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# taz.de -- Das war das Kunstjahr 2020: Klare Bekenntnisse
> Berliner Rückblick auf die wichtigsten Kunstdebatten des Jahres: Von
> Stadtschloss über Dekolonialisierung bis „Ufer-Manifest“.
Bild: Digitale Skizze für Plakataktion der Coalition of Cultural Workers again…
Einen fröhlichen Pessimismus wünschte uns der Philosoph Alain de Botton vor
einigen Monaten für das Ende dieses ungewöhnlichen Jahres. Fröhlich und
ganz ohne Pessimismus scheint die Baubranche durch 2020 gekommen zu sein
und stellte dann kurz vor Weihnachten auch noch ein besonders debattiertes
Berliner Großprojekt fertig: das rekonstruierte Stadtschloss. Doch so
ungeheuerlich wie der künstliche Barockkoloss von außen wirkt, ist er bei
genauerer Betrachtung gar nicht, er ist erstaunlich banal. Viel
ungeheuerlicher ist, von welchem historischen Unrecht viele [1][Objekte]
hinter der neuen Schnörkelfassade sprechen.
Die ohnehin kriselnde Stiftung Preußischer Kulturbesitz kann die immer
lauter werdende Forderung, wie sie auch die [2][Coalition of Cultural
Workers against the Humboldt Forum (CCWAH)] Mitte Dezember auf dem
Schinkelplatz noch einmal stellte, nun nicht mehr überhören, sie muss die
soeben [3][ins Schloss gebrachten Artefakte kolonialer Ausbeutung]
schnellstmöglich wieder herausholen und den Bestohlenen zurückgeben. Das
Stichwort: Dekolonialisierung.
## Dekolonialisierung der Kunst
In der zeitgenössischen Kunst jenseits des Stadtschlosses ist dieses
Stichwort dieses Jahr angekommen, etwa in der Gruppenausstellung
[4][“Reading From Below“] im Times Art Center, oder in den Malereien von
[5][Esteban Jefferson], die Tanya Leighton diesen Winter unter dem Titel
“Petit Palais“ zeigte.
Im Sinne der Dekolonalisierung gedacht hat die Kuratorin und Autorin Marion
von Osten schon lang. 2008 brach sie mit ihrem [6][HKW-Projekt „In der
Wüste der Moderne“] einige Mythen über die europäische
Nachkriegsarchitektur. Auch das von ihr mit-kuratierte [7][„Projekt
Migration“] hatte mit der gleichnamigen Ausstellung im Kunstverein Köln
2005 weitere Grundsteine eines postmigrantischen Kunst- und
Gesellschaftsverständnisses gelegt. Sie hätte im kommenden März ihre
nächste Berliner Ausstellung eröffnet, wäre sie nicht in diesem November
verstorben.
Dass Europa migrantisch und Schwarz war, bevor es überhaupt Nationalstaaten
gab, scheint die westliche Kunstwelt erst 2020 so richtig verstanden zu
haben. Mit der Internationalisierung der Black Lives Matter-Bewegung
stellten sich Kunstinstitutionen weltweit infrage. Während ein dekoloniales
Programm an anderen Orten wie [8][SAVVY Contemporary] und [9][Acud Macht
Neu] schon lange verankert ist.
## Neubesetzungen und Überlebenskämpfe
Die klaren Bekenntnisse zu Anti-Rassismus, die das Jahr eben auch zu einem
guten Jahr machten, führten international zu einigen Entlassungen und
überfälligen Neubesetzungen. Aber eben auch zu merkwürdigen
Gleichzeitigkeiten von kolonialen Kontinuitäten und dekolonialen Momenten.
Am gleichen Tag als das New Yorker MET mit [10][Patricia Marroquin Norby]
endlich eine Native American Associate Curator beruft, wird schon die
nächste artnet-Auktion mit Porträtfotografien von Edward Sheriff Curtis
beworben, die lange unter dem Register „Edle Wilde“ gehandelt wurden.
Für die Berliner Kunstwelt war 2020 auch aus anderen Gründen ein
kompliziertes Jahr. Im Frühjahr wurde einmal mehr der Niedergang der
Kunststadt herbeigeschrieben, nachdem mit [11][Friedrich Christian Flick]
und Thomas Olbricht zwei Kunstsammler angekündigt hatten, der Stadt den
Rücken zu kehren, und eine dritte Julia Stoschek in den [12][Chor der
Beschwerden] mit einstimmte – dann aber kleinlaut zurückzog. Viel Schaum
kochte in den Diskussionen hoch, der schließlich doch in sich zusammenfiel
und offenbarte, wo die eigentlichen Herausforderungen liegen.
An der Basis nämlich, bei Kunst- und Kulturschaffenden, Vermittler*innen
und Kreativen, die im Jahr der Pandemie ins Straucheln gerieten, bei
denjenigen, die mit ihrer Arbeit und mit ihren Ideen das Fundament
schaffen, auf der die Attraktivität Berlins aufbaut, in der es sich noch
immer millionen- oder gar milliardenschwere Sammler*innen gemütlich machen.
