Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ein Berliner Leben als trans Frau: Samt, Satin und Selbstachtung
> Nora Eckert, geboren 1954, hat ein entspanntes, lesenswertes Memoir über
> ihre Selbstfindung als trans Frau geschrieben.
Bild: Heute setzt sich Nora Eckert für die Gleichberechtigung von Queers ein
Was muss das für ein Leben gewesen sein! Mitte der 1970er hat Nora Eckert
im [1][legendären Chez Romy Haag gejobbt,] Fuggerstraße 33, unweit des
KaDeWe in Berlin-Schöneberg. Dieser Laden, trashy und kitschy, mit seinem
schwarzen Dekor und den vielen Spiegelflächen, war anders als alles, was es
davor in Westberlin gab: Hier lief Disco mit seinen queeren Vibes, frisch
mitgebracht von DJs aus Manhattan und aus London. Die Luft roch nach
Schminke und Puder.
[2][Die Chefin, Romy Haag, unnahbare Diva und Vamp, war die Glamourgeliebte
David Bowies]. Romy Haags signature move am Ende ihrer Showeinlagen: Sie
riss sich die Perücke vom Kopf und verschmierte sich theatralisch den
Lippenstift übers Gesicht. Doch auch Nora Eckert erhaschte in ihrem Fummel
viele Blicke, schließlich kamen sie alle an ihr vorbei, die im Chez Romy
Haag feierten: Neben David Bowie auch Bryan Ferry, Tina Turner und Grace
Jones. Nina Hagen, Thomas Brasch und Udo Lindenberg. Mick Jagger, Freddie
Mercury und Bette Middler.
„Mein Arbeitsplatz, die Eintrittskasse, wurde zu meiner Bühne“, schreibt
Nora Eckert nun in ihrem Memoir „Wie alle, nur anders. Ein transsexuelles
Leben in Berlin“, das im Titel auf den ersten schwulen Film aller Zeiten
anspielt: „Anders als die Anderen“ von 1919.
## Nachtleben und Dayjob
Das Buch ist allerdings keine Promi-Klatschgeschichten-Sammlung rund
ums Chez Romy Haag, sondern handelt, sehr persönlich und unprätentiös, aber
durchaus mit viel Sinn für (Selbst-)Ironie von Nora Eckerts langer, aber
nie langweiliger Selbstfindung als trans Frau. Wobei Nora Eckert es sich
gestattet, nicht permanent auf die Transidentität zu fokussieren, sondern
noch von vielem zu erzählen, was sie als Person eben auch ausmacht. „Wie
alle, nur anders“ ist auch die autobiografische Geschichte eines
Arbeiterkinds mit einem männlichen Vornamen (den wir im Buch nicht erfahren
sollen), das Pflanzengerüche und Weihrauchpomp liebt, die Schule abbricht,
aber in den [3][1980ern für die taz schreibt] und eine anerkannte
Opernkritikerin für Fachzeitschriften wird, von Salzburg bis Paris und
Bayreuth.
Es ist auch die Geschichte einer Frau, die im Berliner Nachtleben voll zu
sich zu stehen scheint – und dennoch später 35 Jahre lang in ihrem seriösen
Dayjob als Stenokontoristin ihre Transidentität verschweigt; bis sie merkt,
dass sie Queer-Aktivistin werden muss.
Früh im Memoir erfahren wir vom Umzug nach Berlin, 1973, nach Stationen in
Nürnberg und Gießen. Nora Eckert ist 19, findet einen Job in einer
Buchhandlung und zieht in die Kreuzberger Gneisenaustraße. Sie trägt statt
T-Shirt und Blue Jeans lieber Samtjacke und Satinhose. Das passt nicht zum
linksintellektuellen Dresscode – schon gar nicht, wenn man von der Umgebung
als Mann gelesen wird.
## Neuland: Genderfragen
Nora Eckert, die in der neunten Klasse ein Referat über Homosexualität im
Bio-Unterricht halten wollte, verstand sich seinerzeit selbst noch als
schwuler Mann. „Es blieb lange Zeit ein Spiel, ein Erkunden, wie es sich
anfühlt, Gendergrenzen zu überschreiten, obschon damals kaum ein Mensch
etwas über Genderfragen wusste“, schreibt sie.
