# taz.de -- Anetta Kahane über Radikalisierung: „Der Damm ist gebrochen“ | |
> Die Chefin der Amadeu Antonio Stiftung spricht über die AfD-Wahlerfolge, | |
> deutsche Identität und eine Realität, die vielfältiger ist, als es die | |
> Rechte glauben machen will. | |
Bild: „Wir wollen den Verfassungspatriotismus als Motiv stärken. Dieser und … | |
taz: Frau Kahane, was ist da gerade in Mecklenburg passiert? | |
Anetta Kahane: Mich hat das Ergebnis vom letzten Wahlsonntag nicht | |
überrascht. Ich habe immer mit 20 bis 30 Prozent der Wahlbevölkerung | |
gerechnet, die so weit rechts stehen. Bei den bisherigen, eher kargen | |
Ergebnissen der NPD hatte ich den Eindruck: Das entspricht nicht der | |
Stimmung im Land. Jetzt zeigt sich das Potenzial deutlicher, die Rechten | |
werden sichtbarer. | |
Und welchen Schluss ziehen Sie aus diesem Befund? | |
Dass es umso wichtiger ist, dass die anderen – wir! – auch sichtbarer | |
werden. Es gibt eine tolle Zivilgesellschaft, und diese hat eine viel | |
schnellere Entwicklung durchgemacht als die rechte Bewegung. | |
Warum wurden die Rechten denn jetzt gewählt? | |
Die Leute haben die AfD gewählt, weil es eine Partei gibt, die man ohne | |
Scham wählen kann. Das Stigma der Nazipartei hatte bei der NPD doch viele | |
abgehalten. Jetzt ist der Damm gebrochen. | |
Wer brach denn den Damm? | |
Die Pegida-Bewegung hat diese Entwicklung schon vor der Flüchtlingskrise in | |
Gang gebracht. Und selbst wenn ich die Zivilgesellschaft, auch im | |
ländlichen Raum, lobe: In der digitalen Welt gibt es sie noch nicht | |
ausreichend als Gegenmoment. In einigen Regionen gibt es deutlich mehr | |
Angriffe auf Flüchtlingsheime, wo entsprechende digitale Stammtische | |
mobilisieren. | |
Sie haben das Stichwort Pegida genannt. AfD-Wähler und Wählerinnen würden | |
hingegen das Stichwort Flüchtlinge nennen. | |
Die Flüchtlingskrise war der Trigger. Die antimodernen Impulse suchten | |
geradezu nach einem Ausdruck. Und den haben sie in der AfD gefunden. In | |
Deutschland war es möglich, auf eine deutsche Identität zurückzugreifen, | |
die immer als eine ethnische beschrieben wurde. Einwanderung und | |
Integration fanden zwar statt, wurden als politisches Feld jedoch selbst | |
bei Erfolg peinlich zu benennen vermieden. | |
Was versinnbildlicht die AfD? | |
Die Reaktion auf eine Gesellschaft, die sich, ohne dass es politisch je | |
offensiv gewollt war, extrem verändert hat. Noch nie in der deutschen | |
Geschichte hat es solch ausdifferenzierte Bürger- und Menschenrechte | |
gegeben. Allein was sich in den letzten 20 Jahren beiLGBTQ getan hat; die | |
Akzeptanz, dass Leute mit sichtbarem Migrationshintergrund jetzt auch | |
Fernsehsprecher sind, eine von ihnen gar die „Tagesthemen“ moderiert – das | |
alles zusammen ist für die Rechte schockierend. | |
Ist das Ethnische der entscheidende Punkt? | |
Ja, bei ethnisch Deutschen, so die Sicht, kann man einiges tolerieren, aber | |
wenn das als fremd Abgewiesene nun als deutsch daherkommt, wird es für die | |
Rechte schwierig. Die ethnische Identität war immer der heikelste Punkt im | |
deutschen Selbstverständnis. | |
Wenn das nur ein deutsches Phänomen wäre … | |
In jedem Land gibt es einen anderen Trigger. Die Ungarn haben bei einem | |
anderen Teil ihrer Geschichte Verdauungsprobleme als die Franzosen, die | |
Skandinavier andere als die Osteuropäer. Doch die antiemanzipatorischen | |
Reflexe bahnen sich immer ihren Weg. | |
Warum wächst die Zivilgesellschaft dagegen nicht schnell genug? | |
Ich weiß nicht, in welche Krisen Gesellschaften erst geraten müssen, um die | |
Dringlichkeit bestimmter Prozesse überhaupt wahrzunehmen. Die | |
Zentrifugalkräfte der völkischen Bewegung sind so groß, dass ich im Moment | |
gar nicht sehe, wie wir sie aufhalten können. | |
Sie als Kopf der Antonio Amadeu Stiftung … | |
… die wir genau dafür gegründet haben. Aber, ehrlich gesagt, wir wurden | |
gerade im Osten viel zu wenig unterstützt. Die größte Bankrotterklärung der | |
Politik ist, dass Rechte ein Klima erzeugen konnten, das Migranten aus dem | |
Westen Deutschlands davon abgehalten hat, in diese Regionen zu ziehen. Da | |
stellen sich eben ein paar Neonazis hin, zünden einen Imbiss an, und | |
natürlich spricht sich das rum … | |
… was auch eine Erblast der DDR-Geschichte ist. | |
Ja, klar. In den neunziger Jahren war es ähnlich wie in der | |
Nachkriegsgeschichte in Westdeutschland: sturer Blick nach vorn, blühende | |
Landschaften müssen entstehen. Eine politische Aufarbeitung der DDR und | |
auch des Nationalsozialismus hat aus falsch verstandener Rücksicht auf die | |
ostdeutschen Befindlichkeiten nicht stattgefunden. | |
