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# taz.de -- Anetta Kahane über Schuld und Sühne: „Holm ist da sehr ideologi…
> Anetta Kahane war in der DDR selbst IM. Heute ist sie Vorsitzende der
> Amadeu Antonio Stiftung. Mit der taz spricht sie über Stasi, Kapitalismus
> und Andrej Holm.
Bild: Ewige Dialektik: Anetta Kahane kann beide Seiten verstehen, Andrej Holm u…
taz.am wochenende: Frau Kahane, die Geschichte um den Wissenschaftler
Andrej Holm gleicht in manchen Aspekten Ihrer eigenen. Er wurde als
Staatssekretär in Berlin entlassen, weil er bezüglich seiner
Stasi-Vergangenheit gelogen hatte. Hätte es ihm geholfen, wenn er von
Anfang an ehrlicher gewesen wäre?
Anetta Kahane: Das sagen sie jetzt zwar alle, aber das glaube ich nicht. An
der Uni hätte er nie den Job gekriegt. Dann wäre es auch obsolet gewesen,
darüber nachzudenken, ob er Staatssekretär wird. Da gibt es gar keinen
Zwischenton. Ich weiß nicht, ob er mit seinem persönlichen Verhalten da
etwas hätte dran ändern können.
Wofür würden Sie denn plädieren? Dass man genau hinschaut: Was hat er
getan, was nicht? Hat er Leute geschädigt oder nicht?
Genau. Im Fall Holm kann ich mir nicht vorstellen, dass er wirklich etwas
getan hat. Er war damals 17 Jahre alt, ist noch in die Schule gegangen oder
war in der Ausbildung.
Na ja, er hat Berichte gelesen, die aus dem Observieren von Verdächtigen
hervorgingen.
Er war bei einem Geheimdienst.
Anders als Sie hat er Geld bekommen, also materielle Vorteile gezogen aus
seiner Stasi-Tätigkeit. 675 DDR-Mark war damals nicht schlecht, oder?
Ein gutes Stipendium. Ich habe insgesamt 200 Ostmark bekommen – für acht
Jahre.
Hätte er den normalen Grundwehrdienst gemacht, hätte er nur ein Drittel
davon bekommen.
Richtig. Er war loyal zur DDR in einer Zeit, in der das ein wenig
unverständlich ist. Andererseits: Holms Vater machte bei der Stasi
Karriere. Solange Andrej Holm nicht Leute ausspioniert hat, liegt das in
der Logik dieser DDR-Familien und dieser Zeit. Aber alles, was ich sage zu
dem Thema, wird immer als Verteidigung gewertet, weil ich selber so eine
Biografie habe. Was ich nur über mich selbst sagen kann: Ich bin 1982 aus
meiner Stasi-Tätigkeit ausgestiegen – und das hatte erhebliche Folgen. Das
bedeutet: Ich kenne die DDR von beiden Seiten: in der Rolle der
Gegnerschaft und der symbiotischen Nähe. Für beides habe ich Verständnis.
Führt das nicht zu der Argumentation: Ja, man darf lügen, weil die
Verhältnisse halt so sind?
Ich sage nicht, dass man lügen darf. Ich habe über die konkrete Situation
von Andrej Holm gesprochen. Selbstverständlich ist das was anderes bei
Leuten, die über Jahre Leute an die Stasi verraten haben und dann
Abgeordnete erst der PDS und dann der Linkspartei wurden. Wenn die sagen,
sie waren da nicht dabei, ist das schon ziemlich unerträglich. Das sind
Leute, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit schuldig gemacht haben. Sie
haben in einem Großteil ihrer Biografie ihre Ideologie ungebrochen
weiterverfolgt. Allerdings sehe ich auch bei Holm eine gewisse Kontinuität
in seinen ideologischen Elementen.
Sie meinen in der Gentrifizierungsdebatte?
Ja, genau. Gentrifizierung werte ich nicht so, wie er das tut. Wenn ich
sehe, in welchem Zustand die Bauten im Osten nach der Wende waren! Ich
finde, der Begriff Gentrifizierung wird als eine ideologische Kampfmaschine
benutzt. Holm ist da sehr ideologisch.
Ist diese Kontinuität, die Sie bei Holm sehen, das Antikapitalistische?
Das ist die andere Seite der Medaille: Gerade die Leute, die besonders
loyal zur DDR standen, finden häufig, dass sie gar nicht genug Rechte in
der Bundesrepublik haben können und noch mehr haben müssten. Diese ganze
antiimperialistische Szene finde ich abstoßend. Da sind zum Teil auch
Hardcore-Antisemiten dabei.
Junge Leute in der DDR, die aus einer Familie kamen, deren Eltern oder
Großeltern tatsächlich gegen die Faschisten gekämpft haben, hatten manchmal
romantische Vorstellungen: So will ich das auch machen – konnte das dazu
führen, dass man zur Stasi ging, die angab, auch gegen den Faschismus zu
kämpfen?
Bei Holm weiß ich das nicht. Aber in meiner Familie und der meiner Freunde
war es so, dass die Eltern nicht nur gegen die Nazis gekämpft haben. Wir
waren auch Juden. Da hing noch ein ganz anderes Trauma dran. Denn das
bedeutete, dass unsere Eltern, aber auch wir Kinder uns in der DDR fremd
gefühlt haben. Wir wussten ja nie, ob der oder die früher Nazi war. Manche
von uns haben dann gesagt: Dann will ich mich mit dem guten Teil der DDR
verbinden, mit dem antifaschistischen Kampf und den Menschen helfen, gute
Humanisten oder Sozialisten zu werden.