Dennoch tut sich was zu dieser Zeit: Es ist noch nicht lange her, dass 1971
Rosa von Praunheims schwules Dokudrama [4][„Nicht der Homosexuelle ist
pervers, sondern die Situation, in der er lebt“] auf der Berlinale lief –
woraufhin sich die Homosexuelle Aktion Westberlin gründete, eine Schwulen-
und Lesbenorganisation. Ein Kernziel war die Streichung des Paragrafen 175,
der Homosexualität kriminalisierte – und somit auch Sex von trans Frauen
mit Männern, da trans Frauen in den Augen der Bundesrepublik sozusagen
verkleidete Männer waren.
Für den Glückshormonrausch frequentiert Nora Eckert das „schwule Dreieck“
an der Kleiststraße, mit den Diskotheken Trocadero, WuWu-Bar und
Kleist-Casino. „In gewisser Weise markierte die Disco einen Schutzraum“,
schreibt sie, „in dem das All Together praktiziert wurde, das im Alltag
utopisch schien.“ Sie beschreibt auch ihr Hadern mit der Fremdheit in der
schwulen Subkultur, in der sie sich als scheinbar effeminierter Mann auf
einem der niederen Ränge sieht. „Ganz anders dann die ersten Jahre in
meinem neuen Leben als Frau, die sich auf sexuellem Gebiet zu einer Art
privatem Wirtschaftswunder entwickelten.“ Das ist der typische
Eckert-Humor.
Andy Warhols Factory-Filme „Flash“ (1968) und „Trash“ (1970) mit den tr…
Frauen Holly und Candy öffneten ihr die Augen: „Die Filme lehrten mich,
dass trans*Sein nach eigenen, nicht-heteronormativen Regeln funktioniert;
dass es überhaupt lebbar ist.“
Testläufe in der schwulen Subkultur
In Nürnberg und Gießen war Eckert noch zurückhaltend darin, ihr Äußeres
feminin zu gestalten. Das ändert sich 1975 in Berlin: „Alles war neu zu
erlernen – wie man geht, die Haltung, die Gesten, das Sehen, die Blicke,
die Sprache. […] Ich wurde zur Freizeit-Fummeltante, schlüpfte in
Frauenkleider, schminkte mich und entschwand so in die nächtliche schwule
Subkultur, um dort meine Wirkung zu testen.“
Es sind „Testläufe“, wie Eckert schreibt, für ein neues Leben. „Die
Entdeckung, eine andere Identität als die des zugewiesenen Geschlechts zu
besitzen, ist eine Ungeheuerlichkeit“, schreibt Eckert. „Ich musste mir
dafür erst einen Platz in der Gesellschaft suchen, und so war es auch bei
all meinen Freundinnen. Diesen Platz zu suchen, den es offiziell gar nicht
gab, das war die eigentliche Herausforderung.“
Die Freiheiten des Nachtlebens erweisen sich als ambivalent. „Wir waren
Barfrauen, Animierdamen, haben gekellnert, Striptease getanzt, traten in
Travestie-Shows auf, und wenn nichts davon passte, dann waren wir
Sexarbeiterinnen.“ Vieles davon als Schwarzarbeit ohne Sozialversicherung.
Eckert beschreibt, wie trans Menschen praktisch von der freien Berufswahl
ausgeschlossen waren: Da es vor dem Transsexuellengesetz 1981 in der BRD
für trans Menschen unmöglich ist, ihre geschlechtliche Identität auf dem
Papier ändern zu lassen, wäre jede Bewerbung und Anstellung mit einem
Coming-out einhergegangen – wenn man etwa als Frau auftritt, aber im Pass
noch ein Männername steht. Man darf sich ausmalen, welche Arbeitgeber das
damals mitgemacht hätte.
## Männerklamotten entsorgt
Nora Eckert entsorgt ihre alten Männerklamotten im Müllcontainer und nimmt
das von Schering in Berlin hergestellte Medikament Progynon Depot. Dessen
(im Fall vieler trans Frauen erwünschte) Nebenwirkung war die Ausbildung
der weiblichen Brust. „Das Sexualorgan zwischen den Beinen ließ sich durch
ein straffes Bikini-Unterteil in einen unauffälligen Venushügel umformen.
