# taz.de -- Autor über Gasthaussterben: „Es gibt eine große Sehnsucht“ | |
> Überall sterben Gasthäuser, heißt es. Aber stimmt das? Erwin Seitz hat | |
> nachgeforscht und sagt: Nie war das Gasthaus zeitgemäßer als heute. | |
Bild: Der historische Holzstich zeigt das Gasthaus Bratwurstglöckle in Nürnbe… | |
taz am wochenende: Herr Seitz, seit Jahren ist vom Gasthaussterben die | |
Rede. Sie haben ein Buch geschrieben und erzählen darin, es stehe eine neue | |
Blüte des Gasthauses an. Wie kommen Sie denn darauf? | |
Erwin Seitz: Es lassen sich parallele Entwicklungen verfolgen. Das | |
Gasthaussterben ist real. Viele Wirte finden keine Nachfolger mehr – und | |
wenn sie welche finden, haben die oft nichts gelernt. Aber überall dort, wo | |
junge Leute mit einer guten Ausbildung und einem gastronomischen Konzept | |
ein Gasthaus gründen oder übernehmen, stoßen sie auf große Sehnsucht. | |
Wo lässt sich das festmachen? | |
Berlin ist das beste Beispiel. Vor zehn, zwanzig Jahren war gar nicht daran | |
zu denken, hier ein Gasthaus aufzumachen. Ein Café, ein Bistro, ein | |
US-Diner oder eine Sportsbar, das schon. Heute jedoch zählen die neuen | |
verjüngten Gasthäuser in Berlin zu den Schrittmachern der Bewegung. | |
Es sind vor allem Landgasthöfe, die es schwerhaben. Könnte man sagen: Das | |
Gasthaus wandert in die Stadt? | |
Nein, die erneuernden Entwicklungen begannen immer schon in den Städten. | |
Das Gasthaus ist im Wesentlichen hier erfunden worden. Schaut man genau | |
hin, dann verschwindet heute insbesondere die Schankwirtschaft. In der | |
Hauptstadt sind es die „Altberliner Kneipen“. Ich kann mich noch erinnern, | |
wie viele es früher davon gab. Sie waren Ausdruck einer Trinkkultur, die | |
vom Schnaps und Bier geprägt blieb. Das Essen war Nebensache. Damit ist es | |
nun vorbei – und diese Entwicklung setzt sich auf dem Land fort. Bier und | |
Schnaps ausschenken, das konnte früher ein Bauernwirt noch nebenbei machen. | |
Heute reicht der Umsatz nicht mehr aus, weder im Schankwirtshaus noch in | |
der [1][Landwirtschaft]. Aber sobald jemand auf dem Land ein Lokal | |
eröffnet, das von regionalen Produkten, frisch zubereiteten Gerichten sowie | |
ansprechender Einrichtung mit Zitaten der traditionellen Gasthauskultur | |
geprägt wird, läuft der Laden. | |
Was für Zitate meinen Sie? | |
Die großen blanken Holztische mit umlaufenden Wandbänken, halbhoher | |
Vertäfelung und Kachelofen – Elemente, die Gemütlichkeit ausstrahlen und | |
sich heute auch über der Vertäfelung mit einer polierten Betonwand | |
vertragen. | |
Die umlaufende Wandbank wird in Ihrem Buch wiederholt erwähnt. | |
Ich habe mich mit der Geschichte der Kelten und Germanen | |
auseinandergesetzt. Es lassen sich frühe kulturelle Muster finden. Eine der | |
Quellen ist die Geografica des griechischen Historikers Strabo, 25 v. Chr. | |
Während Griechen und Römer meist im Liegen aßen und tranken, tafelten die | |
Kelten im Sitzen, und zwar auf umlaufenden Wandbänken. Auch andere Motive | |
tauchten bei den Kelten und Germanen bereits auf: das Bier und die Vorliebe | |
für das Schwein, das sich im gemäßigt-feuchten Waldklima Mitteleuropas | |
besonders wohlfühlt. Archäologen haben im süddeutschen Raum Eisenroste | |
