# taz.de -- Obstanbau in Südtirol: Reinen Saft einschenken | |
> In Europas größtem Apfelanbaugebiet Südtirol dominieren die ertragreichen | |
> Züchtungen. Thomas Kohl geht einen anderen Weg und setzt auf alte Sorten. | |
Bild: Circa eine Million Tonnen Äpfel werden in Südtirol jährlich produziert | |
Jetzt im Frühherbst sieht man sie überall in Südtirol: kleine, üppig | |
behängte Apfelbäume, die Reihe um Reihe in weiten Tälern und auf teils | |
ziemlich steilen Berghängen wachsen. Der Apfelanbau in der Region reicht | |
lange zurück, vermutlich im 13. Jahrhundert wurden die ersten Bäume | |
gepflanzt. Heute kommt rund jeder zehnte in Deutschland verspeiste Apfel | |
aus Südtirol. Rund 900.000 Tonnen werden in der norditalienischen Provinz | |
alljährlich geerntet – in etwa so viele wie in ganz Deutschland. | |
Dass sie aber auf rund 1.000 Meter über dem Meeresspiegel kultiviert | |
werden, ist auch im bergigen Südtirol die Ausnahme. „Wir sagen immer: | |
Unsere Bäume wachsen mit Aussicht“, sagt Sophie Pichler und lacht. Sie | |
arbeitet für den Bergapfelbauern Thomas Kohl, der in der kleinen Ortschaft | |
Unterinn am Ritten acht Hektar bewirtschaftet. Von hier sieht man in der | |
Ferne den langgezogenen Berg Schlern, das steinerne Wahrzeichen Südtirols, | |
daneben die beeindruckende dreigliedrige Felsformation der Vajolet-Türme. | |
Für den unüblichen Standort gibt es gute Gründe. Die hohe Lage bringt viel | |
Sonne und damit Süße. „Nachts fallen die Temperaturen dann, teilweise um | |
bis zu 15 Grad“, erklärt Sophie Pichler. „Das reduziert den Säureabbau und | |
mehr Säure bedeutet mehr Geschmack.“ Neben der geschmacklichen gibt es aber | |
noch eine ganz profane Erklärung. Hier oben liegt der Hof von Thomas Kohls | |
Eltern, den der Sohn Anfang der 90er-Jahre übernommen hat. Nur | |
interessierte ihn die Viehwirtschaft nicht, seine Leidenschaft galt dem | |
Obstanbau, und so pflanzte Kohl 1994 den ersten Apfelbaum. „Mal schauen, | |
ob’s hier oben was wird“, habe er zu sich selbst gesagt und sein Wagemut | |
wurde belohnt. | |
Um sich von der Konkurrenz abzuheben, setzte Thomas Kohl von Anfang an auf | |
Qualität [1][und seltene Sorten]. Er wollte „das Produkt aus einem anderen | |
Blickwinkel betrachten“. Statt Wein, so die Idee, könnten die Leute doch | |
auch mal einen seiner sortenreinen Säfte zum Essen trinken. Mitte der 90er | |
Jahre eine revolutionäre, für viele skurrile Idee. Noch 2004, als Kohl das | |
Design der Flaschen umstellte – von kleinen grünen Glas- auf durchsichtige | |
Weinflaschen – wurde er von vielen in der Region „ein bissl belächelt“. | |
## Steigende Absätze für analkoholische Getränke | |
Mittlerweile gehört [2][die alkoholfreie Getränkebegleitung] in gehobenen | |
Lokalen längst zum Standard. Während der weltweite Weinkonsum seit einigen | |
Jahren rückläufig ist, wächst der Markt für alkoholfreien Wein. In | |
Deutschland stieg der Absatz im Lebensmitteleinzelhandel 2022 um satte 18 | |
Prozent. Manche Restaurants servieren ihren Gästen [3][auch eine | |
Teebegleitung], andere setzen auf hausgemachte Limonaden – oder eben | |
sortenreine Säfte. Diesen Trend spürt auch das Unternehmen Kohl. Ihre | |
„Bergapfelsäfte“ kommen im urigen Gasthaus im Nachbarort genauso ins Glas | |
wie in Sternerestaurants im Ausland. Vor kurzem ging die erste Bestellung | |
in die USA, auch die skandinavischen Länder seien sehr interessiert, sagt | |
Sophie Pichler. Ein Großteil des Exports landet freilich im | |
deutschsprachigen Raum. | |
Den Apfelsaft wie Wein zu behandeln bedeutet auch, dass dieser von Anfang | |
an in Kombination mit Speisen gedacht wurde. Anders als industriell | |
gefertigte Säfte, die meist einfach „süß“ schmecken, sind jene aus Unter… | |
mal säuerlich, mal blumig. Manche schmecken nach Zitrusfrüchten, andere | |
nach roten Beeren und Rhabarber. | |
Dieser „Rouge“ genannte Saft sei ihr Bestseller, sagt Sophie Pichler und | |
geht zu den Bäumen am Rand des Vorplatzes des alten Bauernhauses. Die | |
Früchte sind noch klein wie Blaubeeren und, wie der Name vermuten lässt, | |
dunkelrot. Das Fleisch der ausgewachsenen Früchte sei lila-rötlich, die | |
Blüte pink. „Wunderschön“, schwärmt Pichler. Auch der daraus gepresste S… | |
