# taz.de -- Ferienanfang in Berlin: Ab jetzt ticken wir langsam | |
> Endlich Ferien – ab sofort verrinnt die Zeit nicht mehr so schnell. Oder | |
> doch? Das sagt die Wissenschaft zu dieser nur scheinbar banalen Frage. | |
Bild: Die Minuten vergehen langsamer, auch wenn aus der Perspektive der Erwachs… | |
Berlin taz | Heute ist der schönste Tag im Jahr. Der Tag, an dem nicht | |
einmal das blöde Zeugnis stört. Denn es ist der erste Tag in einer schier | |
unendlichen Weite. Sechseinhalb Wochen. Das heißt 45-mal schlafen. 45 Tage | |
voller Sonne hoffentlich, manchmal auch voller Sand. Voller Abenteuer | |
jedenfalls, wie man sie in der Schule im ganzen Jahr nicht erlebt. | |
Das ist es, was viele Eltern heute, am letzten Schultag in Berlin, von | |
ihren Kindern zu hören bekommen werden. Im Stillen werden sie denken: | |
Schatz, es sind doch nur 6 Wochen. Was sind schon 6 Wochen, die gehen doch | |
vorbei wie ein Wimpernschlag. Wie jedes Jahr um diese Zeit, wenn es | |
Sommerferien gibt, werden sie sich fragen: Warum vergeht die Zeit immer | |
schneller, je älter man wird? Was steckt eigentlich hinter diesem fiesen | |
Gefühl? | |
Tatsächlich handelt es sich bei diesem Thema nicht um einen Evergreen für | |
den Small Talk beim Kaffekränzchen, sondern um ein Phänomen, an dem sich | |
bereits viele Wissenschaftler abgearbeitet haben. Zwei, die in diesem | |
Zusammenhang immer wieder zitiert werden, sind die Münchner Psychologen | |
[1][Marc Wittmann] und Sandra Lehnhoff. Für eine Studie befragten sie 500 | |
Personen im Alter von 14 bis 94 Jahren. Wie zu erwarten fanden die | |
Befragten, dass die Zeit umso schneller vergeht, je älter sie sind. Dabei | |
entdeckten Wittmann und Lehnhoff ein Paradoxon. | |
Wer viel erlebt, hat den Eindruck, dass die Zeit verfliegt. Wer sich | |
langweilt, meint oft, dass der Sekundenzeiger stehen geblieben ist. In der | |
Rückschau aber dreht sich dieses Empfinden um: Aufregende Zeiten fühlen | |
sich länger an, langweilige schnurren zusammen. Je mehr Erinnerungen der | |
Mensch an einen Zeitraum hat, desto länger kommt er ihm vor. Und weil | |
Kinder nun mal viele Dinge zum ersten Mal erleben, neu lernen und darum | |
furchtbar aufregend finden, was uns Alten längst zur Routine erstarrt ist, | |
graben sich ins kindliche Gedächtnis auch noch beim allernormalsten Tag auf | |
einer ganz gewöhnlichen Wiese viel mehr Spuren ein als in unseres. | |
## Kinder leben im Hier und Jetzt | |
Es gibt allerdings ein Problem bei dieser Theorie, die Wittmann und | |
Lehnhoff offenbar nicht zu Ende gedacht haben. Schon unsere Urgroßmütter | |
sagten gern, dass Kinder nicht so sehr in Erinnerungen leben, sondern eher | |
im Hier und Jetzt. Nach der bahnbrechenden Untersuchung des kindlichen | |
Zeitverständnisses durch den Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget | |
in den 1950er Jahren haben selbst jene Kinder mit sieben, acht Jahren noch | |
kaum Zeitgefühl, die bereits die Uhr lesen können. | |
Viele denken bis zu diesem Alter, dass große Steine alt sind und kleine | |
Steine jung. Es bringt nichts, sie mit einem „bald“ zu vertrösten, besser | |
sagt man: „Hör noch dreimal dein Lieblingslied, dann ist es so weit.“ Statt | |
„übermorgen“ erklärt man ihnen besser, dass sie noch zweimal schlafen | |
müssen, bis es zur Oma geht. Den meisten Kindern gelingt es erst ab neun, | |
ein Gespür dafür zu entwickeln, wie viel Zeit sie für bestimmte Handlungen | |
benötigen – wie lang es etwa mit dem Rad zur neuen Eisdiele dauert. | |
Anders gesagt: Kinder haben am Abend eher selten das Bedürfnis, auf einen | |
langen Tag zurückschauen zu müssen. Im Gegenteil: Sie weigern sich oft, ins | |
Bett zu gehen mit dem Argument, die Zeit sei viel zu schnell verronnen. | |
Kinder müssten demnach eher das Gefühl haben, dass die Sommerferien im Nu | |
vorüber sein werden. | |
Dieser Grundwiderspruch ist auch dem Berliner Arzt [2][Tom Bschor] von der | |
psychiatrischen Abteilung der Schlosspark-Klinik in Charlottenburg | |
aufgefallen. Auch Bschor hat vor zehn Jahren eine Studie angestellt, | |
allerdings hat er nicht Menschen unterschiedlichen Alters zu ihrem | |
Zeitgefühl befragt, sondern 30 depressive, 30 manische und 30 gesunde | |
Personen. Das Ergebnis: Je gesünder die Menschen waren, desto kürzer kamen | |
ihnen rückblickend die Tage vor. Je kranker sie waren, je intensiver ihre | |
Gefühle, desto länger erschienen ihnen die Tage. „Vielleicht würden Kinder | |
ähnlich fühlen“, sagt Bschor. „Wenn sie wie Erwachsene denken würden.“ | |
Gerade weil sie dies aber so selten tun, hat Bschor eine ganz andere | |
Theorie entwickelt, eine Theorie allerdings, „die ich nicht beweisen kann“, | |
wie er sagt. „Vielleicht muss man das subjektive Zeitempfinden in Bezug auf | |
die subjektive Unendlichkeit denken.“ Anders gesagt: Wenn man einem | |
Fünfjährigen erklärt, dass er den gewünschten Teddy erst zum nächsten | |
Weihnachtsfest bekommt, grenzt das an eine Unverschämtheit. Man verlangt | |
von ihm, dass er ein Fünftel seines bisherigen Lebens darauf wartet. Sagt | |
man dasselbe zu einem Achtzigjährigen, grenzt das vielleicht auch an | |
Unverschämtheit. Allerdings eher, weil dieser Mensch unter Umständen das | |
nächste Weihnachten nicht erleben wird. | |
Ein Kind ist nach sechseinhalb Wochen Sommerferien im Vergleich zu seinem | |
bisherigen Leben deutlich älter geworden. Ein Erwachsener dagegen | |
eigentlich kaum. | |
4 Jul 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.chbeck.de/10262809 | |
[2] https://www.schlosspark-klinik.de/medizin-pflege/psychiatrie/chefarzt.html | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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