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# taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Zwickau, Toulouse und wir
> Ist der Toulouser Mörder nur die Spitze eines muslimischen
> Antisemitismus? Über falsches Gruppendenken und politische Reflexe, die
> in die Irre führen.
Bild: Demonstranten in Paris nach den Anschlägen.
Eigentlich wollte ich über den NSU schreiben, denn die öffentliche
Aufmerksamkeit für den Nazi-Terrorismus ist für mein Gefühl viel zu schnell
abgeflaut. Monatelang haben wir uns in den Mikrokosmos der wechselnden
Bewohner von Schloss Bellevue vertieft wie die Engländer in die Hutsammlung
der Queen. Aber war dies nicht vielleicht auch Flucht vor einer ganz
anderen Beklemmung?
Jahrelang lebten rassistische Mörder unter uns. Es ist zu bezweifeln, dass
bereits alle Helfer gefunden sind; wir kennen noch nicht einmal das volle
Ausmaß der indirekten und direkten (Bei-)Hilfe, die unser Staat geleistet
hat.
Ich wollte also über die Nazi-Mörder in Deutschland schreiben, doch dann:
Toulouse. Wenn irgendwo in der westlichen Welt ein Attentat geschieht,
läuft unter hiesigen Muslimen die stets selbe Folge von drei Reaktionen an.
Zuerst: Entsetzen über die Tat. Dann: Furcht, der Mörder könne ein Muslim
sein (und damit islamfeindlichen Gewalttaten zum Anlass gereichen).
Drittens: Scham darüber, wie schnell sich das Mitleid mit den Opfern in
Sorge um die eigene Sicherheit verwandelt hat.
Beim Verfolgen der Meldungen fragt man sich insgeheim allerdings, was man
eigentlich am meisten befürchtet: dass es eine rechtsextreme Tat war? Oder
wäre es noch „schlimmer“, wenn es die Tat eines Muslims war, die
Rechtsextremismus gegen Muslime erst auslöst?
## Ein anderes Reaktionsmuster
Toulouse hat dieses Reaktionsmuster insofern durcheinandergebracht, als
hier neben „Mehrheitsgesellschaft“ und „muslimischer Minderheit“ eine
dritte Bevölkerungsgruppe explizit betroffen war: die jüdische Minderheit.
Und plötzlich, zum ersten Mal im Laufe all der Jahre seit 9/11, stellt sich
die Frage, ob „wir“ (die Muslime Westeuropas) irgendwie, auf indirektem,
unbeabsichtigtem Wege, mit verantwortlich sind.
Für 9/11 nämlich haben viele Muslime, darunter auch ich, jede
Verantwortung, Mitschuld, ja bereits die Notwendigkeit zum „Distanzieren“
abgelehnt. Ich brauche mich nicht erst von einem Massenmord zu
distanzieren, an dem ich ursächlich keine Schuld habe und bei dem ich
keinerlei ideologische Gemeinsamkeit oder sonstige Verwandtschaft mit den
Tätern empfinde.
Ebenso wenig verlange ich, dass sich hiesige Christen von jedem Verbrechen
eines christlichen Fundamentalisten oder überhaupt von jedem „christlich“
begründeten Schwachsinn distanzieren.
Bei den Morden des NSU jedoch verhält es sich anders: Fremdenfeindliche und
islamfeindliche Einstellungen sind in heutigen westlichen Gesellschaften
endemisch. (Sogar unsere Ausländergesetze sind ausländerfeindlich, selbst
wenn sie heute Zuwanderungsgesetze heißen).
Und was Toulouse betrifft: Nicht nur in der Mehrheitsgesellschaft, sondern
auch unter Muslimen kann man auf einen kaum kaschierten Antisemitismus
treffen. Ist der Toulouser Mörder ebenso die Spitze eines muslimischen
Antisemitismus wie der Nazi-Terror auf der Welle allgemeiner
Ausländerfeindlichkeit reitet?
