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# taz.de -- Rechte Gewalt, Notwehr und Nothilfe: Danke, Antifa
> Wer im Kampf gegen Rechts die Parole „Keine Gewalt“ zitiert, lässt
> Neonazi-Opfer im Stich. Die Gewalt, die sie erfahren, wird so nicht
> verhindert.
Bild: Manches geht auch friedlich: 2000 Menschen blockieren eine Nazi-Demo in L…
Am 25. Oktober 2010 wurde Kamal K. gegenüber vom Leipziger Hauptbahnhof
ermordet. Er wurde von zwei Neonazis angesprochen, die ihm dann ein Messer
in den Bauch rammten. Der Haupttäter, Marcus E., war erst zehn Tage vorher
aus dem Gefängnis entlassen worden, wo er wegen Vergewaltigung in drei
Fällen, gefährlicher Körperverletzung in fünf Fällen und Körperverletzung
in zwei Fällen einsaß. Laut der Staatsanwaltschaft hatte er den Schriftzug
„Rassenhass“ und Hitlerbilder als Tattoos. Wegen Mordes wurde er [1][zu 13
Jahren Gefängnis verurteilt].
Das staatliche Gewaltmonopol hat Kamal K. damals nicht geholfen. Und wer
angesichts der zahlreichen Gewaltaufrufe der AfD und anderer rechter
Gruppen nur mit „Keine Gewalt“ und Justizgrundsätzen reagiert, verkennt,
dass sich der Mörder von Kamal K. nicht um solche Grundsätze scherte und
diese Gewalt gegen Menschen sehr wohl existiert. „Keine Gewalt“ ist
angesichts der Tatsache, dass zahlreiche Menschen heute in Deutschland
Gewalt ideologisch befürworten und sie auch ausführen, eine naive Parole.
Es gibt sicher unzählige andere Geschichten wie die von Kamal K. Ich hebe
seine hervor, weil sie meine hätte sein können. Als Kamal K. ermordet
wurde, habe ich noch in Leipzig studiert und bin regelmäßig aus Berlin
gependelt, um an Seminaren teilzunehmen. Ich hätte Kamal K. sein können,
ein erstochenes Opfer vorm Hauptbahnhof. Als ich eines Tages in die Tram zu
meiner Unterkunft stieg und ein großer bulliger Mann mich mit einem immer
wiederkehrenden „Fidschi! Fidschi! Fidschi!“ verfolgte, dachte ich schon,
es sei so weit. Aber er wollte nur einen Sticker der NPD an mein Fenster
kleben.
In Leipzig und Sachsen war die NPD damals für die rechte Szene tonangebend.
Heute ist sie bedeutungslos, ihre Nachfolgerin, die AfD, aber umso
einflussreicher. AfD-Politiker*innen haben sich dafür ausgesprochen,
Menschen an der Grenze zu erschießen (Beatrix von Storch), Politiker zu
„jagen“ (Alexander Gauland), Angela Merkel zu „erlegen“ (Nicolaus Fest)…
Menschen in anderen Ländern zu „entsorgen“ (Alexander Gauland),
Journalist*innen an die Wand zu stellen (Holger Arppe) und politische
Gegner aus Hubschraubern zu werfen (Thorben Schwarz) und sie haben sich
Terroranschläge (Arvid Samtleben) gewünscht. Seit mehreren Jahren
verbreitet die AfD eine Rhetorik der Gewalt, die mindestens so übel ist wie
zuvor die der NPD.
## Wenn Gewalt immer eine Möglichkeit ist
Ich habe mich damals innerlich auf meinen Tod durch Neonazis vorbereitet.
Für andere mag „Keine Gewalt, niemals“ heute nach einer sinnvollen Position
klingen. Meine ist es nicht. Kamal K. und der Neonazi aus der Tram waren
auch nicht das erste Mal, dass ich mich konkret auf rechtsextreme Gewalt
eingestellt habe. Schon deshalb ist „Keine Gewalt“ eine absurde Parole –
ich musste mich immer wieder mit der Gewalt beschäftigen. Sie war immer da,
zumindest als mögliches Schicksal.
