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# taz.de -- Queerfilmnacht geht online: Gegen die Unsichtbarkeit
> Die Queerfilmnacht bringt queeres Kino auf Kleinstadtleinwände in Parchim
> oder Weiterstadt. Wegen des Lockdowns findet sie digital statt.
Bild: Mikkel Følsgaard (Mitte) in „Eine total normale Familie“
In Berlin werden die Fans des queeren Kinos lange schon verwöhnt. Für
gewöhnlich. Gerade wird es schmerzlich bewusst, denn Anfang 2021 fühlt sich
das dann doch sehr anders an: [1][Im Februar ist keine Berlinale in Sicht],
deren roter Teppich den Hagelmatschwinter stets sehr gut erträglich machte
– und deren starke queere Programmierung ihresgleichen suchte, zumal
diejenige der Panorama-Sektion mit dem Teddy Award, dem wichtigsten queeren
Filmpreis der Welt.
Aber ja: Berlin ist eine Sache. Was ist mit dem trans Mädchen, das sein
Coming-out in Halle oder Hanau hat und eine Story braucht, die ihm Kraft
gibt? Was ist mit dem bisexuellen Jungen in Jena oder in Kiel, der „seine“
Geschichte nirgendwo findet, nicht in der Schullektüre, nicht im
öffentlich-rechtlichen Fernsehen? Was ist mit der lesbischen Rentnerin in
Parchim oder Weiterstadt?
In all diesen genannten und noch mehr, nämlich in drei Dutzend Städten in
Deutschland (plus Wien in Österreich) gibt es jeden Monat die
Queerfilmnacht, an Orten wie dem Odeon in Bamberg, dem Zebra in Konstanz,
der Lichtburg in Oberhausen und dem Studiokino in Magdeburg. Ein Film pro
Monat immerhin, in dem Queerness nicht ausgeblendet, sondern für beachtens-
und erzählenswert befunden wird. Ein kleiner Schritt gegen die
Unsichtbarkeit. Ein echter Kontrapunkt zu mehrheitsgesellschaftlicher
Konvention.
Das ist wichtig, denn queere Geschichten kommen noch zu wenig vor im
deutschen Fernsehen und im Kino – auch wenn einem rasch zwei, drei
Gegenbeispiele aus Hollywood einfallen würden, [2][„Call Me by Your Name“]
oder [3][„Moonlight“], aber wie viel wiegt das schon auf der imaginären
Waagschale, verglichen mit Hunderten Hetero-Liebesfilmen, die einem prompt
„dagegen“ einfallen würden?
## Äußerst attraktive Notlösung
Auf diese schmerzliche Divergenz weist auch die [4][Queer Media Society],
eine ehrenamtliche Initiative queerer Medienschaffender, immer wieder
überzeugend hin. Die großen Streaminganbieter leisten teils einen ganz
guten Job, vor allem Netflix, etwa mit der grandiosen [5][Ballroom-Serie
„Pose“], aber letztlich findet sich selbst bei Netflix nur ein schmaler
Ausschnitt dessen, was queerer Film kann – und, ehrlich gesagt, eher der
wohlfühligere, leichter konsumierbare.
Also: Queerfilmnacht. Seit 2005 gibt es den Vorgänger, das lesbische
Pendant, die L-Filmnacht. Zur zeitlichen Orientierung: Das war zwei Jahre
vor dem Coming-out von Anne Will 2007. Eine andere Zeit, eine damals noch
schlimmer heteronormative Gesellschaft. Also echte Pionierarbeit. 2016
fusionierten die L-Filmnacht und die wenig später gestartete Gay-Filmnacht
zusammen zur Queerfilmnacht. Guter Punkt, denn ja, es gibt nicht „nur“
lesbisch und schwul, sondern auch viele Aspekte von Queerness darüber
hinaus: bisexuelle, intergeschlechtliche und trans Menschen zum Beispiel.
