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# taz.de -- Kriminologe über schärfere Polizeigesetze: „Absolute Sicherheit…
> Ein Eingriff in die Grundrechte: Der Kriminologe Tobias Singelnstein
> erklärt, was hinter der Ausweitung polizeilicher Befugnisse in vielen
> Bundesländern steht.
Bild: G20-Proteste in Hamburg: „Dass mit Gewehren bewaffnete Spezialeinheiten…
taz: Herr Singelnstein, viele Bundesländer verschärfen derzeit ihre
Polizeigesetze. Warum sehen die Innenminister diese Notwendigkeit?
Tobias Singelnstein: Seit Anfang der 1990er Jahre sind die Polizeigesetze
regelmäßig reformiert worden. Im Prinzip geht es dabei um eine Ausweitung
der polizeilichen Befugnisse, was insbesondere damit zu tun hat, dass die
Rolle der Polizei im Bereich der Sicherheitsproduktion wichtiger geworden
ist.
Warum?
Individuelle Sicherheit, also die Sicherheit vor Bedrohung, Gefahr und
Kriminalität, ist in der Gesellschaft in den vergangenen Jahren immer
wichtiger geworden. Die Menschen haben das Gefühl, in einer unsicheren Welt
zu leben, obwohl wir eigentlich in einer der sichersten Gesellschaften
leben, die wir kennen. Trotzdem fühlen die Leute sich bedrohter als früher.
Die Politik versucht, darauf zu reagieren – unter anderem mit einer
Ausweitung der gesetzlichen Befugnisse für die Polizei. Das Strafrecht kann
immer nur auf Ereignisse reagieren, die schon passiert sind. Deshalb
favorisiert die Politik mit der Ausweitung polizeilicher Befugnisse
zunehmend ein präventives Vorgehen.
Hilft dieses präventive Vorgehen bei der Bekämpfung der Kriminalität?
Das generelle Problem bei diesen Formen der präventiven Intervention ist,
dass man nur sehr ungenau vorhersehen kann, wann und wo etwas passieren
wird. Das heißt: Man greift in Sachverhalte ein, bei denen man nur
vermutet, dass sich vielleicht in Zukunft daraus eine gefährliche Situation
entwickeln könnte. Diese Maßnahmen sind aber immer auch mit erheblichen
Grundrechtseingriffen verbunden. Das ist aus rechtlicher und
rechtspolitischer Sicht sehr problematisch.
In Sachsen beispielsweise kritisiert die Opposition am neuen Polizeigesetz
die Ausweitung der Überwachung. Ist das eines der Probleme, das sie meinen?
Ja, die derzeitigen Reformen sind relativ typisch für die Entwicklung der
letzten Jahrzehnte. Bei der Überwachung haben wir heute im Prinzip alles,
was nach der Strafprozessordnung möglich ist, auch in den Polizeigesetzen –
teilweise sogar noch darüber hinaus. Telekommunikationsüberwachung und
Videoüberwachung sind ein großer Bereich. Ein zweiter Aspekt, den ich für
relativ typisch halte, ist die Vorverlagerung von Eingriffen durch die
Polizei. Eigentlich ist im Polizeirecht für Grundrechtseingriffe
grundsätzlich das Vorliegen einer konkreten Gefahr Voraussetzung. Einige
der neuen Polizeigesetze regeln nun aber Maßnahmen, die sich gegen
sogenannte Gefährder richten, also gegen Personen, bei denen noch keine
konkrete Gefahr vorliegt. Das Wort Gefährder ist irreführend – denn bei
diesen Personen liegt ja gerade noch keine Gefahr vor. Nach den
Neuregelungen der Polizeigesetze sollen jetzt auch schon in dieser
Situation erhebliche Grundrechtseingriffe zulässig sein.
Der SEK-Einsatz bei einer Antifa-Demo in der sächsischen Kleinstadt Wurzen
oder das Agieren der Polizei bei G20 sind Beispiele für ein autoritäres
Auftreten der Polizei, an dem es viel Kritik gab. Würden Sie der These
zustimmen, dass die Polizei in Deutschland zunehmend autoritär agiert?
Autoritär finde ich als Begriff zu pauschal. Man kann aber sagen, dass es
eine Militarisierung der Polizei gibt. Es findet zunehmend eine Ausrüstung
mit Material statt, das man sonst aus dem militärischen Bereich kennt. Und
dieses Material wird in der Praxis auch schneller eingesetzt. Die Beispiele
Wurzen oder G20 zeigen dies – dass mit Gewehren bewaffnete Spezialeinheiten
in solchen Situationen eingesetzt werden, kannte man vorher nicht
unbedingt.
Gibt es Unterschiede zwischen den Bundesländern? Handeln manche besonders
drastisch?
Bayern ist auf eine Art immer Vorreiter, aber generell kann man sagen, dass
die Unterschiede nicht riesengroß sind. Selbst Baden-Württemberg hat sehr
massive Änderungen eingeführt. Auch der Gesetzentwurf in NRW ist sehr
umfassend. Viele Änderungen gehen auf Absprachen in der
Innenministerkonferenz zurück, da entzieht sich kaum ein Bundesland der
allgemeinen Entwicklung.
Es ist also zu erwarten, dass die übrigen Länder mitziehen?
Das ist meiner Meinung nach eine Frage der Zeit. Vielleicht wird man in
Berlin unter Rot-Rot-Grün nicht jede Maßnahme genau so übernehmen, sondern
die ein oder andere Sache rauslassen. Beispielsweise hat Bayern die
zeitliche [1][Obergrenze für den Präventivgewahrsam gestrichen]. Dort kann
man Personen nun theoretisch unbegrenzt präventiv die Freiheit entziehen,
was praktisch den schwersten Grundrechtseingriff darstellt. Das wird aber
sicher nicht in allen Bundesländern genau so kommen oder erst mit
erheblicher zeitlicher Verzögerung.
Sind die BürgerInnen diesen Grundrechtseinschränkungen machtlos
ausgeliefert?
Ich denke, dass zumindest einige der neuen Polizeigesetze beim
Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe landen und überprüft werden. Denn
das, was zum Beispiel in Bayern eingeführt wurde und werden soll, ist
einfach sehr drastisch und verfassungsrechtlich in höchstem Maße
problematisch. Ansonsten ist es auch immer ein bisschen die Frage nach der
politischen Lage.
Soll heißen?
Man muss sich klarmachen, dass das Sicherheitsversprechen, das die Politik
gibt und die Bevölkerung einfordert, eine Illusion ist – es gibt keine
absolute Sicherheit. Man kann die Polizei mit Befugnissen und Ressourcen
ausstatten, wie man möchte. Trotzdem wird man Anschläge nicht
hundertprozentig verhindern können, und es gibt auch keine Gesellschaft
ohne Kriminalität. Ein gewisses Risiko gehört zum Leben dazu. Auf der
anderen Seite sind die weitreichenden Befugnisse, die man der Polizei
einräumt, rechtsstaatlich ein hoher Preis und können selbst zur Bedrohung
werden. Die Befugnisse gestatten der Polizei sehr weitreichende Maßnahmen
unter vageren Voraussetzungen, die dementsprechend von den Gerichten
schwerer kontrolliert werden können. Das sollte man im Auge behalten und
sich als Gesellschaft überlegen, wie weit man bereit ist, zu gehen.
27 Mar 2018
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## AUTOREN
Sarah Ulrich
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