Es fühlte sich nicht weniger richtig an als mein sonnenbeschienener Busen.“
Nora Eckert hat ihr Coming-out bei den Eltern (das Verhältnis zur Mutter
geht einem ans Herz) und ändert 1978 ihren Namen vom männlichen
Geburtsvornamen in den genderneutralen Namen Sandy. Offiziell vor dem Staat
eine Frau zu sein, gestaltet sich indes als deutlich schwieriger: Der
erachtet trans Menschen als psychisch krank und fordert entsprechende
Gutachten ein. Eckert beschreibt den schmerzlichen Prozess als
„Boulevardkomödie“, eine bittere Komödie.
Eine überraschende Wende tritt ein, als sie dem Nachtleben den Rücken kehrt
und einen seriösen Bürojob bekommt, wo sie als Frau angenommen wird, aber
ihre Transidentität verschweigt. „Was ich jetzt tat, war im Grunde das
Gegenteil von Emanzipation, es glich eher einer Selbstverleugnung, die ich
mir mit pragmatischen Argumenten schönredete.“ Erst als sie in die Rente
geht, hat sie ihr empowerndes Coming-out: „Ich hatte die ganze Zeit hinter
einer Fassade gelebt, die mir nun lästig wurde, und ich erkannte, dass es
unmöglich schon die Normalität war, die ich ersehnt hatte.“
Seit 2019 ist Nora Eckert Mitglied und mittlerweile auch Vorständin des
Vereins TransInterQueer, wo sie sich für Gleichberechtigung von Queers
einsetzt. Und mit der Normalität ist das so: Wenn jemand sie fragt „Sind
Sie operiert?“, antwortet sie am liebsten: „Wenn Sie meinen Blinddarm
meinen, den habe ich noch.“
26 Feb 2021
## LINKS
[1] /Queerer-Protest-am-Potsdamer-Platz/!5049118
[2] /50-Jahre-auf-der-Buehne/!5132640
[3] /Archiv-Suche/!1761585&s=Nora+Eckert&SuchRahmen=Print/
[4] /75-Geburtstag-Rosa-von-Praunheims/!5463182
## AUTOREN
Stefan Hochgesand
## TAGS
Buch
Autobiografie
Trans
Queer
Berliner Nachtleben
Schwerpunkt Stadtland
Trans-Community
Trans
Kino
Queer
Spielfilm
## ARTIKEL ZUM THEMA
Sexaktivistin Helga Goetze: Ficken für den Frieden!
Sie war Provokateurin, Sexaktivistin, ja vielleicht ein feministisches
Gesamtkunstwerk. Erinnerungen an Helga Goetze zu ihrem 100. Geburtstag.
Öffentlicher Suizid einer trans* Frau: Gegen Tote noch mal nachgetreten
Im September verbrannte sich die trans Frau Ella am Berliner
Alexanderplatz. Zum zweiten Mal wurde ihr Grab nun verunstaltet.
Rachel Levine im US-Kabinett: Die beste Kandidatin
In den USA ist mit Rachel Levine erstmals eine trans Frau mit in der
Regierung. Die Vize-Gesundheitsministerin hat einen guten Ruf.
Queerfilmnacht geht online: Gegen die Unsichtbarkeit
Die Queerfilmnacht bringt queeres Kino auf Kleinstadtleinwände in Parchim
oder Weiterstadt. Wegen des Lockdowns findet sie digital statt.
Bildband „New Queer Photography“: Queer durch die Welt
Der Band „New Queer Photography“ versammelt 52 junge Künstler:innen. Sie
zeigen Menschen, die Diskriminierung trotzen und ihr Glück suchen.
Film „Port Authority“ startet digital: Der Blick des Getriebenen
„Port Authority“ war 2019 der erste Film in Cannes mit einer nichtweißen
trans Frau in der Hauptrolle. Er erzählt von der Ballroom-Szene New Yorks.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.