# taz.de -- Deutsche Populismusforschung: Die große Feldstudie | |
> Populisten sind eine Gefahr für die Demokratie? Wissen wir noch gar | |
> nicht, entgegnen deutsche Populismusforscher. | |
Bild: „Die Journalisten müssen noch lernen, die Rechtspopulisten zu dekonstr… | |
Der Mann, der sich selbst für den Retter hält, ist ein rassistischer | |
Wutbürger. Alles, was er von sich gibt, schreibt der Spiegel vergangene | |
Woche, ist ein „populistischer Aufschrei gegen die Macht der verkommenen | |
Institutionen.“ Ein „Populist, der dem Volk aufs Maul schaut“, empört si… | |
die Welt. | |
Gemeint ist nicht Donald Trump, der seinen Wahlkampf um den Einzug ins | |
Weiße Haus mit einer schmutzigen Anti-Establishment-Rhetorik führte. Auch | |
nicht der völkisch-nationale Norbert Hofer, der gern als Bundespräsident | |
seine Heimat Österreich beschützen will. Und auch nicht Geert Wilders, der | |
in den Niederlanden Stimmung gegen Marokkaner macht und deshalb wegen | |
Beleidigung einer Bevölkerungsgruppe vor Gericht steht. Gemeint ist – | |
Martin Luther, der mit seiner Kritik am Ablasshandel vor 500 Jahren die | |
Kirche spaltete. Der Reformator ein Populist? | |
Keine Frage, der Begriff hat derzeit Konjunktur. Nicht nur spricht halb | |
Europa über den Aufstieg der Populisten (siehe Kasten). Es ist Mode, seinen | |
Kontrahenten als populistischen Demokratiefeind zu diffamieren. Selbst die | |
EU-Kommission in Brüssel bezeichnet TTIP- und Ceta-Gegner als Populisten. | |
Nur die AfD nimmt die Vorwürfe als Kompliment. Sie will den Begriff wieder | |
positiv besetzen. | |
Doch was genau zeichnet einen Populisten aus? Diese Frage scheint das Land | |
zu beschäftigen. Als die AfD bei den Landtagswahlen im März in drei | |
Regionalparlamente einzog, zählte Google im deutschen Netz so viele | |
Suchanfragen zu Populismus wie noch nie in den letzten fünf Jahren. Die am | |
häufigsten gestellte Frage: Was bedeutet Populismus? | |
## Der Populismus konstruiert einen Narrativ der Betrogenen | |
Die Frage beantwortet Paula Diehl am Telefon. Die Politikwissenschaftlerin | |
an der Berliner Humboldt-Universität beschäftigt sich seit Jahren mit | |
Populismuskonzepten. „Populismus“, sagt Diehl, „ist ein komplexer Begriff, | |
weil er verschiedene Ebenen betrifft: den Kommunikationsstil, die | |
Organisation der Partei oder Bewegung, die Ideologie und das politische | |
Programm.“ Wer den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer als | |
Populisten bezeichnet, meint in der Regel seinen Kommunikationsstil. Dem | |
Wahlvolk nach dem Mund zu reden, darauf könne der Begriff nicht reduziert | |
werden. | |
Denn Populisten behaupten nicht nur, den Willen des Volkes zu kennen, sagt | |
Diehl. Populisten konstruierten immer ein Narrativ, in dem das Volk von den | |
Eliten – etablierte Politiker, Presse, wirtschaftliche Elite – betrogen | |
wird. Diehl nennt das „Narrativ des betrogenen Volkes“: „Ein Retter, eine | |
Partei oder eine Führer erweckt das Volk aus dem Schlaf und führt einen | |
Aufstand gegen die Mächtigen an, um das Volk zu befreien.“ | |
Ähnlich formulieren das andere Politikwissenschaftler. Populisten, schreibt | |
Jan-Werner Müller von der Universität Princeton in seinem aktuellen Buch | |