Ein schlechter Scherz bleibt die Vergabe von Berliner Stipendien im
Lotterieverfahren.
## Verdrängte Standorte und Kunst auf dem Balkon
Im Frühjahr noch träumten nicht wenige vom großen Wandel in der Welt und
der Kunst. Was am Ende des Jahres von den großen Hoffnungen geblieben ist?
Nicht so viel, aber vielleicht das: Das Miteinander unter Berliner
Galerist*innen, das bestätigen die Beteiligten unisono, wurde 2020
gestärkt. Davon zeugen kleinere und größere im Rekordtempo realisierte
Initiativen, von denen freilich nicht alle gleich überzeugen, aber die
immerhin allesamt ein Geist der Solidarität umweht.
In den Wilhelm Hallen jedenfalls schlossen sich eine Reihe Berliner
Galerien zur Art Week zusammen und stellten eine [13][überzeugende
Gruppenausstellung] auf die Beine. Bleibt zu hoffen, dass das von privater
Hand geführte Areal in Reinickendorf sich auch in Zukunft als ein so
zugänglicher Ort der Kunst erweisen wird. Die ebenfalls privat geführten
Uferhallen – nämlich von einem Firmenkonstrukt um Zalando-Gründer Oliver
Samwer – hingegen drohen schon [14][länger als Kunst- und Atelierstandort
verloren] zu gehen. Mit der Ausstellung [15][„Ufer-Manifest“] fuhren im
Herbst nochmals 45 Künstler:innen dagegen auf, laut und gut.
Und als im Frühjahr alles geschlossen war, da brachten in Kreuzberg Johanna
Landscheidt und Lola Göller mit Kunst in [16][Kneipenfenstern] und im
Prenzlauer Berg Övül Ö. Durmusoglu und Joanna Warsza mit [17][Kunst auf
Balkonen] viel Süße ins urbane Zeittotschlagen.
Und wie verbringen wir im jetzigen Shutdown die Zeit? Mit Netzkunst auf
allen Kanälen. Mit Hito Steyerls “Leonardo’s Submarine“ zum Beispiel:
letztes Jahr in Venedig noch ein Virtual Environment, jetzt eine immersive
Bubble für den Heimbildschirm. Oder mit dem kürzlich allein fürs Internet
aufbereiteten Remake der legendären Animismus-Ausstellung im HKW (2012).
Kürzlich staretet auch das Projekt „Coordinates to an Island in No Map“ mit
Diana Troya und Amanda Chartier Chamorro, Teil der Acud-Reihe „Collective
Practices“ samt [18][Film], [19][Diskussionsrunden] und [20][Playlist].
Ebenfalls zum Hören: [21][Cashmere Radio], [22][radio-kal] von
District-Berlin und die „[23][1-54 Forum“]-Talks auf der Contemporary
African Art Fair – London Edition, die diesmal von [24][Julia Grosse und
Yvette Mutumba] kuratiert wurden. Die beiden erhielten dieses Jahr den
„European Cultural Manager of the Year“- Award für ihre Plattform
[25][Contemporary And (C&)]. Ein gutes Zeichen.
31 Dec 2020
## LINKS
[1] https://ccwah.info/de/uber/
[2] /Humboldt-Forum-in-Berlin-eroeffnet/!5733910
[3] /Archiv-Suche/!5520753&s=gouri+sharma+humboldt+forum+berlin&SuchRah…
[4] http://readingsfrombelow.timesartcenter.org/
[5] /Kunsttips-der-Woche/!5727846
[6] https://www.hkw.de/de/programm/projekte/projekt_20465.php
[7] https://www.kulturstiftung-des-bundes.de/de/projekte/archiv/detail/projekt_…
[8] /Dekolonisierung-von-Musik/!5723110
[9] https://acudmachtneu.de/
[10] https://www.metmuseum.org/press/news/2020/patricia-marroquin-norby
[11] /Abschied-von-der-Sammlung-Flick/!5708377
[12] /Kunst-und-Kunstpolitik-in-Berlin/!5684347
[13] /Rueckblick-auf-die-Berlin-Art-Week/!5714556
[14] /Nun-auch-im-Wedding/!5441677
[15] /Berliner-Kunsttipps-der-Woche/!5719595
[16] /Ausstellung-in-Schaufenstern/!5683261
[17] /Kunstaktion-auf-Balkonen-in-Berlin/!5675346
[18] http://collectivepractices.acudmachtneu.de/2020/12/07/coordinates-to-an-is…
[19] http://collectivepractices.acudmachtneu.de/2020/12/07/coordinates-to-an-is…
[20] http://collectivepractices.acudmachtneu.de/2020/12/07/coordinates-to-an-is…
[21] https://cashmereradio.com/
[22] http://www.district-berlin.com/de/radio-kal-tooling1-radio-editing-2/
[23] https://www.1-54.com/london/
[24] /Kunsthistorikerinnen-zu-Diversitaet/!5735737
[25] https://contemporaryand.com/
## AUTOREN
Sophie Jung
Noemi Molitor
Beate Scheder
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