# taz.de -- Aus für Hamburger Kriminologie-Studium: Abgründe erforschen | |
> In Hamburg erforschen Student:innen Verbrechen sozialwissenschaftlich. | |
> Das ist in Deutschland einzigartig. Der Studiengang steht vor dem Aus. | |
Bild: Kriminologische Sozialforscher untersuchen Verbrechen wie Anschläge auf … | |
HAMBURG taz | Warum werden Menschen kriminell? Was sagt Hasskriminalität | |
über unsere Gesellschaft aus? Was hat kriminelles Verhalten mit | |
[1][sozialer Ungleichheit] zu tun? Oder: Wie hat sich der Rechtsterrorismus | |
in Deutschland von der Weimarer Republik bis heute entwickelt? Es sind | |
große Fragen, denen sich der kleine Master-Studiengang Internationale | |
Kriminologie an der Universität Hamburg widmet. Aber nicht mehr lange. Das | |
Studienfach soll eingestellt werden. | |
„Das ist ein großer Fehler. Es ist eine akademische Katastrophe“, sagt der | |
Kriminologe Nils Zurawski, der am Studiengang eine Vertretungsprofessur | |
übernommen hatte und heute Lehrbeauftragter an der Uni und der | |
Polizeiakademie Hamburg ist. Denn sonst ist die Kriminologie in Deutschland | |
ein Teil der Rechtswissenschaften. Die Internationale Kriminologie aber hat | |
als eigenständiger Studiengang einen besonderen Ansatz: Sie denkt | |
Sozialwissenschaften und Rechtswissenschaften zusammen. | |
Diese sozialwissenschaftliche Perspektive der Kriminologie sei in | |
Deutschland einzigartig, sagt Zurawski. In englischsprachigen Ländern | |
hingegen ist es üblich, dass Kriminologie vor allem von | |
Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern betrieben wird. Bis | |
2016 gab es in Hamburg sogar ein eigenes Institut für Kriminologische | |
Sozialforschung – landesweit das einzige seiner Art. Heute ist die | |
Kriminologie ein Fachgebiet des Fachbereichs Sozialwissenschaften. Nun | |
droht auch dem verbliebenen Studiengang das Aus. | |
Dabei sind die Themen, die dort behandelt werden, hochaktuell. Aktuell | |
beschäftigt sich der Studiengang mit der Frage, wie Menschen mit | |
Unsicherheiten umgehen. Es geht dabei um Phänomene wie die | |
[2][Klimakatastrophe], das Erstarken autoritärer Bewegungen oder die | |
Pandemie. „Wir leben in einer Zeit, in der alles scheinbar unsicherer | |
wird“, sagt der Student Jasper Janssen. „Die Angst vor Kriminalität nimmt | |
zu. Jetzt in der Pandemie fragen sich so viele: Wer sind denn diese | |
Querdenker? Wer gehört alles dazu? Und wie gefährlich sind sie? Unser | |
Studiengang versucht, solche Unsicherheiten mit Fakten sichtbar zu machen – | |
und durch Forschung zu entmystifizieren.“ | |
## Universitätsleitung äußert sich bisher nicht | |
Immer wieder sorgt kriminologische Forschung für Schlagzeilen, so etwa | |
[3][die Studie des Kriminologen Tobias Singelnstein von der Bochumer | |
Ruhr-Uni im Jahr 2020]. Darin ging es um mutmaßlich rechtswidrige | |
Polizeigewalt und Rassismus. Damit hat Singelnstein zum noch überschaubaren | |
wissenschaftlichen Erkenntnisstand beigetragen, der bisher zu Rassismus, | |
Gewalterfahrungen und staatlichen Institutionen existiert. | |
Ziel der Kriminologie ist es, Kriminalität besser zu verstehen, um die | |
Ursachen für Verbrechen umfassender erklären zu können. Dabei werde „die | |
Gesellschaft von ihren Rändern und Abgründen, den Verletzungen und | |
Bedrohungen her betrachtet“, so die Beschreibung des Studiengangs im | |
Internet. | |
