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# taz.de -- Initiative „Offene Gesellschaft“: Nicht nur gegen das Böse
> Lauter Prominente um Harald Welzer wollen bis zur anstehenden
> Bundestagswahl am liebsten jeden Tag eine Veranstaltung machen.
Bild: Hochkarätig besetztes Podium am Donnerstag in Berlin
BERLIN taz | Bislang traf man sich zum Brainstorming in gastronomischen
oder kulturellen Einrichtung. Neulich in einer alten Charlottenburger
Kneipe, vor einigen Wochen zum größeren Brainstorming in einem Raum des
Deutschen Theater im Berliner Charité-Viertel. 100 Männer und Frauen waren
dort unter Kronleuchtern versammelt, erörtert wurde in brütender
Sommerhitze: Wie man eine politische Bürgerbewegung nicht nur ins Leben
ruft, die die demokratische Güte der Bundesrepublik bewahrt.
Das Ganze nennt sich, Donnerstag machten sie es in der
Bundespressekonferenz offiziell, „365 Tage für die Offene Gesellschaft“.
100 Veranstaltungen hat sind bereits geplant, um Räume zur Debatte zu
schaffen. Die Dringlichkeit des Anliegens soll auch der Raum der Verkündung
unterstreichen: der Saal der Bundesrepublik, im Regierungsviertel mit
Sichtweite zum Reichstag. Deutschland soll eine Offene Gesellschaft
bleiben, allem Gerede über den Rechtspopulismus Marke AfD zum Trotz.
Die Frage, die Harald Welzer, Motor der Initiative, formulierte: „Vier
Fünftel der Wählerinnen und Wähler sind freiheitlich und demokratisch
eingestellt. Warum unterstützt die etablierte Politik nicht diese Mehrheit,
sondern macht sich die Behauptungen des einen Fünftels am rechten Rand zu
eigen?“ Denn: „Eine Politik der Angst“ – wie sie seitens der CSU, aber …
von Teilen von CDU, FDP und SPD mit transportiert wird – „ist immer
populistisch“.
Allerdings sei diese Bürgerinitiative nicht gegen die AfD gerichtet,
vielmehr wolle man das betonen, was in diesem Land demokratisch der
Standard ist. Man wolle, ließe sich sagen, keine Gefahrenbeschwörung einer
„rechten Gefahr“, sondern die Debatte, was die offene Gesellschaft ist und,
noch stärker, was sie sein könnte.
## Etwas unternehmen
Welzer, einst hauptsächlich akademisch als Sozialpsychologe beschäftigt,
inzwischen intellektueller Aktivist und erfolgreicher Sachbuchautor, hält
die Initiative auf Distanz zu den Parteien, vor allem zum klassischen
Links-Rechts-Schema. Esra Küçük, Gründerin der Jungen Islamkonferenz und
Leiterin des Gorki Forums, betont sehr entschieden auf der Konferenz: „Wir
brauchen eine neue Allianz.“ Etwa mit den Arbeitgebern oder Kirchen, die
sich für einen Abschiebestopp für Flüchtlinge in Ausbildung einsetzen –
obwohl sie mit ihnen gewöhnlich in politischen Fragen nicht einer Meinung
ist (siehe Interview unten).
„Es geht in dieser Zeit darum, Haltung zu zeigen,“ betont die
Schauspielerin Katja Rieman. Sie wolle nicht, dass man im Jahr 2100 auf
Kulturschaffende zurückschaue und frage, warum sie nichts unternommen
hätten.
„Wir dürfen nicht abseits stehen“, so Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie
Deutschland. Schließlich wolle doch nur ein Fünftel ein „deutscheres
Deutschland“ und bekomme damit zu viel Aufmerksamkeit.
„Teile der Eliten sind schlecht integriert und zerstören Systemvertrauen,“
heißt es im Gründungsdokument der Initiative. „Nicht abreißende Skandale um
Volkswagen und Deutsche Bank, Steuerflucht von vermögenden Menschen und
Steuervermeidung von Unternehmen zeigen fehlende Gemeinwohlorientierung und
damit mangelndes Demokratieverständnis der Verantwortlichen.“ So sei das
Gerede um Flüchtlingsfluten und Verfassungsbrüche der Kanzlerin, wie es in
der populistischen Rede üblich ist, pure Ablenkung.