2020 zog die Queerfilmnacht trotz Corona wacker durch, es gab sogar
Livetalks im Anschluss an die Filme, etwa mit der [6][Regisseurin Leonie
Krippendorff] („Kokon“) und [7][Faraz Shariat („Futur Drei“)], aber
letztlich zogen die harten Lockdownmonate dann eben doch einen Strich
durchs bewährte Konzept. Daher geht die Queerfilmnacht nun auch online fürs
erste Quartal 2021. Es ist eine Notlösung, man muss es so sagen, denn
natürlich steht die Queerfilmacht für die Passion für die lichtbespielte
Leinwand – aber es ist trotzdem eine äußerst attraktive Notlösung,
filmästhetisch – und da die Kinos an den Streamingeinnahmen beteiligt sind,
ist es sogar eine solidarische Aktion voller Kinoliebe.
Was steht nun also an im Januar und Februar bei der Queerfilmnacht? Statt
einem Film pro Monat gibt es sogar zwei. Jackpot! „Moffie“ ist ein
südafrikanisch-britisches Biopic, das seine Premiere 2019 am Lido bei den
Filmfestspielen Venedig hatte, edle Adresse. Der reguläre Kinostart in
Deutschland platzt nun durch den Lockdown.
## Geheimtipp „Eine total normale Familie“
„Sister My Sister“ (1994) mit der zweifach oscarnominierten Julie Walters
gilt als Klassiker des lesbischen Films, aber hatte in Deutschland niemals
einen Kinostart – sogar die DVD gab es nur als Import. Eine verpasste
Chance, die es nun nachzuholen gilt im Januar.
Im Februar zeigt die digitale Queerfilmnacht [8][„Minjan“, der in der
russisch-jüdischen Community Brooklyns spielt – und zwar auf der Berlinale
2020 Weltpremiere hatte], aber im restlichen Deutschland von Stuttgart bis
Kiel noch nicht zu sehen war. Am meisten Geheimtipp unter den
programmierten Queerfilmnacht-Filmen ist die dänische trans Tragikomödie
„Eine total normale Familie“, deren Hauptdarsteller Mikkel Følsgaard auf
der Berlinale 2012 (für einen anderen Film) einen Silbernen Bären gewann.
Die Filme im Januar, „Moffie“ und „Sister My Sister“, sie erzählen von
Liebesverboten und von Demütigung. Im Fall von „Moffie“ (zu Deutsch:
Schwuchtel), der 1981 spielt, basiert diese auf den Regeln des
südafrikanischen Apartheid-Regimes, zumal im extrahomophoben Militär im
Krieg gegen das von den Sowjet-Sozialisten unterstützte Angola. Im Fall von
„Sister My Sister“ auf dem in Frankreich forcierten Klassensystem.
## Starker Tobak, nichts zum Gutfühlen
„Moffie“, adaptiert nach einem autobiografischen Roman von André Carl van
der Merwe, erzählt von der unterdrückten Liebe zweier junger
Wehrdienstleistender, Nicholas und Dylan. Die Story beginnt, untermalt von
Cello Pizzicato, in einem Zug, aus dem Kotzbeutel fliegen und in dem ein
„Nigger“ beschimpft wird. Man drangsaliert die Rekruten, schärft ihnen ein,
dass sie „wie Krätze“ zu nichts zu gebrauchen seien. Und Schwuchteln seien
das Allerletzte – die „Gesetze des Landes und der Bibel“ seien da
eindeutig.
Im Schützengraben rutschen Dylan und Nicholas trotzdem einander näher – um
bald darauf beim Faustkampf zu beweisen, dass da nur ja nichts Romantisches
läuft zwischen ihnen beiden. Schließlich weiß man, dass „Schwuchteln“ be…
Militär in die Psychiatrie entfernt werden.
Wir sehen Flashbacks in einer schier nicht enden wollenden Sequenz, in der
Nicholas, noch Teenager, von einem anderen Badegast im Schwimmbad als
schwuler Spanner denunziert wird. Wir sehen die Grauen des Krieges, unter
fahlem Mondlicht. Starker Tobak, dieser Film, nichts zum Gutfühlen, aber
eine eindringliche, wichtige Geschichte darüber, wie menschenfeindliche
Militärdoktrin und Homophobie Hand in Hand gehen.