Ich habe im Leipziger Osten gelebt, wo 2008 die rechtsextreme
[2][Kameradschaft „Freie Kräfte Leipzig“] ihr Unwesen trieb. An unser etwas
heruntergekommenes Haus an einer Straßenkreuzung malten sie [3][ein großes
Hakenkreuz], das von Linken umgehend mit dem Schriftzug „Nie wieder
Deutschland“ übermalt wurde. Die Neonazis eskalierten ihre Drohgebaren:
Ihre [4][nächste Demonstration] führten sie an unserem Haus vorbei, die
Kundgebung planten sie direkt davor. Als wir der Stadt gegenüber
protestierten, hieß es, es sei ja nicht erwiesen, dass die Demoanmelder
auch diejenigen wären, die das Hakenkreuz gemalt hätten.
Das Haus hat sich damals organisiert. Als die Neonazis auf der Kreuzung vor
unserem Haus aufmarschierten, lief lautstark Clownsmusik; als sie
versuchten zu sprechen, eine Playlist antifaschistischer Rockbands. Erst
als die Polizei in unseren Keller eindrang und die Stromsicherungen
zerstörte, konnten die Kameradschaftsnazis ihre Kundgebung abhalten – die
Polizisten wurden trotz unserer Anzeige nie für die Sachbeschädigung
belangt. Die Rache der Neonazis kam bald: In einer Nacht [5][drangen sie
ins Haus ein] und versuchten, unsere Nachbarin im Erdgeschoss zu
überfallen. Sie und ein Freund, der zu Besuch war, stemmten sich gegen die
Tür und verhinderten so, dass sie körperlich verletzt wurden.
Die Polizei hat es damals nicht geschafft, auf irgendeine Weise für unsere
Sicherheit zu sorgen. Ganz anders die Leipziger Antifa-Szene: Eine
300-Menschen-Demo stellte sich vor unser Haus und rief die alte Parole
„Alerta, alerta, antifascista“ in den Stadtteil. In unserem Hausflur
hielten nachts schwarz gekleidete Männer mit Schlagstöcken Wache, und ich
konnte schlafen. Wir hörten Gerüchte, dass die Anführer der Kameradschaft
überfallen und verprügelt worden seien und ihre Telefone gestohlen und
ausgewertet. Ob das stimmt, weiß ich nicht, aber unser Haus wurde nicht
wieder von den Neonazis heimgesucht.
„Keine Gewalt“ hat uns damals nicht geschützt. Meine Nachbarin aus dem
Erdgeschoss war traumatisiert und zog aus. Ich meldete mich bei meinem
Kampfsportlehrer und bat um Vollkontakt-Straßenkampftraining. In den
nächsten Monaten ließ ich mich wöchentlich von Kampfsportlern verprügeln:
mal von einem 2-Meter-120-Kilo-Schrank, mal von einem fortgeschrittenen
Schwarzgurt in meiner Gewichtsklasse. Wir trugen Handschützer, sonst war
nichts verboten. Ich durfte das gelbe Quadrat auf der Trainingsfläche nicht
verlassen und musste zwei Minuten durchstehen. Ich habe nie mehr als 30
Sekunden geschafft.
## Erste Priorität: Sicherheit!
Mein Trainer fasste die Lektionen so zusammen: Wenn dich Nazis überfallen,
lauf weg. Wenn du in die Enge getrieben wirst, lauf weg. Wenn du kämpfen
musst, lauf bei der ersten Gelegenheit weg. Wenn das alles nicht geht,
erledige deinen Angreifer innerhalb von 30 Sekunden. Ein Nachbar, der sich
mit gewaltfreier Konfliktbewältigung beschäftigte, pflichtete ihm bei:
„Erste Priorität ist immer, dass du unübersichtliche Situationen verlässt
und dich in Sicherheit bringst.“
Ich kaufte mir Pfefferspray. „Stress mit den Rechten?“, fragte der
Verkäufer. „Noch nicht“, antwortete ich. Erst Jahre später merkte ich, da…
ich da schon längst in einer Ausnahmesituation lebte.
Der Staat, der über das Gewaltmonopol wacht, konnte die Gewalt gegen uns
damals nicht verhindern und sie auch nicht bestrafen. Er hat meine
Nachbarin im Stich gelassen und mich auch. „Keine Gewalt“ hieß nicht, dass
wir keine erlebten, sondern nur, dass wir für unseren eigenen Schutz
zuständig waren. Erst wenn uns Gewalt angetan wurde, wurde der Staat tätig.
Doch selbst dann gibt es unzählige Beispiele von rechtsextremer
[6][Unterwanderung in den Behörden], von [7][Blindheit der Polizei im
Umgang mit rechtem Terror] oder von [8][Verschleppung von Prozessen] und
[9][Verharmlosung rechter Gewalt durch die Justiz].