gefunden, die auf 200 v. Chr. datiert werden und auf denen Würste geröstet | |
wurden. | |
Vor allem kann man auf so einer Bank lang und gut hocken. | |
Es ist urgemütlich. Wobei das Gemütliche, wie man weiß, zwischendurch in | |
Verruf geraten war. Es passte nicht zu den modernen Zeitläuften von | |
Industrie und Technik, Tempo und Verkehr. Aber die Bank hat etwas | |
Menschliches, man sitzt dort mit Freunden zusammen, kommt auch mit Fremden | |
in ein Gespräch, das länger dauern darf. Gasthausgemütlichkeit war noch nie | |
weltfremd. | |
[2][Wann] war die Hochzeit des Gasthauses? | |
Es begann im späten Mittelalter und der Renaissance. Gasthäuser gab es | |
damals selbstverständlich schon überall in Europa. Doch das hiesige | |
holzgeprägte Gasthaus folgte einer eigenen Logik. Es kreuzten sich | |
hierzulande die Handelswege des Kontinents. Die Gastronomie boomte – und | |
den Reisenden fiel die Qualität der Bewirtung auf, das gute Essen, die | |
Sauberkeit. Nicht wenige waren angetan von den wohltemperierten Stuben. | |
Dazu muss man wissen, dass es in Frankreich oder Italien kaum Kachelöfen | |
gab, die im Winter nachhaltig heizten. | |
Auch Michel de Montaigne war damals begeistert. | |
Der französische Philosoph und Humanist befand sich 1580 auf einer | |
Europareise, die ihn auch durch Deutschland führte. Ihm ging der Luxus in | |
Paris auf die Nerven. Montaigne sah im deutschen Gasthaus das Etablissement | |
für das gute, mittlere Maß. Das war für ihn eine Form des Humanen: nicht | |
Luxus, sondern Komfort. Nicht Prunk, sondern Gediegenheit. Kein Verzicht, | |
sondern Genüge. | |
Sind das die Werte, die das verjüngte Gasthaus von heute ausmachen? | |
So ungefähr. Das Gasthaus ist jedenfalls nicht mehr der Ort für | |
Vereinsmeierei, sondern ein Ort für bekömmliches Essen und Zusammensein, | |
für Gespräch und Unterhaltung, bloß kein Etepetete. Die Küche ist jetzt | |
auch etwas leichter und pflanzlicher. Und die Aufwertung des Gasthauses | |
läuft parallel zum Revival der biologischen Landwirtschaft und des | |
Lebensmittelhandwerks. Das Gasthaus schult einen Menschen, der etwas | |
genügsamer ist, der sich freut, wenn es jeden Tag ausgezeichnete | |
hausgemachte Sachen wie Spätzle gibt, ohne den Geldbeutel zu ruinieren. | |
Jeder ist willkommen, für jeden ist etwas dabei. | |
Es gibt also einen Bedarf, den andere Formen der Gastronomie wie Bistro | |
oder Restaurant nicht so recht bedienen können? | |
Es ist auffällig, dass mancherorts die Hochgastronomie wieder aufs Gasthaus | |
schaut, sich weniger kompliziert gibt und die Dinge vereinfacht, etwa | |
abends bloß noch ein Menü serviert. Restaurant und Bistro sind Erfindungen | |
des 19. und 20. Jahrhunderts, stammen also aus einer Zeit, die von | |
Industrie und immer schnellerer Lustbefriedigung charakterisiert wird. Es | |
gibt jedoch eine Gegenbewegung. Immaterielle Werte wie Bildung, Familie, | |
Freundschaft, Nachbarschaft, [3][Nachhaltigkeit], Gemeinwohl gewinnen an | |
Bedeutung. Gefragt sind Orte, die etwas Unverwechselbares, Lebendiges an | |
sich haben, solche, die nicht nur dem Konsum, sondern auch der Begegnung | |
dienen. Das Gasthaus ist dafür bestens geeignet. | |
5 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Jörn Kabisch | |
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