## Das Fundament der Täter
Natürlich ergeht sich der „normale“ muslimische Antisemitismus nicht in
Mordfantasien, und auch die „normale“ Islamfeindlichkeit der Klein- und
Bildungsbürger begnügt sich mit dem bloß metaphorischen Kampf irgendwelcher
Kulturen.
Der Rassismus und Antisemitismus der großen Masse sieht harmloser aus als
der von Terroristen. Trotzdem kann er das Fundament sein für Täter, die –
ob einzeln oder im Verbund, ob psychisch gestört oder kühl kalkulierend –
nicht ganz zu Unrecht wähnen, dass die Mehrheit einige ihrer Ansichten
teile.
Viele Muslime haben sich solche Fragen seit letzter Woche gestellt. Auf
islam.de hat Muhammad Sameer Murtaza ausführlich diskutiert, ob die
Theologie des Islams inhärent antisemitisch sei, und ist zu der Antwort
gelangt: Sie ist es nicht.
Dennoch ist vieles von dem, was türkischstämmige Muslime äußern, wenn sie
„unter sich“ sind, schlicht antisemitisch. Die Art, wie manche Muslime über
Israel reden, folgt exakt dem generellen Muster des zeitgenössischen
westlichen Tabubrecher-Rassismus: „Man darf es ja leider nicht laut sagen,
aber …“
## Ein hypothetisches „Kann“
Doch ist es nicht besser, offen auszusprechen, was der Fall ist – statt
gehässig das nachzuraunen, was eben nur Vorurteil ist? Ja, der Staat Israel
begeht an den Palästinensern Menschenrechtsverletzungen, die weder durch
die Geschichte des jüdischen Volkes noch durch die tatsächlich brenzlige
Lage Israels im Nahen Osten zu rechtfertigen sind.
Aber: Man kann dies sagen, ohne gegen „die Juden“ zu wettern. Man kann den
Kurs von Israels Hardlinern kritisieren, ohne eine Theorie der
Weltverschwörung zu bemühen. Tatsächlich können wir von Menschen, die das
deutsche Schulsystem durchwandert haben, erwarten, dass sie politische
Aussagen tätigen, ohne sich verzerrter Verallgemeinerungen über „die da“
und „uns“ zu bedienen.
Dieses Kann ist hypothetischer Natur. Es wäre zu erwarten, aber oft genug
geschieht es nicht. Wir denken ständig in Gruppen, und von Individuen
vorrangig als Vertretern „ihrer“ Gruppen. Fast automatisch denken wir dabei
in strategischen Kategorien: „Wie stehen wir Muslime jetzt wieder da?“,
„Ashton hat von der Ermordung palästinensischer Kinder gesprochen, also ist
sie Antisemitin“, „Jetzt geht’s gegen uns Muslime!“, „Wir Deutschen d…
ja nicht mal Kritik üben.“
Wir handeln dabei aufgrund lange eingeübter politischer Reflexe, aber diese
Reflexe führen uns in die Irre, egal auf welcher Seite. Ja, welche „Seite“
ist es denn überhaupt, wenn in Toulouse Kinder und Erwachsene von einem
Fanatiker ermordet werden? Welche „Seite“ muss denn Angst haben, wenn ein
Blumenhändler auf offener Straße erschossen wird?
Da gibt es keine Seiten, keine geschlossenen Gruppen. Wir alle gehören
vielen Gruppen gleichzeitig an, wir haben nicht eine Identität, sondern
unsere Identität hat viele Aspekte. Auf vielfältigste Weise sind wir alle
in die Denk- und Handlungsmuster unserer Gesellschaften verwoben, und daher
sind auch Fragen von Mitschuld und Verantwortung viel komplexer, als
simples Gruppendenken zu fassen vermag.
28 Mar 2012
## AUTOREN
Hilal Sezgin
## TAGS
Schwerpunkt Rechter Terror
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