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# taz.de -- Neonazi-Terrorzelle NSU: Fatale Fehleinschätzung
> Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe fehlten Unterstützer, schrieb der
> Verfassungsschutz 2004 in einem internen Papier. Da hatte der NSU schon
> fünf Menschen ermordet.
Bild: Wirkungsvolle Unterstützerszene? Der Verfassungsschutz hielt dies nicht …
BERLIN/HAMBURG taz | Die entscheidenden Sätze stehen auf der vorletzten
Seite des Papiers der Verfassungsschützer: „Derzeit sind in Deutschland
keine rechtsterroristischen Organisationen und Strukturen erkennbar“, heißt
es dort.
„Ungeachtet der Tatsache, dass es den ’Bombenbastlern von Jena‘ jahrelang
gelungen war, sich ihrer Verhaftung zu entziehen, gibt es keine
wirkungsvolle Unterstützerszene, um einen nachhaltigen Kampf aus dem
Untergrund heraus führen zu können.“
Eine fatale Fehleinschätzung, wie man heute weiß. Sie stammt aus einer
internen Analyse des Bundesamts für Verfassungsschutz („VS – Nur für den
Dienstgebrauch“) vom Juli 2004, die der taz vorliegt. Mit den
„Bombenbastlern von Jena“ sind Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschä…
gemeint, das Kerntrio des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU), in
deren Garage nach dem Untertauchen 1998 Rohrbomben gefunden wurden.
Zu dem Zeitpunkt, als die Verfassungsschützer aus der Kölner Bundesbehörde
Entwarnung gaben, waren schon fünf Menschen ermordet worden. Fünf weitere
sollten noch folgen. Bei ihren Taten konnten sich die Terroristen durchaus
auf eine „wirkungsvolle Unterstützerszene“ verlassen, die von den deutschen
Geheimdiensten aber nicht erkannt wurde, trotz mehrerer V-Männer im Umfeld
des NSU.
## „Kampf gegen unarische Überbevölkerung“
Dabei war dem Verfassungsschutz durchaus nicht entgangen, dass sich die
rechtsextreme Szene um die Jahrtausendwende bedrohlich radikalisiert hatte.
In seinem 47-seitigen internen Papier über die „Gefahr eines bewaffneten
Kampfes deutscher Rechtsextremisten – Entwicklungen von 1997 bis 2004“
listet er knapp 30 Fälle auf, in denen Neonazis Anschläge und andere
militante Aktionen durchführten oder planten.
Darunter sind bekanntere Fälle wie Kay Diesner, der 1997 auf einen
Buchhändler schoss und auf der Flucht einen Polizisten ermordete, oder die
Anschläge auf die Wehrmachtsausstellung in Saarbrücken im März 1999.
Erwähnt wird auch eine bis heute nicht aufgeklärte Serie von
Brandanschlägen einer „Nationalen Bewegung“ in Brandenburg im Jahr 2000 auf
Imbissbuden türkischer Migranten. „Kampf gegen unarische Überbevölkerung
und Kanackenfraß“, so ein Bekennerschreiben.
Um die Jahrtausendwende stellten die Behörden bei Neonazis immer wieder
Pistolen und Gewehre, Rohrbomben und Strategiepapiere für den bewaffneten
Kampf im Untergrund sicher. Von einem „nicht zu unterschätzenden Arsenal an
Waffen, Sprengstoff und Munition“ schreibt der Verfassungsschutz in seiner
internen Analyse zur Entwicklung der Szene.
Zudem ließen sich mehrere Rechtsextremisten gezielt in Schützenvereinen
ausbilden und besorgten sich mitunter auf legalem Weg Waffen, „um für den
’Tag X‘ ausgebildet und gerüstet zu sein“.
## „Keine Logistik, keine Strategie“
Vor allem in den Jahren 1999 und 2000 hätten sich mehrere „Verdachtsfälle
für einen bewaffneten Kampf“ feststellen lassen. Genau in diesem Jahr haben
sich die zuerst in Chemnitz und später in Zwickau untergetauchten Neonazis
aus Jena weiter radikalisiert: Im September 2000 fingen sie das Morden an.
