# taz.de -- Zum Tod des Kriminologen Fritz Sack: Jenseits des Straflustprinzips | |
> Fritz Sack war Vorreiter einer radikalen Kritischen Kriminologie. In | |
> Hamburg gründete er das Institut für Kriminologische Sozialforschung. | |
Bild: War äußerst streitfähig, aber nicht streitsüchtig: Fritz Sack | |
Hamburg taz | Der Vorreiter der Kritischen Kriminologie in Deutschland, | |
Fritz Sack, ist tot. Mit ihm verliert die Wissenschaft einen engagierten | |
Kämpfer für eine sozialwissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit | |
[1][Kriminalität und Kontrolle]. Der von Sack in Deutschland bekannt | |
gemachte [2][Etikettierungsansatz] revolutionierte die bis dahin | |
täterfixierte Disziplin. Er lenkte den Fokus auf die Machtstrukturen und | |
Zuschreibungsprozesse, die Kriminalität erst konstruieren. | |
Geboren wurde Sack 1931 im heute polnischen Stare Czarnowo als Kind von | |
Landwirten. Flucht führte die Familie in die spätere DDR. Er selbst ging in | |
den Westen, wo er eine Ausbildung zum Steuerinspekteur machte, bevor er | |
sich der universitären Welt zuwandte. Soziologie als eigenständiges Fach | |
gab es damals noch nicht. Seit 1960 war Sack verheiratet und wurde Vater | |
dreier Kinder, darunter die [3][Mediengestalterin Janine Sack], als | |
Art-Direktorin für das Redesign der gedruckten taz im Jahr 2017 | |
verantwortlich, und der [4][Journalist Adriano Sack]. | |
Über Kiel kam Fritz Sack nach Köln, wo er später Assistent des Soziologen | |
René König wurde. Forschungsaufenthalte führten ihn nach Columbus an die | |
Ohio State University und die University of California in Berkeley. Sie | |
beeinflussten seine Entwicklung nachhaltig. | |
In Columbus traf er auf eine quantitativ ausgerichtete, positivistische | |
„Kriminologie zum Abgewöhnen“. In Berkeley aber begegnete er 1965/66 der | |
[5][Ethnomethodologie], die untersucht, wie Menschen ihren Alltag und ihre | |
sozialen Interaktionen organisieren und selbst gestalten. Vor allem | |
[6][Aaron Cicourels „Method and Measurement in Sociology“] bezeichnete Sack | |
später als sein „kriminologisches und soziologisches Konversionserlebnis“. | |
Die Auseinandersetzung mit [7][symbolisch-interaktionistischen] und | |
marxistisch-materialistischen Konzepten führte ihn zum | |
Etikettierungsansatz, der die Kriminologie in der Aufbruchstimmung der | |
1960er revolutionierte. Gegenüber der Frage „Warum wird jemand kriminell?“ | |
rückte dieser die gesellschaftsorientierte Frage „Wie und warum wird jemand | |
als kriminell bezeichnet?“ in den Vordergrund: Nicht mehr Kriminalität als | |
angeblich offensichtlicher Tatbestand, sondern die Setzung von Regeln und | |
die Prozesse der Kriminalisierung standen nun im Zentrum. Die Verbreitung | |
dieses Ansatzes in Deutschland ist untrennbar mit Fritz Sack verbunden. | |
Nach seiner Habilitation 1970 in Köln lehrte Sack bis 1974 an der | |
Universität Regensburg, bevor er von 1974 bis 1984 an der Universität | |
Hannover den Lehrstuhl für Deviantes Verhalten und Soziale Kontrolle | |
innehatte. 1984 wechselte er an die Universität Hamburg und übernahm dort | |
den ersten und einzigen soziologisch ausgerichteten kriminologischen | |
Lehrstuhl Deutschlands. Er baute das „Aufbau- und Kontaktstudium | |
Kriminologie“ auf, das später dem heute aufgelösten [8][Institut für | |
Kriminologische Sozialforschung] zugeordnet wurde. | |
Nach seiner Emeritierung 1996 leitete Sack bis 2012 das Hamburger | |
[9][Institut für Sicherheits- und Präventionsforschung (ISIP)]. 1998 wurde | |
er in die neu gegründete (und [10][unter dem Senat von Beust/Schill wieder | |
abgeschaffte) Hamburger Polizeikommission] berufen, wo er seine Expertise | |