Eine ziemlich illusionäre Vorstellung, oder?
Das ist mir sehr schnell aufgegangen.
Na ja, schnell? Sie waren immerhin acht Jahre IM.
Aber ich bin immer mit einer Ambivalenz tätig gewesen. Sonst hätte ich das
viel effektiver gemacht. Ich war ja keine sehr erfolgreiche Spionin.
Endgültig habe ich das Ganze beendet in dem Augenblick, als mein Motiv
wegbrach. Ich kann ein Land unterstützen, was tatsächlich gegen
Antisemitismus, Rassismus und gegen dieses ganze faschistische Zeug
antritt, wie es meine Eltern sagen: „Ihr habt es doch gut. Wir waren im
Kampf, wir waren im Lager.“ Das war eine starke emotionale Erpressung, aber
damit musste ich umgehen – und das war in vielen Familien so. Doch dann
stellt sich heraus, dass es in der DDR überhaupt keine Chance gibt, sowohl
Antisemitismus wie Neonazis als auch Rassismus zu bekämpfen, weil der Staat
in sich autoritär ist. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein
autoritärer Staat so etwas nie überwinden kann.
Wie genau sind Ihre Erinnerungen an Ihre Stasi-Tätigkeit? Holm machte ja
für sich Erinnerungslücken geltend. Ist das plausibel?
Das ist plausibel. Das ging mir auch so. Wissen Sie, woran ich mich nicht
erinnern konnte? Dass ich eine handgeschriebene Verpflichtungserklärung
unterschrieben habe.
Wie kann das sein?
Nachdem ich meine Akte gesehen hatte, fiel mir ein, dass ich mal mit meinem
Führungsoffizier im Auto saß und der mir diktiert hat: „Schreiben Sie doch
mal Folgendes auf …“ Und dann hat der mir das diktiert. Das war kein
historischer Augenblick.
Aber das war doch ein zentraler Moment. Auch als junger Mensch ist einem
doch da bewusst, dass etwas Entscheidendes passiert. Das ist ja wie ein
Testament oder ein Rücktrittserklärung, die man handschriftlich verfasst.
Das ist ein Irrtum. Das Einverständnis, bei der Stasi mitzumachen, war die
bedeutende Handlung. Die Verpflichtungserklärung war nur ein formaler
Vollzug, nicht mehr. Entweder legt man sich mit der Stasi ins Bett oder
nicht. Das war die entscheidende Frage.
Sie haben die Frage für sich beantwortet und sich 1974 dazu entschlossen,
sich der Stasi anzuschließen.
Wem gehört die DDR – den Widerstandskämpfern gegen den Faschismus oder den
Bürokraten? Das war die Frage, um die es ging. Die Widerstandskämpfer waren
hoffnungslos in der Minderheit – und die jüdischen sowieso. Sie hatten nur
die Illusion, dass ihnen das Land gehört. Von den Mitschülern in meiner
Klasse waren die meisten Väter bei der Wehrmacht. Das war eine ganz andere
Narration als in unserer Familie. Die hatten natürlich auch einen ganz
anderen Bezug zur DDR. Für die war die DDR die Möglichkeit der Exkulpation,
freiwillig oder unfreiwillig: „Wir sind jetzt antifaschistisch – okay, das
war’s.“ Aber die Narration blieb: Es waren die Leute, die in die Wohnungen
der deportierten Juden hineingingen und sich alles rausgeholt haben! Und
dann waren da die Kinder von den wenigen übrig gebliebenen Antifaschisten,
die hofften, dass das mit der DDR klappt: „Hoffentlich wird der Staat
wirklich antifaschistisch!“ Absurd, wenn ich mir das im Nachhinein
anschaue.
Gibt es eigentlich einen richtigen Zeitpunkt, sich zu offenbaren?
Ich bin nicht in der Lage, hier eine Lösung anzubieten. Ich habe darüber
Anfang der 1990er Jahre sehr intensiv nachgedacht. Sehr früh bin ich damals
in die noch in Gründung befindliche Stasiunterlagenbehörde gegangen und
habe gesagt: Da war was, ich habe da irgendwie Akten und möchte die mal
sehen. Dann bin ich zu meinen Arbeitgebern und allen Leuten, mit denen ich
zu tun hatte, und habe denen gesagt, was war.
Aber öffentlich haben Sie Ihre Stasi-Tätigkeit da noch nicht gemacht.
Ich habe damals mit ein paar Freunden darüber diskutiert, auch Journalisten
aus dem Westen. Wir haben die ganze Nacht diskutiert und kamen zu dem
Schluss: besser nicht. Es gibt ja bis in die CDU hinein Leute, die meinen:
einmal Stasi, immer Stasi. So rigoros sie bei Ex-Stasi-Verpflichteten sind,
waren sie bei ihren eigenen Nazi-Eltern nicht. Für sie gilt das Motto: „Was
an den Braunen unterlassen wurde, exekutieren wir jetzt an den Roten – sind
ja beide genauso schlimm.“ Dieser Mechanismus der Geschichtsrelativierung
ist ein Teil dieser verrückten Geschichte Deutschlands.
2 Apr 2017
## AUTOREN
Pascal Beucker
Philipp Gessler
## TAGS
Antisemitismus
Antifaschismus
Antiimperialismus
Gentrifizierung
Andrej Holm
DDR
Stasi-Vergangenheit
Stasi
Juden
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