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# taz.de -- Unerwünschte Folgen des Reisens: Warum Touristen die Welt zerstör…
> Der Massentourismus setzt Menschen und Umwelt immer härter zu. Was wir
> brauchen, ist eine radikale Reform des Reisens.
Bild: Die kleinen Alltagsfluchten summieren sich zu einer weltweiten Wanderbewe…
„Gute Reisende sind herzlos“, schrieb Elias Canetti vor 50 Jahren. Der
Schriftsteller hatte bei einem Marrakeschbesuch mit unverhohlenem Interesse
blinde Bettler beobachtet. Obwohl in seiner Beschreibung noch die
ursprüngliche Faszination durchscheint, spiegelt sie auch das Erschrecken
über das eigene respektlose Verhalten.
Ein weitaus stärkeres Erschrecken müsste eigentlich heutige Touristen
befallen. Denn ein „guter Reisender“ lebt nun mit ungleich größeren
Widersprüchen. Auch er unterhält jenes konsumistische Verhältnis zu seinem
Gastland und dessen Attraktionen, für das Canetti sich schämte. Aber heute
haben ein verschärfter Wettbewerb und eine massive Beschleunigung längst
Lohnarbeit und Lebenswelt erfasst. Für das Hotelpersonal am Urlaubsort gilt
– wie für viele Individuen generell –, „dass wir immer schneller laufen
müssen, um unseren Platz in der Welt zu halten“, wie der Soziologe Hartmut
Rosa treffend schreibt.
Dem gestressten Personal tritt also der getriebene Reisende gegenüber, der
in den Urlaub hetzt – und den schnellen Weg per Flugzeug wählt. Das aber
fordert einen hohen Preis: Jenes Elend, das Canetti so ungebührlich
reizvoll fand, droht durch den massenhaften Tourismus noch verschärft zu
werden. Denn jeder Ferienflieger verstärkt mit seinem CO2-Ausstoß den
Klimawandel und trägt so zur Zerstörung jener natürlichen Räume und Städte
bei, um derentwillen die Reisenden aufbrechen.
Mittlerweile entfallen auf den Tourismus acht Prozent der weltweiten
Treibhausgasemissionen. Tendenz steigend, denn die Branche wächst:
Sieben Milliarden Urlaubsreisen wurden 2017 weltweit verzeichnet, davon 1,3
Milliarden ins Ausland. Für dieses Jahr wird nochmals ein Anstieg um fünf
Prozent erwartet. Fernreisen verkaufen sich überall dort, wo eine
Mittelschicht existiert – oder gerade entsteht. Am meisten zieht es nach
wie vor Deutsche, US-Amerikaner und Briten in die Ferne. Auf dem vierten
Platz folgen bereits die chinesischen Touristen, und der stärkste Zuwachs
zeigt sich in aufstrebenden Schwellenländern wie Brasilien oder Indien.
## Jeder Ferienflieger verstärkt den Klimawandel
All die kleinen Alltagsfluchten, die sich zu einer weltweiten
Wanderbewegung summieren, geschehen zu einer Zeit, da die Folgen des
Klimawandels vielerorts zerstörerische Wucht entfalten. Kapstadt hat Anfang
2018 den Wassernotstand ausgerufen. Und das legendäre Great Barrier Reef
ist schon jetzt so geschädigt, dass die australische Regierung ein
Rettungsprogramm aufgelegt hat. Dieser Verlust trifft die Reisenden jedoch
an letzter Stelle. Sie profitieren vom perversen Luxus, die Umweltfolgen
ihres Tuns ausblenden zu können. Nach dem Urlaub kehren sie ins gemäßigtere
Klima jener Länder zurück, die am ehesten über die Finanzmittel verfügen,
um sich den Gegebenheiten auf einem erhitzten Planeten anzupassen. Für ihre
Gastgeber im globalen Süden geht es hingegen oft buchstäblich um alles.