„Kriminologen sind wissenschaftliche Detektive“, sagt Zurawski. Den Blick | |
richten sie dabei auf normabweichendes Verhalten und die Frage, wie die | |
Gesellschaft darauf reagiert – das variiert nämlich. Denn je nach Ort, | |
Kultur und Zeitpunkt gelten sehr unterschiedliche Normen und damit | |
unterscheidet sich auch das, was als normabweichend gilt. Die | |
Entkriminalisierung von Homosexualität etwa ist ein Beispiel für den Wandel | |
gesellschaftlicher Normen und schließlich des Sexualstrafrechts. | |
Auch Ländervergleiche machen deutlich, wie unterschiedlich Verhalten | |
wahrgenommen und in Gesetzen definiert wird. Deswegen sind | |
wissenschaftliche Erkenntnisse aus anderen Ländern nicht zwingend auf | |
Deutschland übertragbar – was ein gutes Argument für Forschung und Lehre im | |
eigenen Land wäre. | |
Die Universitätsleitung hat sich zum Ende des Studiengangs bislang nicht | |
offiziell geäußert. Christine Hentschel, Professorin für Kriminologie und | |
Programmdirektorin sowie Vorsitzende des Prüfungsausschusses, bestätigte | |
aber vergangene Woche auf Twitter das Aus des Studiengangs. In diesem | |
Wintersemester werden die letzten Studierenden zugelassen, bis 2027 wird | |
der Lehrbetrieb dann sukzessive zurückgebaut. | |
Man habe „seit langem zu wenig Personal und Ressourcen“, schreibt | |
Hentschel, es stünden „keine finanziellen Investitionen in den Studiengang | |
in Aussicht“. Zudem würden zwei Professoren in den kommenden Jahren | |
emeritiert. Kurzum: Es gibt zu wenig Lehrpersonal und zu wenig Geld. Aber | |
warum investiert die Universität nicht in diesen Studiengang? Warum stellt | |
sie nicht neue Lehrende ein, wenn der Personalausfall absehbar ist? | |
Vonseiten der Universität heißt es: „Die Einrichtung und Einstellung von | |
Studiengängen gehört zu den routinemäßigen Aufgaben einer Universität.“ … | |
weiter: „Die Überlegungen zur Kriminologie sind bereits vor ca. drei Jahren | |
abgeschlossen gewesen. Einen Anlass zur Revision dieser und anderer | |
Entscheidungen gibt es zurzeit nicht.“ | |
## Fachschaftsrat bezeichnet Studienaus als Skandal | |
Für den Fachschaftsrat Kriminologie ist die Einstellung des Studiengangs | |
ein „Skandal“, er fordert die „Ausfinanzierung der Lehre“. Die Studiere… | |
haben sich in einer Initiative zusammengetan, die den Erhalt der | |
kriminologischen Sozialforschung und Lehre in Hamburg sichern soll. Der | |
Fachschaftsrat betont den „tiefgreifenden Nutzen“ des Studiengangs, weil | |
die Forschung vielen Gesellschaftsbereichen zugute komme. Kriminologinnen | |
und Kriminologen arbeiteten in den unterschiedlichsten Bereichen, von | |
Forschung und Lehre über die Opferberatung und die Suchtprävention bis zur | |
Lehre bei der Polizei, der Arbeit mit Straftätern oder als Gutachter. | |
Ob der Protest der Studierenden das drohende Ende des Studiengangs noch | |
abwenden kann, ist ungewiss. Fest steht, dass die kriminologische Lehre | |
zukünftig Teil des Bachelor- und Masterstudiengangs Soziologie sein wird – | |
das hat die Universität bestätigt. Aber welchen Stellenwert die | |
Kriminologie dann noch einnehmen wird? Wieder eine Frage in unsicheren | |
Zeiten – damit kennen sich die Kriminologinnen und Kriminologen ja gut aus. | |
24 Jan 2022 | |
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## AUTOREN | |
Viorica Engelhardt | |
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