Was damals in Leipzig geholfen hat, war Gewalt: die Androhung von Gewalt
durch Antifaschist*innen, die fortan häufiger in den Leipziger Osten kamen
und dort ein Ladenkollektiv eröffneten, und die tatsächliche Gewalt, die
sie gegen organisierte Rechtsextremisten ausübten. Und gegen das Restrisiko
sorgte ich selbst vor, indem ich mich intensiv mit Gewalt beschäftigte.
Mir und vermutlich auch den Antifas wäre es sicher lieber gewesen, sie
hätten nicht zuschlagen müssen und dass der Staat, der sich seit seiner
Gründung zumindest rhetorisch vom Faschismus abgrenzt, die Mittel gefunden
hätte, Neonazistrukturen selbst zu zerschlagen. Hätte Marcus E. am
Leipziger Hauptbahnhof jemals auf den Ausruf „Keine Gewalt“ gehört? Wohl
kaum, dafür war er schon zu verloren – doch Gewaltmonopol und Justiz haben
ihn nicht unschädlich gemacht.
Was wäre geschehen, wenn er täglich nach seiner Knastentlassung von einer
Antifa-Sportgruppe aufgesucht worden wäre? Wäre Kamal K. dann noch am
Leben? Wäre es das wert gewesen, sein Leben gegen Marcus E.’s körperliche
Unversehrtheit zu tauschen? Und kann Nothilfe präemptiv sein?
## Eine Partei, die Gewalt ideologisch rechtfertigt
Frank Magnitz hat auf Facebook [10][mehrere Bilder gepostet, die Gewalt
befürworten]. Auf einem ist die Bundeskanzlerin mit einem blauen Auge zu
sehen, auf dem anderen liegt eine unförmige fleischfarbene Masse auf dem
Boden – „Merkel gestürzt?“, schreibt Magnitz dazu. Beide Bilder haben ei…
gewisse Poesie. Vergangene Woche lag Magnitz [11][nach einem Überfall]
ähnlich auf dem Boden und trug dann ein ähnliches blaues Auge durch die
Medienlandschaft.
Und selbst wenn Magnitz nicht selbst körperlich gewalttätig ist – als Teil
einer Partei, die politische Gewalt befürwortet und sie ideologisch
rechtfertigt, trägt er mit dazu bei, dass Deutschland seit mehreren Jahren
zu einem unsichereren Ort für viele Menschen wird.
So, wie ich ruhiger schlief, weil ein Antifaschist bereit war, für mich die
Nacht durchzuwachen und Gewalt anzuwenden, haben auch Magnitz und seine
Parteikolleg*innen Stellvertreter wie Marcus E., die bereit sind, die
angedrohte Gewalt in Taten umzusetzen. Und sie sind dazu bereit, die
Sanktionen der Justiz auf sich zu nehmen. „Keine Gewalt“ ist kein Slogan,
auf den sie hören.
(Eine [12][englische Fassung dieses Textes] findet sich hier)
Update 18.01.: In einer früheren Version dieses Textes haben wir
geschrieben, dass Marcel Grauf AfD-Politiker sei und [13][sich einen
Bürgerkrieg wünsche]. Er lässt uns wissen, dass er nicht AfD-Politiker ist
und sich keinen Bürgerkrieg wünscht.
15 Jan 2019
## LINKS
[1] http://www.lvz.de/Leipzig/Lokales/BGH-entscheidet-Urteil-wegen-Mordes-an-Ir…
[2] https://www.chronikle.org/dossier/neonazis-leipzig-freien-kraefte-0
[3] https://www.chronikle.org/ereignis/nazis-greifen-wohnhaus-reudnitz
[4] https://www.chronikle.org/ereignis/nazidemo-reudnitz
[5] https://www.chronikle.org/ereignis/naziangriff-auf-wohnhaus
[6] /Rechtes-Netzwerk-in-der-Bundeswehr/!5548926
[7] /Neonazi-Terrorzelle-NSU/!5097335
[8] /Frueherer-NPD-Mann-erneut-vor-Gericht/!5564401
[9] https://www.sueddeutsche.de/politik/rechtsextremismus-sachsen-anhalt-prozes…
[10] https://twitter.com/PatrickGensing/status/1082952006543831040
[11] /Neues-zum-Ueberfall-auf-AfD-Politiker/!5561196
[12] /Right-Wing-Violence-and-Self-Defense/!5566586
[13] /Urteil-zur-Wochenzeitung-Kontext/!5573132
## AUTOREN
Lalon Sander
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