## Sorge um den Zustand der Demokratie
Der Direktor des Albert and Victoria Museum in London, Martin Roth, zog von
Großbritannien zurück nach Deutschland, als er sah, wie auf
Pegida-Protesten Galgen mit Kanzler- und Vizekanzlerköpfen hochgehalten
wurden. Anstatt weiter Öl ins Feuer zu kippen und sich als vermeintlicher
Löscher zu präsentieren, will die Initiative jener Mehrheit eine Stimme
geben, die dem „Marketing der Angst“ nicht verfallen sei, sagt Roth.
Diese freiheitlichen Perspektiven will diese Initiative bis zu den
Bundestagswahlen in die öffentliche Arena tragen – wobei diese
Bürgerbewegung nicht als Spontangeburt in die Welt kommt. Seit einigen
Monaten organisiert ein Kreis um Harald Welzer in der Bundesrepublik
Veranstaltungen nach Art von US-Townhall Meetings: Sollen doch alle mal
sagen, was wirklich das Problem ist. Mit Erfolg: In durchaus bürgerlichen
Arenen kamen auf 50 Veranstaltung 8.000 Menschen zusammen, sich sorgend um
den Zustand der Demokratie im Gefühl, dem Gift des nicht nur gegen
Flüchtlinge gerichteten Populismus widerstehen zu müssen – und eben auch zu
wollen.
Der Begriff „Offene Gesellschaft“ knüpft an das Denken des österreichisch…
Philosophen Karl Popper an: ein Gemeinwesen, das für Fremdes offen ist,
integriert, auf friedliches Wirtschaften setzt, wo keine Religion regiert
und kein totalitäres Denken überhaupt. Jeder solle nach seiner Fasson selig
werden – in Freiheit. Eine Chiffre mithin, die weder linke noch rechte
große Erzählungen wie Faschismus oder Sozialismus will: Das Individuum sei
wichtiger als jedes Kollektiv.
## Integration als Kernanliegen
Das alles ist schön und richtig und wünschenswert – und diese Haltung von
Offenheit umreißt zugleich das Glaubensbekenntnis der tonangebenden
Kultureliten, der gedanklich topcheckerischen (Kultur-)Mittelschichten. Die
Liste der Freund*innen des bislang ausgewiesenen Projekts ist eine durchaus
repräsentative Mischung der Avancierten und keineswegs Prekären oder
Abgehängten in diesem Land.
Im Freundes- und Unterstützerkreis der Initiative Offene Gesellschaft waren
bislang Kultur- und Medienprominente wie Adrienne Göhler, Wieland Backes,
Muhterem Aras, Carolin Emcke, Ines Mateos, Keffah Ali Deeb , Eva-Maria
Stange, Thomas Leif und Hunderte mehr. Auffällig ist an dieser Liste
freilich weniger der Umstand, dass viele deutsche Bürger*innen mit, soweit
es ihr Name ausweist, migrantischem Hintergrund dabei sind. Das ist mehr
als löblich, das ist für die Initiativ Kernanliegen, eben diese
Kämpfer*innen für ihre Leben in der Bundesrepublik Deutschland zu
integrieren.
Markanter ist, dass es kaum Menschen in diesem Kreis gibt, die die Sprache
der Kultur nicht drauf haben – Gewerkschafter*innen etwa, Menschen in
bekennend proletarischer Verantwortung, sozialpolitisch vor allem. Aber das
kann sich ändern: Interessen der Arbeiterbewegung waren in Gesellschaften
offener Prägung immer am stärksten durchzusetzen.
Keine professionelle Kampagne ohne finanzielles Fundament. Für die
Initiative Offene Gesellschaft sind es die Bertelsmann-Stiftung, die
Robert-Bosch-Stiftung sowie die Open Society Foundation. Letztere ist eine
Stiftung des US-amerikanischen Milliardärs George Soros – und dieser ist
bei Rechten, ob in Deutschland oder sonstwo in Europa besonders verhasst,
weil er unter anderem in post-sozialistischen Ländern (zuletzt vor allem in
der Ukraine) sehr viel Bildungsprogramme gegen völkische Politik ermöglicht
hat. Dessen Credo: „Der Hauptfeind der offenen Gesellschaft, glaube ich,
ist nicht mehr der Kommunismus, sondern die kapitalistische Bedrohung.“
22 Sep 2016
## AUTOREN
Jan Feddersen
Timo Lehmann
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