„Was ist Populismus?“, dulden keinen legitimen Mitbewerber um die Macht. | |
Die anderen Parteien bildeten ein legitimes Kartell, das vom Volk beseitigt | |
werden müsse. Die Bürger, die sie nicht unterstützen, gehören automatisch | |
nicht zum wahren Volk. | |
## Deutschland gegen Populisten gefeit? Ein Irrtum | |
Volk und Antivolk, dieses Gegensatzpaar gehört zum Standardrepertoire von | |
Populisten. Mittlerweile zieht der Appell an das Volk auch in Deutschland | |
wieder. Und das überrascht Parteienforscher. Schließlich haben es in rund | |
60 Jahren Demokratie nur zwei Protestparteien – die Grünen und die Piraten | |
– je in den Bundestag geschafft. Andere wie die Hamburger Schillpartei oder | |
die in Süddeutschland erfolgreichen „Republikaner“ gingen schnell wieder | |
ein. | |
„1989 hatte auch niemand den Fall der Mauer vorhergesehen“, sagt Christian | |
Nestler mit Blick auf die AfD-Wahlergebnisse. Der Politikwissenschaftler | |
von der Universität Rostock beschäftigt sich mit Parteien „am rechten | |
Rand“. Nestlers Forschungspartei ist der weitere Ostseeraum. Er beobachtet | |
die rechtsextreme „Schwedenpartei“ oder die unverhohlen | |
ausländerfeindlichen „Wahre Finnen“. Dass er eine erfolgreiche | |
rechtspopulistische Partei im eigenen Land haben würde, hätte er sich vor | |
zehn Jahren nicht träumen lassen. Nun schreibt er über die populistische | |
Strategie der AfD. „Es war ein Irrtum zu glauben, dass Deutschland als | |
einziges Land der EU vor populistischen Parteien gefeit wäre.“ | |
Als Gründe macht Parteienforscher Nestler die Krisen in Europa aus. | |
„Bankenkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise. Das hat bei vielen Bürgern | |
Ängste ausgelöst und spült nun diejenigen an die Macht, die scheinbar | |
einfache Lösungen anbieten.“ Abschottung gegen die EU, Rückbesinnung auf | |
nationale Identitäten. Der zunehmende Populismus auf dem Kontinent ist für | |
Nestler das Symptom für die grassierende Vertrauenskrise. Ob sich die AfD | |
in Deutschland etabliert? „Das wird erst die Bundestagswahl im kommenden | |
Jahr zeigen.“ | |
## Wie verändert der AfD-Erfolg die Demokratie? | |
Für die Populismusforschung an deutschen Hochschulen beginnt mit dem | |
Aufstieg der AfD eine riesige Feldstudie im eigenen Land – nicht nur an der | |
Uni Rostock. Auch am Göttinger Institut für Demokratieforschung studiert | |
man seit der Landtagswahl im März die Wahlprogramme der AfD. Seit dem | |
Beginn des Wintersemesters vor drei Wochen findet dort erstmals die | |
Lehrveranstaltung „Rechtspopulismus und die AfD“ statt. Jeden Montag | |
spricht Seminarleiter Alexander Hensel mit Bachelorstudenten darüber, was | |
die AfD von früheren rechten Protestparteien unterscheidet – und wie sich | |
ihr Erfolg erklären lässt. | |
„Für mich als Forscher ist die aktuelle Entwicklung der AfD natürlich sehr | |
spannend zu analysieren“, sagt Hensel. „Wir beobachten, ob sich die Partei | |
trotz vieler Widerstände und Probleme bundesweit behaupten kann.“ An | |
„österreichische Verhältnisse“ glaubt Hensel nicht. Aber der Erfolg der A… | |
wird die Demokratie verändern. Nur wie? Darüber streiten Forscher. | |
Einige wie der Politologe Jan-Werner Müller argumentieren, dass Populisten | |
immer antipluralistisch seien – und damit eine Gefahr für die Demokratie. | |