in die Reform von Polizeiarbeit einbrachte. | |
Unumstritten war seine Theorie nicht. Seine polemische Ablehnung | |
traditioneller, täterzentrierter Kriminologie führte zu einem | |
Schulenstreit, der die kleine Disziplin spaltete. Kritiker wie Hans Joachim | |
Schneider warfen ihm vor, durch seine kompromisslose Haltung eine der | |
„unfruchtbarsten Epochen“ der deutschsprachigen Kriminologie eingeleitet zu | |
haben. | |
Doch vermutlich ist das Gegenteil richtig und gerade diese Radikalität | |
machte Sack zum Vorreiter einer Kriminologie, die Herrschaftsverhältnisse | |
und soziale Ungleichheiten ins Zentrum stellte. Sein Einfluss zeigt sich | |
auch in der Gründung des Arbeitskreises Junger Kriminologen 1969, der ein | |
Forum für sozialwissenschaftlich orientierte Wissenschaftler:innen | |
schuf, sowie in seiner langjährigen Redakteursarbeit für das bis heute | |
bestehende [11][Kriminologische Journal]. | |
In einem dort erscheinenden Nachruf heißt es: „Wer Fritz Sack je | |
kennengelernt hat, erlebte eine streitfähige, aber nicht streitsüchtige, | |
eine bescheiden, aber entschieden auftretende Persönlichkeit, die bei aller | |
Konzilianz ihre wissenschaftlichen Positionen argumentativ energisch zu | |
behaupten wusste“. | |
Häufig war Sack [12][als Experte auch Gesprächspartner der taz], wo er | |
seine kritischen Analysen einem breiteren Publikum zugänglich machte. Und | |
bis zum Ende blieb er ein [13][eifriger Leser dieser Zeitung], immer am | |
Puls gesellschaftlicher Debatten. | |
## Die Machtstrukturen im Blick | |
Auch wenn Sacks Perspektive manchen heute aus der Zeit gefallen scheint, | |
bleibt sie in einer [14][immer mehr von Straflust geprägten Welt] politisch | |
und wissenschaftlich wichtig: Kriminalität ist wesentlich ein Produkt | |
sozialer Prozesse der Zuschreibung. Ein kritischer Blick auf Kriminalität | |
muss die Machtstrukturen einbeziehen, die solche Etikettierungen | |
hervorbringen. | |
Anfang der 2000er studierten die Autoren dieser Zeilen selbst am Institut | |
für kriminologische Sozialforschung. Da war Sacks radikaler Ansatz einer | |
zweiten Generation der Kritischen Kriminologie gewichen, die zwischen der | |
Analyse, wie Gesellschaft Kriminalität definiert, und der Suche nach den | |
Bedingungen für kriminelles Handeln vermittelte. | |
Mit einem seiner letzten Auftritte als Dozent hat der da bereits | |
Emeritierte aber noch sein Ausrufezeichen gesetzt: Die einzige | |
Kriminologie, die es braucht, ist eine Kriminologie, die sich als kritische | |
Gesellschaftswissenschaft begreift. Fritz Sack starb am 18. August im Alter | |
von 94 Jahren. | |
10 Sep 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Archiv/!s=&Thesaurus=JU08/ | |
[2] https://soztheo.de/kriminalitaetstheorien/herrschafts-und-gesellschaftskrit… | |
[3] https://janinesack.de/ | |
[4] https://www.welt.de/autor/adriano-sack/ | |
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Ethnomethodologie | |
[6] https://openlibrary.org/books/OL5914564M/Method_and_measurement_in_sociology | |
[7] https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/krise-und-sozialisation/240818/… | |
[8] /Uni-Hamburg-knickt-Kriminologie-Studium/!5948866 | |
[9] https://gerit.org/de/institutiondetail/30793 | |
[10] /Die-Dreierkoalition-des-Schreckens/!5623940 | |
[11] https://www.beltz.de/fachmedien/erziehungswissenschaft/zeitschriften/krimi… | |
[12] /Unkontrollierte-Polizei/!5175657 | |
[13] /Tolle-Tochter--betr-quotDer-sanfte-Radikalequot-taz-vom-2110-1995/!132580… | |
[14] https://www.humanistische-union.de/pressemeldungen/lizenz-zur-grausamkeit-… | |
## AUTOREN | |
Robert Matthies | |
Nils Schuhmacher | |
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