Einen solchen Untergrundterror von rechts konnte sich der Verfassungsschutz
nicht vorstellen. „Für einen planmäßigen Kampf aus der Illegalität heraus,
wie ihn auf linksextremistischer Seite die ’Rote Armee Fraktion‘ (RAF)
führte, fehlt es derzeit bei Rechtsextremisten nicht nur an einer
Strategie“, heißt es in dem Papier von 2004, „sondern auch an geeigneten
Führungspersonen, Logistik, finanziellen Mitteln sowie einer wirkungsvollen
Unterstützerszene.“
Falls sich doch eine rechtsextreme Gruppe zu Anschlägen entschließen
sollte, dann nur in Form eines „Feierabendterrorismus“, glaubte der
Geheimdienst. „Mit Anschlägen auf Objekte ist eher zu rechnen als mit
solchen auf Personen.“
Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe tauchen in der Verfassungsschutzanalyse auf
einer knappen Seite auf. Nach ihrem Untertauchen 1998 und dem Fund von
Rohrbomben in einer Garage der drei in Jena hätten sich „keine
Anhaltspunkte für weitere militante Aktivitäten der Flüchtlinge“ ergeben,
heißt es dort lapidar.
## Verfassungsschutz hatte frühe Anhaltspunkte für militante Aktivitäten
Nicht nur aus heutiger Sicht verwundert diese Einschätzung. Nach dem
Bekanntwerden der Morde erstellte das Bundesamt für Verfassungsschutz eine
als geheim eingestufte Chronologie der Suche nach den Untergetauchten. Das
ebenfalls der taz vorliegende Papier belegt, dass die
Verfassungsschutzämter sehr wohl frühe „Anhaltspunkte“ für mögliche
militante Aktivitäten des Trios im Untergrund hatten.
So schrieb der Brandenburger Verfassungsschutz am 11. September 1998 den
Kollegen in Thüringen und Sachsen sowie dem Bundesamt: Der Leiter der
sächsischen Sektion des militanten Neonazi-Netzwerks „Blood & Honour“, Jan
W., soll den Auftrag bekommen haben, die drei mit Waffen zu versorgen – mit
denen diese angeblich einen Überfall begehen wollten.
Im April 2000 berichtete der Thüringer Verfassungsschutz den sächsischen
Geheimdienstkollegen, dass Jan W. für die „logistische Abdeckung von
Versorgungsfahrten für das Trio zuständig gewesen“ sei. Heute ermittelt die
Bundesanwaltschaft gegen ihn und weitere Neonazis aus dem „Blood &
Honour“-Netzwerk, das im September 2000 vom Innenministerium verboten
wurde. Sie sollen den NSU unterstützt haben.
Unter den Verdächtigen ist auch Thomas S., der ebenfalls in der sächsischen
Sektion von „Blood & Honour“ aktiv war. Ihn kannten Mundlos, Böhnhardt und
Zschäpe seit mindestens 1996. Die Gedenkstätte Buchenwald erteilte den drei
Neonazis und Thomas S. Hausverbot, nachdem diese am 1. November 1996 in der
KZ-Gedenkstätte zum Teil in uniformähnlicher Montur aufmarschiert waren und
„die Würde der Opfer und ihrer Angehörigen missachteten“, wie es in den
Schreiben heißt.
Einer der beiden Uwes kritzelte damals in fehlerhaftem Deutsch ins
Besucherbuch: „Ich bin sehr stark enttäuscht über die mangelnde Tolleranz
und das mangelnde Verständnis, welches hier deutschen Besuchern
entgegengebracht wird.“
In der unter Verschluss gehaltenen Analyse des Bundesamts für
Verfassungsschutz von 2004 taucht das „Blood & Honour“-Netzwerk hingegen
noch nicht mal auf.
## Behörden machen sich untereinander Vorwürfe
Nach dem Bekanntwerden der Taten des NSU gibt es nun Zoff zwischen den
Verfassungsschutzämtern. Niemand will Schuld sein an dem Desaster. In
geheimen Papieren wirft das Bundesamt für Verfassungsschutz dem Thüringer
Landesamt (LfV) vor, sein Wissen verschwiegen zu haben.
Im Nachhinein sei eine „deutliche Zurückhaltung des LfV Thüringen bei der
Übersendung von Erkenntnissen im Zusammenhang mit den drei Flüchtigen“
zwischen 1998 und 2001 zu erkennen, heißt es dort. Dem Bundesamt seien erst
heute Akten bekannt geworden, „die Detailerkenntnisse über die drei
Flüchtigen oder über Kontaktpersonen beinhalten“. Im Thüringer
Verfassungsschutz hieß es auf Nachfrage, man könne als geheim eingestufte
Papiere generell nicht kommentieren.
Fünf Gremien in Berlin, Erfurt und Dresden sollen nun die Versäumnisse der
Behörden im Zusammenhang mit dem NSU-Terror heute aufklären. Ihnen wird
nicht langweilig werden.
29 Mar 2012
## AUTOREN
W. Schmidt
A. Speit
## TAGS
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