ist rötlich, im Geschmack leicht säuerlich und damit ideal als Aperitif. | |
Gezüchtet wurde der Weirouge, so der offizielle Gattungsname, Anfang des | |
20. Jahrhunderts, doch richtig durchsetzten auf dem immer kommerzieller | |
werdenden Apfelmarkt konnte er sich nie. Thomas Kohl arbeitet gerne mit | |
solchen alten Sorten – Äpfeln, die oft etwas unförmig, weniger ertragreich, | |
weniger haltbar und damit schwerer zu exportieren sind. | |
## Golden Delicious: süßaromatisch und massenkompatibel | |
So auch der Gravensteiner. „Vor 40, 50 Jahren hat er noch rund ein Drittel | |
der Südtiroler Anbaufläche ausgemacht“, sagt Sophie Pichler. Heute ist der | |
Golden Delicious die wichtigste Apfelsorte der Region und der Welt. Der ist | |
süßaromatisch und damit massenkompatibel. Vor allem aber liefert er | |
konstant hohe Erträge, weshalb er als Erbgutspender für die Zucht | |
zahlreicher anderer Sorten genutzt wurde. | |
Viele dieser neu gezüchteten Exemplare sind sogenannte Clubsorten, die | |
unter einem geschützten Markennamen als Premiumäpfel vermarktet werden. | |
Bekanntestes Beispiel ist der „Pink Lady“, ein Apfel mit eigener | |
Internetseite, mit „knackigem, saftigem Fruchtfleisch“ und „unnachahmlich… | |
Farbe“, wie es dort heißt. Clubsorten unterliegen dem Sortenschutz, was | |
heißt, dass die Produzenten einen Vertrag abschließen und Lizenzgebühren | |
zahlen müssen, um Teil des Anbau-„Clubs“ zu werden. Zudem müssen die | |
Früchte strenge Kriterien erfüllen: perfekte Größe, glänzende Schale, rote | |
Bäckchen. Wegen der daraus resultierenden Abhängigkeit steht die Praktik | |
immer wieder in der Kritik. Hinzu kommt die Sorge, dass die [4][oft in | |
Monokultur angebauten] Neuzüchtungen alte Sorten verdrängen. | |
Schätzungen zufolge gibt es weltweit rund 30.000 Apfelsorten. Kommerziell | |
angebaut werden weniger als hundert. Immerhin acht wachsen auf den Hängen | |
von Thomas Kohl. Die alten, selten kultivierten Sorten zu finden ist nicht | |
einfach, denn man kann sie nicht so einfach in einer Baumschule kaufen. Wer | |
sie anbauen will, muss einen geeigneten Edelreiser finden, also einen | |
jungen Trieb, den man auf eine entsprechende Stammunterlage setzen kann. | |
Kohls jüngste Neuzugänge sind der Wintercalville und die Ananasrenette. Der | |
Wintercalville, der nach Honig und Pfirsich schmeckt, wurde früher „Apfel | |
der Könige“ genannt. Ein einziger war so teuer wie sechs Kilo Kartoffeln, | |
erzählt Sophie Pichler. „Er wurde in Papier eingeschlagen und ans | |
Kaiserhaus gebracht.“ Die Ananasrenette stammt ursprünglich aus den | |
Beneluxstaaten und duftet reif, man ahnt es, nach Ananas. „Als er Anfang | |
des 19. Jahrhunderts aufkam, wollte ihn jeder haben“, sagt Pichler. Doch | |
auch der Ananasrenette wurden ihre geringe Haltbarkeit und ihr eher | |
schwacher Wuchs zum Verhängnis. | |
## Bewirtschaftung in Handarbeit | |
Am Ritten werden Ananasrenette und Wintercalville zum Grand Cru verarbeitet | |
und in 1,5-Liter-Magnum-Flaschen abgefüllt, die ihrem alkoholischen Vorbild | |
in nichts nachstehen. Weder beim Design (ein schlichtes Apfelbaumblatt auf | |
weißem Etikett) noch beim Aromenprofil (würzig-fruchtig, ideal zu Spargel | |
und Risotto) und mit 21 Euro pro Flasche auch nicht beim Preis. Die | |
Bewirtschaftung der Flächen erfolgt größtenteils in Handarbeit. Bei | |
Steigungen von bis zu 60 Prozent unvermeidbar, vor allem aber sind | |
unversehrte, von Hand geerntete Äpfel wichtig für den Geschmack. | |
Über einen Zeitraum von anderthalb Wochen gehen die Erntehelfer bis zu vier | |
Mal durch die Reihen, um die Äpfel nach und nach – im perfekten | |
Reifezustand – zu ernten. Verarbeitet werden sie im ehemaligen Kuhstall, wo | |
sich heute Presse und Abfüllanlage befinden. Am Tag des Besuchs riecht es | |
dort nach süßen, sonnenreifen Früchten. Neben sortenreinen Säften werden | |
bei Kohl auch Cuvées produziert. Apfelsaft gemischt mit Holunderblüten, mit | |
Karotte, Vinschgauer Apfelminze oder Aprikosen. | |
Beim Verlassen des Hofs steht die Sonne schon tief hinter den Gipfeln. | |
Aperitivo-Zeit! Heute mit leuchtend rotem, nach säuerlichem Rhabarber | |
schmeckendem Apfelsaft. | |
13 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Verena C. Mayer | |
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