In anderer Form zeigen sich die unerwünschten Auswirkungen des Reisens,
wenn Strände zu Partymeilen werden oder Innenstädte zu Themenparks
verkommen. Der Andrang ist allerdings vielerorts politisch gewollt.
Insbesondere Schwellen- und Entwicklungsländer bauen auf Einnahmen aus dem
Tourismus. So will Peru bis 2021 doppelt so viele Touristen anlocken wie
bisher, 7 Millionen pro Jahr. Vietnam möchte jährlich 13 bis 15 Millionen
Reisende beherbergen. Auch für wirtschaftlich gebeutelte Eurostaaten wie
Griechenland oder überschuldete Metropolen wie Berlin ist das Gastgewerbe
ein Wachstumsmotor.
Die Schattenseiten des Booms zeigen sich im Lebensalltag der Einheimischen:
Auf dem Markusplatz in Venedig, den Ramblas in Barcelona oder der
Simon-Dach-Straße in Berlin ist zu bestimmten Tageszeiten kaum ein
Durchkommen. Viele Individualreisende gehen bereits neue Wege. Auf der
Suche nach dem Authentischen mieten sie sich per Airbnb ein Altstadtzimmer
auf Zeit – und machen die Lage für die Ortsansässigen nur noch schlimmer.
In Spanien klagt man analog zur Gentrifizierung schon über
„turistificación“. Man braucht die Touristen, aber man hasst sie auch.
In vielen Urlaubsgegenden ist die Geduld der Einheimischen erschöpft. In
Barcelona und auf Mallorca hat die Regionalregierung nach Bürgerprotesten
die Touristensteuer erhöht und die Bettenzahl gesetzlich beschränkt. Auch
Städte wie Amsterdam, Paris und Berlin gehen verstärkt gegen die Vermietung
von Wohnraum an Touristen vor. Mancherorts werden keine Hotelneubauten mehr
genehmigt. Diese Gegenmaßnahmen können etwas Entlastung schaffen – den
Drang in die Ferne werden sie nicht gänzlich bremsen. Denn das Reisen ist
mehr als nur Konsum. Dahinter steckt auch eine Antriebskraft, die
elementarer ist als das Geschäft mit Erholung und Alltagsflucht: das
Fernweh.
## Fernweh stillen, einfach wie nie
Dieses Fernweh zu stillen ist so einfach geworden wie nie zuvor.
Gleichzeitig ist das Abenteuer in den letzten 50 Jahren einem routinierten
globalen Flugreisetourismus gewichen. Wo Europäer in den 1930er Jahren kaum
über den nächsten Marktflecken herauskamen (außer als Soldaten im Krieg),
sind Ziele wie Goa oder Marrakesch heute bequem ansteuerbar. Seit es
Billigflieger gibt, ist ein Flug von Berlin nach Rom unter Umständen
günstiger als eine Zugfahrt von Berlin nach Köln – und dauert nur etwa halb
so lang. Die Bequemlichkeit triumphiert nur allzu oft über das schlechte
Gewissen.
Das Reisen ist fundamental demokratisiert worden – auf Kosten ökologischer
Zerstörungen. Doch wozu ist einem sonst die Welt gegeben, wenn nicht, um
sie zu bewahren? Also liegt es nahe, Beschränkungen zu fordern und
durchzusetzen: mit Anlegestopps für Kreuzfahrtschiffe, einem persönlichen
CO2-Budget oder mit einer hohen Kerosinsteuer, die das Geschäftsmodell der
Billigflieger und Pauschalreiseanbieter unmöglich machen würde.
Eine solche Politik wäre ökologisch konsequent, erzeugt aber ein
demokratisches Paradox. Denn wer das Reisen begrenzt, droht in die Falle
des Elitismus zu tappen – vor allem, wenn verteuerte Fernreisen erneut zum
Privileg der Wohlhabenden werden. Ein politisch durchgesetzter Verzicht
träfe zunächst die weniger begüterten Urlauber. Andererseits kollidiert der
Anspruch, jedem das Reisen zu ermöglichen, mit dem ebenso demokratischen
Anliegen, den globalen Tourismus zu begrenzen. Dieses wird etwa von jenen
Mallorquinern vertreten, die das Recht einfordern, über den Charakter ihrer
Insel selbst zu bestimmen.