Dem widersprechen andere. „Eine antipluralistische Komponente als Teil | |
einer populistischen Pose findet sich in der Frühphase von Parteien | |
oftmals“, sagt Alexander Hensel. „Entscheidend ist, wie und wohin sich | |
diese dann entwickelt“. Die AfD könne sogar ein Korrektiv für die deutsche | |
Politik sein. Indem sie den etablierten Parteien aufzeigt, wie unpopulär | |
ihre Entscheidungen sind. In der Verschärfung der Asylpolitik könne man das | |
beobachten. | |
## Blick nach Lateinamerika | |
Die Frage, wie die AfD die Demokratie ändert, kann man auch in eine andere | |
Richtung wenden. Wird die AfD demokratischer, wenn sie in Parlamenten und | |
Kabinetten sitzt? Bisher mussten Demokratieforscher für diese Fragen ins | |
Ausland blicken. Etwa nach Lateinamerika, wo populistische Regierungen eine | |
lange Tradition haben. | |
„Diese Frage stellt sich so für Deutschland zum ersten Mal“, sagt | |
Politologin Diehl von der HU. „Populisten an der Macht können zur | |
Demokratisierung führen durch neue Partizipationsmöglichkeiten, oder sie | |
gleiten ins Autoritäre ab wie Hugo Chávez in Venezuela. Oder sie gleichen | |
sich den etablierten Parteien an wie die FPÖ.“ | |
Spricht man mit Populismusforschern in Deutschland, spürt man, dass eine | |
verhaltene Aufgeregtheit herrscht. Einerseits ist man so nah wie nie dran | |
an erfolgreichen Populisten. Andererseits will man keine vorschnellen – | |
unwissenschaftlichen – Schlüsse ziehen. | |
## Der Umgang mit Populisten ist eine riesige Feldstudie | |
Neu beleuchten könnte man vor allem die gesellschaftlichen Komponenten des | |
Phänomens, sagt Dirk Jörke von der TU Darmstadt. Wer sind die Wähler? Die | |
frustrierten Abgehängten oder die verängstigten Wohlstandsbürger? Werden | |
populistische Parteien die neuen Arbeiterparteien? Wie entsteht aus Wut | |
eine soziale Bewegung? Jörke forscht am Institut für Politikwissenschaft. | |
Anfang 2018 soll unter seiner Leitung ein Sondersammelband zu Populismus | |
erscheinen. Jörkes Eindruck ist: Es tut sich was in der deutschen | |
Populismusforschung. „Vieles ist schon erforscht. Aber jetzt kann man | |
empirische Daten sammeln und auch die Perspektive anderer Disziplinen | |
hinzunehmen.“ Wie etwa der Psychologie oder der Soziologie. | |
An der Humboldt-Universität wird das bereits gemacht. Dort richtet das | |
Institut für deutsche Literatur die Veranstaltungsreihe „Populismus und | |
Politik“ aus. In der Auftaktvorlesung sprach der slowenische Philosoph | |
Slavoj Žižek darüber, warum nur die Rechten von der gesellschaftlichen Wut | |
profitieren. Thema der nächsten Veranstaltung: „What are the Emotions of | |
Fundamentalism?“ | |
„Man bräuchte die Öffnung für interdisziplinäre Systeme“, fordert Paula | |
Diehl. Bestimmte Fragen könnten Populismusforscher nicht ohne andere | |
Fachrichtungen beantworten. Etwa die Verbindung zwischen Populismus und | |
Massenmedien. „Der beste Helfer für Donald Trump war CNN“, glaubt Diehl. | |
Und bezogen auf die AfD sagt sie: „Die Journalisten müssen noch lernen, die | |
Rechtspopulisten zu dekonstruieren“. | |
Auch der Umgang mit Populisten ist eine Feldstudie. | |
12 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
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