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# taz.de -- Essay Rechtspopulismus und Armut: Selbst schuld
> Rechtspopulisten geben vor, sich für „die da unten“ zu interessieren.
> Dabei verachten sie Armut. Thilo Sarrazin ist ihr wichtigster
> Wegbereiter.
Bild: Stelle schon als Berliner Finanzsenator eigentümliche Forderungen auf: T…
Unter den Kritikern rechtspopulistischer Bestrebungen, Organisationen und
Parteien ist höchst umstritten, ob die Alternative für Deutschland (AfD)
ihre jüngsten (Wahl-)Erfolge den sozial Benachteiligten, Ausgegrenzten und
Abgehängten verdankt. Oder hauptsächlich wohlhabenderen
Bevölkerungsgruppen, die ihre materiellen Privilegien nicht zuletzt durch
Diskriminierung von Migranten, Flüchtlingen oder Muslimen behaupten
möchten.
Für den Fall, dass die Rechtspopulisten primär mit einem sozialeren Image
vor den etablierten Parteien punkten, könnten Regierungen ihnen
möglicherweise durch mehr Sensibilität für die Sorgen der Armen und durch
wohlfahrtsstaatliche Leistungsverbesserungen das Wasser abgraben.
Es fragt sich jedoch, ob die rassistischen Einstellungen nicht unabhängig
vom sozialen Status der AfD-Klientel bestehen. Möglicherweise finden die
rechtspopulistischen Kräfte gerade deshalb so viel Zuspruch, weil sie
insgeheim bestehende Vorurteile gegenüber Erwerbslosen
öffentlichkeitswirksam bestätigen und gleichzeitig Sozialneid nach unten
schüren.
Ob eine gute Sozialpolitik den Einfluss des Rechtspopulismus zu begrenzen
vermag oder im Kampf gegen ihn angesichts verbreiteter Ressentiments gegen
Migranten und andere strukturell benachteiligte Minderheiten wenig nützt –
die Antwort darauf ist entscheidend für eine demokratische Gegenstrategie.
## Schichtübergreifend populär
Was die soziodemografische Struktur der Anhänger, Parteimitglieder und
Wählerschaft von AfD, Pegida und ähnlichen Gruppierungen betrifft,
widersprechen sich die wenigen bisher dazu publizierten
Forschungsergebnisse teils diametral. Weder die Bezeichnung der AfD als
„moderne Arbeiter-“ oder „Arbeitslosenpartei“ noch die Charakterisierung
als „Partei des gehobenen Mittelstands“, der sich teilweise vom sozialen
Abstieg bedroht fühlt, kann überzeugen. Plausibel erscheint vielmehr die
These, dass der Rechtspopulismus mit seinen Stammtischparolen gewissermaßen
schichtübergreifend anschlussfähig ist, also privilegierten
Bevölkerungsschichten ebenso attraktiv erscheint wie sozial
Benachteiligten, die Transferleistungen beziehen oder zu den
Geringverdienern zählen.
Wohlhabende, Besserverdienende und Hyperreiche fühlen sich von der AfD
offenbar genauso angezogen wie die vom sozialen Abstieg bedrohten
Mittelschichtangehörigen und die von Erwerbslosigkeit betroffenen
Modernisierungsverlierer. Für beide Zielgruppen bieten Rechtspopulisten
unterschiedliche ideologische Zugänge: Während sich deutsche Angestellte,
Selbstständige und Freiberufler gegen soziale Aufsteiger, unangepasste
Mitbewerber und ehrgeizige Migranten wehren, die angeblich nicht so fleißig
sind wie sie, fürchten einheimische Unterschichtangehörige die Konkurrenz
der Zuwanderer auf dem Arbeits-, Wohnungs- und Heiratsmarkt.
Historisch betrachtet war der Populismus eine kleinbürgerliche
Protestbewegung, die das Dilemma der Mittelschichten, sozial „eingeklemmt“
und von zwei die Geschichte dominierenden Kräften bedroht zu sein, durch
eine doppelte Abgrenzung – gegen die „korrupten Eliten“ da oben und die
„trägen Massen“ da unten – kompensiert. Heute sind die Aufstiegskanäle …
Gesellschaft für Kleinbürger so verstopft, dass deren sozialer Absturz viel
wahrscheinlicher ist. Umso energischer wenden sich Teile der Mittelschicht
gegen „Faulenzer“, „Drückeberger“ und „Sozialschmarotzer“, seien e…
einheimische oder zugewanderte.
Der frühere SPD-Politiker und Bundesbanker Thilo Sarrazin war einer der
wichtigsten, wenn nicht sogar der wichtigste geistige Wegbereiter des
Rechtspopulismus à la AfD. Wer erfahren möchte, wie deren Funktionäre über
Armut in Deutschland und die am meisten darunter Leidenden denken, sollte
Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ lesen. Dieses Pamphlet handelt
nicht, wie fälschlicherweise meist angenommen, primär vom Thema Migration
und Integration, sondern war als Diskussionsbeitrag zum deutschen
Sozialstaat gedacht.
