# taz.de -- Aufwachsen mit Neonazis: Gewalt entstellt den, der sie ausübt | |
> Für den Kampf gegen Rechts ist ziviler Ungehorsam unabdingbar. Er sollte | |
> keine Gewalt einschließen – auch, wenn es schwerfällt. | |
Bild: Der Punk auf dem Land ist eher selten | |
Frühe 1990er Jahre, oberbayerisches Hinterland: Ich flacke im Schlamm, Blut | |
rinnt mir ins Gesicht, Sand in meinen blauen Irokesenschnitt, gefangen im | |
Kreis der Schaulustigen. Die Absätze von Cowboystiefeln hämmern auf mich | |
ein. Der Alkohol in meiner Blutbahn betäubt den Schmerz. Ich wehre mich | |
ausnahmsweise, trete zurück mit meinen Stiefeln mit den roten | |
Schnürsenkeln, halbherzig. | |
Ein anderer Bauernfascho kickt mich mit seinen Turnschuhen in den Magen, | |
der Nazi-Skin brettert mir seine Faust ins Gesicht: Disco-Party in | |
Oberbayern. Nahezu jedes Wochenende. Mal gefällt ihnen mein zerschlagenes | |
Hakenkreuz auf dem Shirt nicht, mal sind es meine bunten Haare. Sie | |
antworten auf meine Worte in ihrer Sprache der Gewalt, mag sein, weil sie | |
keine andere haben. Aber das hilft mir jetzt nicht: Ich liege im Schlamm, | |
der Regen prasselt mir ins Gesicht, wie in Filmen bei Beerdigungen. | |
Gewalterlebnisse, politische: in meinem Leben gibt es viele davon. Sei es | |
durch [1][die rechte Landjugend], sei es durch Nazis oder Polizist*innen. | |
Oder, wenn mir wieder einer drohte: „Du gehörst doch vergast.“ In meiner | |
Jugend weckten mich nahezu jedes Wochenende nicht nur der Kater, sondern | |
auch der Schmerz und die Prellungen. Schmach und Trauer ließen mich | |
hochschrecken, weil meine Gewaltlosigkeit nicht gesiegt hatte. | |
Was sich absurd anhören mag, denn damals war ich ein politischer Punk. So | |
absurd, wie diese Gesellschaft, in der am lautesten nach Gewaltlosigkeit | |
brüllt, wer sie – indirekt, gewiss – über das staatliche Gewaltmonopol | |
ausübt, häufig brutal und gern und gerade in Bayern. Nicht wenige, die mich | |
einst „gefotzt“ haben, sind heute in der CSU, der AfD. In Isen, wo ich | |
aufgewachsen bin, sind das die beiden am häufigsten gewählten Parteien. | |
## Mit Polizei-Knüppeln gegen Trillerpfeifen | |
Das Derbe ist Teil der bayerischen (politischen) Kultur, die vor allem | |
durch die CSU geprägt ist. Das hätte ich 1992 erleben können, wenn ich zu | |
meiner ersten Demo, der gegen den Weltwirtschaftsgipfel, nach München | |
gefahren wäre. Mein Papa verbot es mir damals – und ich hielt mich noch | |
daran. In München wurden Demonstrierende stundenlang eingekesselt und vom | |
brutal-berüchtigten Polizei-Unterstützungskommandos (USK) geknüppelt, weil | |
sie mit Trillerpfeifen ihren Protest ausdrückten. | |
Danach mackerte Ministerpräsident Streibl: „Wenn einer glaubt, sich mit | |
Bayern anlegen zu müssen, dann muss er wissen, dass hartes Hinlangen | |
bayerische Art ist.“ Durch Macht lässt sich bequem vom Schreibtisch aus | |
strukturelle, blütenweiße Gewalt ausüben. Gegen politische Gegner*innen wie | |
gegen Minderheiten. | |
Was also, wenn ich den kernig-braunen Bauernsöhnen damals in Isen nicht nur | |
in meiner, sondern in ihrer Sprache der Gewalt geantwortet hätte? Wenn ich | |
FCK NZS und FCK CSU in die Tat umgesetzt hätte? Hätte ich dann in Ruhe mein | |
Bier trinken können, hätten sie mich dann verstanden? Hätte ich mehr oder | |
überhaupt etwas bewirkt? | |
In meinem ersten Roman, „Mutterkorn“, hinterfragt der Protagonist Albin | |
seine Gewaltlosigkeit erstmals 1992 während des Pogroms von | |
Rostock-Lichtenhagen. Als der Nazi-Mob gemeinsam mit Extremist*innen der | |
Mitte vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt) wütet. Die | |
Polizei greift nicht ein. Nur durch ein Wunder sterben keine Menschen. | |
## Isen und die Faschisten | |
Die Einzigen, die sich den Nazis in den Weg stellen, [2][sind junge | |
Antifaschist*innen], die von der Polizei geknüppelt und festgenommen | |
werden. Albin resümiert: „Morgen würde er zuschlagen, vielleicht sogar | |
Steine werfen müssen, auch wenn es gegen seine Prinzipien war.“ | |
„Der Krieg wird’s mir bringen: das Große, Starke, Feierliche“, fabuliert | |