Ganz massiv kollidieren demokratische Prinzipien aber, wenn die Bewohner
des globalen Nordens mit ihrem CO2-Ausstoß den Bürgern des globalen Südens
die Lebensgrundlage entziehen. Was aus Sicht der Mittelschichten eine
Demokratisierung des Reisens bedeutet, erweist sich für die Armen der Welt
als undemokratisches Vorrecht auf Schädigung des gemeinsamen globalen
Lebensraums. Nicht minder ungerecht stellt sich das aus Sicht kommender
Generationen dar, denen droht, einen verheerten Planeten vorzufinden. Daher
ist eine Beschränkung des Massentourismus unvermeidbar geworden.
## Von Europa nach Peking, bequem per Bahn
Beschränkung ist nötig, Verzicht aber oft ungerecht. Daher sollte nicht das
Reisen an sich infrage stehen – wohl aber das Reisen in seiner derzeitigen
Form. Es muss sich radikal ändern. Kosmetische Korrekturen wie
„CO2-Abgaben“, die Fluggesellschaften in Regenwaldprojekte stecken, reichen
nicht aus. Wir müssen das eigentliche Problem angehen: unseren Umgang mit
Zeit und Entfernung. Billigflieger locken schließlich auch mit der
Verkürzung: Man ist schneller im Urlaub und spart kostbare Freizeit. Damit
unterwirft sich der Reisende noch in den Ferien jenem
Beschleunigungsimperativ, der auch seinen Alltag prägt.
Eine bessere Art zu reisen setzt einen anderen Umgang mit Zeit voraus. Weg
vom schnellen Konsum austauschbarer Zielorte, hin zu bewusstem Genuss – ein
„Slow Travelling“. Das langsame Reisen muss nicht zwangsläufig im
Nahbereich stattfinden: So lässt sich Peking vom europäischen Festland aus
bequem per Bahn erreichen, über Moskau mit der Transsibirischen Eisenbahn,
die obendrein häufiges Aussteigen erlaubt. Welterfahrung als ein Er-Fahren
der Welt.
Eine solche Art des Reisens ist natürlich aufwendiger. Individuelle
Anpassung allein kann also nicht die Lösung sein. Die Bedingungen für eine
andere Art des Reisens müssen nicht zuletzt politisch geschaffen werden.
Die Bahn etwa wäre auch für breite Schichten eine stärkere Konkurrenz zum
Flieger, wenn ihre Tickets günstiger und ihre Angebote besser auf Reisende
zugeschnitten wären, etwa mit mehr Nachtzügen.
Langsames und längeres Reisen für alle – das hieße auch Verlängerung der
Urlaubszeit. Je mehr Zeit zur Verfügung steht, desto eher wächst die
Bereitschaft, auf den Geschwindigkeitsvorteil des Fliegens zu verzichten.
Eine Verkürzung der Jahresarbeitszeit wäre ein wichtiger Schritt weg vom
Wachstums- und Beschleunigungsparadigma.
Mit dem verlängerten Urlaub erführe die Geschichte des Massentourismus ihre
würdige Fortsetzung. Denn nach Adel und wohlhabendem Bürgertum eroberten
die Arbeiter erst dann das Reisen für sich, als Ferien für alle eingeführt
wurden: 1936 garantierte die Volksfront unter dem Sozialisten Léon Blum
erstmals allen Franzosen vier Wochen bezahlten Jahresurlaub. Heute könnten
mehr freie Tage nicht nur für eine andere Gewichtung zwischen Lohnarbeit
und Freizeit sorgen, sondern auch ein anderes Verhältnis zur Welt befördern
– und ein Reisen, das Muße gestattet.
8 Jul 2018
## AUTOREN
Steffen Vogel
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