
| Hamburg“, wie Reuer es ausdrückt, nach Kärnten und pflanzten sie auf einer | |
| neu angelegten Wiese ein. Inzwischen gibt es dort 75 Apfelsorten. | |
| Finanziell gefördert wird die Wiese durch [7][ein Programm des | |
| österreichischen Klima- und Energiefonds]. | |
| Bruno Reuer wünscht auch für Deutschland mehr solcher Unterstützung. | |
| Streuobstwiesen seien Orte, an denen der Mensch im Einklang mit der Natur | |
| leben könne, findet er. Inzwischen hat er sich im kleinen Häuschen neben | |
| der Apfelwiese an den Esstisch gesetzt. „Wenn man erkennt, dass | |
| Streuobstwiesen eine Wertigkeit haben, dann möchte man auch, dass eine | |
| Wertschätzung erfolgt. Und die fehlt in Deutschland.“ | |
| 22 Sep 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.nabu.de/natur-und-landschaft/landnutzung/streuobst/streuobstwis… | |
| [2] /Rote-Liste-der-gefaehrdeten-Biotope/!5417191 | |
| [3] http://www.apfeltage.info/ | |
| [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Bruno_Reuer | |
| [5] /Kolumne-Aufgeschreckte-Couchpotatoes/!5591256 | |
| [6] https://www.baumland-kampagne.de/startseite | |
| [7] https://klar-anpassungsregionen.at/ | |
| ## AUTOREN | |
| Katarina Machmer | |
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