Die Argumentation trägt für Ostdeutschland. Warum wählen dann auch in | |
Baden-Württemberg 15 Prozent die AfD? | |
Dort gibt es neben einer starken liberaldemokratischen Tradition durchaus | |
Milieus, in denen Rechtspopulismus greifen kann. Nach dem Motto: „Opa war | |
kein Nazi“. | |
10 bis 15 Prozent der deutschen Gesellschaft lehnen eine hybride | |
Gesellschaft ab, ein Sechstel der deutschen Wahlbevölkerung. | |
10 bis 15 Prozent bedeuten zugleich ja auch, dass 85 Prozent dies nicht so | |
sehen oder sogar zufrieden sind. Das sind fünf Sechstel, die von der | |
Urbanisierung des Lebens profitieren, die diese moderne Gesellschaft genau | |
so haben wollen. | |
Wir haben gerade bei unserer taz.meinland-Tour für die offene Gesellschaft | |
Rügen besucht. Kulturell sind wir an unsichtbare Mauern geprallt. Ein | |
syrisches Restaurant in Sassnitz, das schien allen dort undenkbar. | |
Neonazis haben in Usedom und Rügen dafür gesorgt, dass internationales | |
Publikum, Menschen mit Migrationshintergrund da nicht hinfahren. Das wäre | |
ja eine echte Marktlücke, stellen Sie sich einmal vor, die | |
Türkischstämmigen aus Berlin würden an die Ostsee fahren. | |
Schön blöd von den Usedomern, oder? | |
Ja. Mit einer Ausdifferenzierung des Publikums hätten wir perspektivisch | |
auch die entsprechenden Märkte dort. Wenn man das öffnete und gezielt | |
unsere gesellschaftliche Vielfalt ansprechen würde, dann gäbe es das auch. | |
Mögliche Erfolge zu sehen, ist immer auch ein Mittel gegen völkische | |
Stimmungen. | |
Woher kommt Ihre Frustrationsbereitschaft, Sie machen das doch nun seit | |
Jahrzehnten? | |
Mir hat mal jemand den Spruch gesagt: „Der Vergeblichkeit ins Auge geblickt | |
kann man ja alles versuchen.“ Und wenn Sie von den 15 Prozent sprechen, | |
dann frage ich: Was ist mit den 85 Prozent? Die Arbeit unserer Stiftung ist | |
darauf ausgerichtet, Spaß am Erfolg zu haben, nicht an der Niederlage. | |
Vielleicht eine unübliche Herangehensweise in dieser von Pessimismus | |
geprägten Gesellschaft. | |
Stehen die 85 Prozent auch hinter Ihnen, wenn die 15 Prozent gegen Sie | |
mobilisieren? | |
Nein. Mit Solidarität hält man sich gerne zurück. Aber wir bekommen | |
Unterstützung. Schwieriger als die Aggression von einschlägigen Kreisen ist | |
für uns, wenn einzelne Journalisten von Leitmedien einknicken und sich an | |
Vorwürfen gegen uns beteiligen. | |
Das Justizministerium darf bei Hate Speech (Hassparolen) Zensur üben, Sie | |
dürften das nicht. Nun wirft man Ihnen vor, in diesem Interesse zensorisch | |
zu agieren. Tun Sie das nicht? | |
Weder wir noch das Justizministerium dürfen und wollen zensieren. Das | |
Justizministerium hat lediglich eine Taskforce, also eine Arbeitsgruppe | |
einberufen. Dort sitzen verschiedene NGOs, darunter die Amadeu Antonio | |
Stiftung. Unter diesem Dach wurde über juristische Standards diskutiert. | |
Daraus haben manche konstruiert, wir seien beauftragt zu zensieren. Was für | |
ein Quatsch. Gerade wir als Stiftung haben dort betont, wie viel wichtiger | |
es ist, die digitale Zivilgesellschaft zu stärken statt zu löschen. | |
Absurderweise werden wir seither als Stasi 2.0 und Zensurorgan angegriffen. | |
Unsere Arbeit wird mit NS-Praktiken gleichgesetzt. Viele der Angriffe | |
zielen dabei auch auf mich persönlich. Ich scheine eine geeignete | |
Projektionsfläche für viele Rechte zu sein. | |
Der Justizminister Heiko Maas ist dies ja ebenso. Aber wie würde denn eine | |
positive Projektionsfläche für die offene Gesellschaft aussehen? | |
Die Amadeu Antonio Stiftung war es eine ganze Zeit tatsächlich. Figuren | |
fallen mir nicht ein. Ich denke, es geht hier um die Narration einer | |
Gesellschaft, die so viel offener geworden ist. Kein Wunder, dass die | |
Erzählung der Willkommenskultur zuallererst zerstört werden sollte. Dabei | |
gibt es sie in der Wirklichkeit ja doch. Man muss sie nur öffentlich | |
erzählen. | |
Babylon soll zerstört werden, die Vielsprachigkeit, die mehr oder weniger | |
entspannte Begegnung der Unterschiede? | |
Ja genau, die Hure Babylon soll zerstört werden. Dabei ist die Vielfalt | |
gerade das, wofür Berlin steht. Die werdende Metropole lebt die | |
Gelassenheit. | |
Die moderne Gesellschaft, das Hybrid, ist längst da. | |
Die Zivilgesellschaft ist leider nicht das Thema des öffentlichen | |
Diskurses. Wir wollen das sichtbar machen. Wir wollen den | |
Verfassungspatriotismus als Motiv stärken. Dieser und eine diversifizierte | |
Gesellschaft werden die Norm werden. Nicht weil es jemand will, sondern | |
weil die Gesellschaft dorthin drängt. | |
12 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Barbara Junge | |
Jan Feddersen | |
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