## Historisch verbürgt
„Sister My Sister“ basiert auf einem historisch verbürgten Mordfall in
Frankreich, von dem sich auch der schwule Skandalschriftsteller Jean Genet
angeblich inspirieren ließ für sein Stück „Die Zofen“. Hier wird die
Geschichte erzählt von einer weiblichen Regisseurin, Nancy Meckler, die
schon im Shakespeare’s Globe in London inszeniert hat und das
inzestuös-lesbische Begehren der beiden Kammermädchen-Schwestern keineswegs
pornografisch ausschlachtet, sondern das Tasten, den Unterschenkel hoch,
überraschend parallel montiert mit den Kartenspielen der Hausherrin und
ihrer Tochter.
Doch Eifersucht keimt auf, wenn die jüngere Schwester der Herrin die Haare
kämmt. Weirde Rollenspiele setzen ein. „Abschaum, Drecksschwestern“, grollt
die Herrin. „Sister My Sister“ handelt von einer lesbischen
Geschwisterliebe in Historienklamotte, aber mit messerscharfen Abgründen.
## Der Liebe wegen
Sind die schwereren Januartitel der Queerfilmnacht geprägt von
Wehrversuchen gegen Demütigung, so kommen die Februartitel mit mehr
Leichtigkeit und Empowerment daher: „Minjan“ erzählt bei
Klarinetten-Klezmer vom 17-jährigen James-Baldwin-Fan und Tora-Schüler
David, der seinen Großvater im Altersheim unterstützt und dabei ein altes
schwules Liebespaar kennenlernt.
Bei seinen mit Steadycam lebendig fotografierten, schlendernden Streifzügen
durchs 1986 noch kaum gentrifizierte Brooklyn samt der Schwulenbar
„Nowhere“, in der OMDs „So in Love“ läuft und schlechter Wodka gekippt
wird, lernt David inmitten der Aids-Krise zu sich selbst finden – und dass
er nicht nur eine Nummer, nämlich der wichtige Zehnte im jüdischen
Gebetskreis, ist, sondern ein Mensch, der sich etwas traut, der Liebe
wegen.
## Die überforderte Tochter
In „Eine total normale Familie“ geht es, beginnend im Stil von
Homevideo-Material, um das Coming-out von Agnete als trans Frau, allerdings
aus einer ungewöhnlichen Perspektive, nämlich derjenigen der Tochter, der
zehnjährigen Fußballerin Emma, die sich während einer
Familientherapiesitzung gar einen Schal umbindet (Gänsehaut-Bild!), um
ihren einstigen Vater nicht als Frau sehen zu müssen. Dazu hat sich die
Regisseurin Malou Reymann bei ihrem Debüt-Langfilm inspirieren lassen durch
die Transition ihres eigenen Vaters.
Der Film balanciert auf einem spannend schmalen Grat; immer wieder drohen
Szenen im Urlaub, im Nagelstudio, bei der Konfirmation, zu explodieren –
und finden dann doch noch ihren Frieden. Der Film nimmt die Überforderung
der Tochter ernst und findet dennoch zu einer beflügelnden Heiterkeit
zurück mit einer Familie, die ihre mentale, emotionale Landkarte neu
abzustecken wagt.
Queerfilmnacht mit monatlich wechselndem Programm, online unter
www.queerfilmnacht.de und den Seiten der Partnerkinos
15 Jan 2021
## LINKS
[1] /Berlinale-2021-und-Corona/!5735861
[2] /Schwuler-Coming-of-Age-Film/!5485639
[3] /Oscar-Sieger-Moonlight-im-Kino/!5387559
[4] https://www.queermediasociety.org/
[5] /Queere-Ballroom-Kultur/!5633798
[6] /Leonie-Krippendorffs-Film-Looping/!5330755
[7] /Queere-Tragikomoedie-Futur-Drei/!5712929
[8] /Eric-Steels-Minyan-auf-der-Berlinale/!5665764
## AUTOREN
Stefan Hochgesand
## TAGS
Kino
Queer
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