dagegen der Rechtsterrorist Keilhofer in meinem Roman „Fronten“. Der Satz | |
ist angelehnt an Gedanken des Schriftstellers Ernst Jünger. Er zählt mit | |
Oswald Spengler, dem Autor des Bestsellers „Der Untergang des Abendlandes“, | |
zu den Ikonen der Neuen Rechten und ist schon mal auf einem Shirt der | |
hippen „Identitären Bewegung“ zu sehen. | |
Während der Recherchen zu meinem neuen Roman habe ich entdeckt, dass | |
Spengler regelmäßig in Isen war. Besucht hat er den Forstrat Georg | |
Escherich, den Begründer der Einwohnerwehr Orgesch, aus dessen Dunstkreis | |
vor knapp 100 Jahren etliche Fememorde an Linken und sogenannten Verrätern | |
begangen wurden. Nachweisen konnte man ihm das nie, aber alle wussten oder | |
ahnten es. | |
Nach Escherich ist eine Straße in Isen benannt, an seinem Grab vorbei bin | |
ich als Kind in die Kirche gegangen. Als ich kürzlich davorstand, sagte | |
eine Frau im Vorübergehen: „Eine alte Gschicht, gell.“ Escherich bewunderte | |
Benito Mussolini, Oswald Spengler hätte ihn gerne als Führer gesehen: | |
Faschisten eben. Diktator des Deutschen Reiches wurde aber dann kein | |
Forstrat aus Oberbayern, sondern ein Maler aus Österreich. Dem Escherich | |
den Weg freigeschossen hatte. | |
## Gewalt darf sich nicht hochschaukeln | |
Ähnlich menschenverachtend agieren heute die AfD und Teile der CSU, sie | |
gerieren sich als Opfer der Linken und ihrer Meinungsdiktatur, obwohl sie | |
diejenigen sind, die einen gewaltvollen Staat wollen oder verwalten. Darum | |
muss jede Aktion gegen sie wohldurchdacht sein. Also genau das Gegenteil | |
von testosterongeleitetem, militantem FCK-AfD-Aktivismus. Denn sonst | |
besteht die Gefahr, dass sich die Gewalt hochschaukelt. Und eben nicht nur | |
den verletzt, verändert, abschreckt oder bekehrt, der sie erleidet; sondern | |
auch den entstellt, der sie ausübt. | |
Das wusste schon der vor 150 Jahren geborene Fritz Oerter. Durch Zufall bin | |
ich auf seine Tagebücher und Schriften gestoßen. Wie ich heute weiß, lebte | |
er im mittelfränkischen Fürth. Er begriff sich als Anarchosyndikalist, war | |
u. a. Bibliothekar, Schriftsteller und Kriegsgegner. Er kritisierte die | |
Marxist*innen, weil sie „auf die Gewalt der Waffen vertrauen, auf dieselbe | |
Gewalt, auf welche sich die Bürgerlichen ebenfalls stützen“. Gewalt war für | |
ihn in jeder Form „Unkultur“. | |
So schrieb er 1920 in seinem Text „Gewalt oder Gewaltlosigkeit? Vom Wesen | |
der Gewalt und ihren Mitteln“: „Es entspricht ganz dem unzulänglichen, | |
menschlichen Wesen, dass gerade diejenigen, die unter der Gewalt am meisten | |
leiden, selbst wiederum am ehesten geneigt sind, anderen Gewalt anzutun“, | |
worunter er auch indirekte Formen subsumierte, wie „Lohndrückerei“ – all… | |
eben, was Menschen gefügig machen soll. | |
## Der Kampf für eine gerechtere Welt | |
Für mich heißt das, dass die soziale Frage ein wichtiger Bestandteil des | |
Kampfes für mehr Gerechtigkeit und somit gegen rechts darstellt. Ebenso | |
wichtig ist die Entlarvung menschenverachtender Sprache. Man darf es nie | |
durchgehen lassen, wenn Flüchtende als „Flut“ oder „Tsunami“ bezeichnet | |
werden, weil sie dadurch zu einer Naturkatastrophe erklärt und somit | |
entmenschlicht werden. Zivilen Ungehorsam halte ich für eine der | |
zielführendsten Aktionsformen, weil er das Gegenüber nicht entmenschlicht, | |
sondern Macht ausübt durch Nichtkooperation, Nichtmitmachen. | |
Fritz Oerter starb 1935 nach seiner Haftentlassung, vermutlich an den | |
Misshandlung durch die SA. Den Holocaust musste er nicht mehr miterleben. | |
Vielleicht würde er in der Gewaltfrage heute anders denken, vielleicht auch | |
nicht. Wenn man unmittelbar von rechtem Terror betroffen ist, ist die Frage | |
der Gewalt praktischer Natur, manchmal sogar eine des Überlebens. Trotzdem | |
denke ich wie er, dass das Ziel einer gewaltfreien und gerechteren Welt in | |
den Mitteln schon vorhanden sein sollte – auch im Kampf gegen rechts. | |
10 Mar 2019 | |
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## AUTOREN | |
Leonhard F. Seidl | |
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