Schon als Berliner Finanzsenator hatte sich Sarrazin wiederholt abfällig
über Hartz-IV-Empfänger geäußert und ihnen etwa geraten, sich – statt die
Wohnung zu heizen – einen Pullover anzuziehen und kalt zu duschen. Neben
einheimischen Unterschichtangehörigen macht Sarrazin Menschen muslimischen
Glaubens – übrigens solche, die gar keine Zuwanderer, sondern hier
aufgewachsen sind – für die finanzielle Überlastung des Wohlfahrtsstaates
verantwortlich. Durch die „Rundumversorgung“ korrumpiere unser Sozialsystem
seine Klientel, behauptet er, indem es eine „Kultur der Hängematte“
schaffe.
Sarrazin beschönigt die Armut und bagatellisiert das Problem der wachsenden
sozialen Ungleichheit, indem er völlig unangemessene Vergleiche anstellt.
Auf der Zeitachse vergleicht er die soziale Lage der Armen und
Armutsgefährdeten heute mit der von „Normalbürgern“ vor 50 Jahren: „Die
Armutsrisikoschwelle [seinerzeit 801 Euro; Ch. B.] in Deutschland ist heute
höher als das durchschnittliche Nettoeinkommen der Deutschen auf dem
Höhepunkt des Wirtschaftswunders Anfang der sechziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts.“
Auf der geografischen Achse vergleicht Sarrazin die soziale Lage
einheimischer Hartz-IV- und Sozialhilfebezieher/innen mit der
Einkommenssituation in weniger entwickelten europäischen Industrieländern:
„Deutsche Transferempfänger leben wie der durchschnittliche Tscheche, aber
deutlich besser als der durchschnittliche Pole und weitaus besser als der
durchschnittliche Türke.“
Will man den Lebensstandard eines Menschen bestimmen, muss er jedoch in
Beziehung zum Wohlstand des betreffenden Landes gesetzt werden, und zwar
jeweils zur selben Zeit. Denn wer hier und heute arm ist, vergleicht sich
weder mit einem Durchnittsverdiener im Ausland noch mit einem Deutschen,
der vor Jahrzehnten auf einem geringeren Niveau lebte, sondern mit jenen,
die teilweise viel mehr haben als er selbst.
Da sie die strukturellen Zusammenhänge ausblenden und Armut nicht als
gesellschaftlich bedingt erkennen, neigen Rechtspopulisten zur
Individualisierung, Subjektivierung und Moralisierung des Problems.
Sarrazin hält die Armut daher nur für ein mentales Phänomen: „Nicht die
materielle, sondern die geistige und moralische Armut ist das Problem.“
Folgt man Sarrazin, so führt Dummheit zur Armut – und aus der Armut kommt
heraus, wer intelligent ist: „So gibt es eine 90-prozentige
Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind aus einer armen Unterschichtfamilie mit
einem Durchschnitts-IQ von 100 der Armut entkommt, während es gut sein
kann, dass ein dümmeres Kind aus einer Mittelschichtfamilie in Armut
gerät.“
Zweifellos verhindern Bildungsdefizite vielfach, dass junge Menschen auf
dem Arbeitsmarkt sofort Fuß fassen. Auch führt die Armut von Familien
häufig dazu, dass deren Kinder keine weiterführende Schule besuchen oder
sie ohne Abschlusszeugnis wieder verlassen. Der umgekehrte Effekt ist
hingegen kaum signifikant: Ein schlechter oder fehlender Schulabschluss
verringert zwar die Erwerbschancen, wirkt sich aber kaum nachteilig auf den
Wohlstand einer Person aus, wenn diese vermögend ist oder Kapital besitzt.
Sarrazin vertauscht hier augenscheinlich Ursache und Wirkung miteinander:
Armut macht zwar auf die Dauer eher dumm, Dummheit aber keineswegs arm.
## Fürsprache aus Taktik
Wenn sich die AfD trotz eklatanter Fehlschlüsse und Pauschalurteile ihres
rechtssozialdemokratischen Vordenkers über Arme zu deren Fürsprecherin
aufschwingt, dann geschieht das allein aus wahltaktischen Gründen. Sie
kokettiert mit der sozialen Frage, auf die sie ausweislich ihres
Grundsatzprogramms gar keine Antwort hat. Nur mühsam hat sich die AfD auf
ihrem Stuttgarter Programmparteitag im April/Mai 2016 zu einer Befürwortung
des Mindestlohns durchgerungen. Gleichzeitig sprach sich die Mehrheit der
anwesenden Mitglieder für eine Verschärfung von Hartz IV durch Einführung
der „aktivierenden Grundsicherung“ und für eine Kommunalisierung der
Jobcenter aus.
Während die AfD einer stärkeren Drangsalierung der Arbeitslosen das Wort
redet, sind ihr alle Steuerarten, die wohlhabende Bevölkerungsschichten
treffen (etwa progressive Einkommen-, Gewerbe-, Vermögen- und
Erbschaftsteuern), ein Graus. Unverkennbar ist die Parteinahme der AfD für
die Reichen und gegen die Armen.
8 Oct 2016
## AUTOREN
Christoph Butterwegge
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