# taz.de -- IS-Rückkehrer Harry S.: Der Kronzeuge des Terrors | |
> Vor Gericht wirkt Harry S. wie ein netter Junge. Doch er ist nach Syrien | |
> gereist, um für den IS zu kämpfen. Wie kam es dazu? | |
Bild: Einmal Dschihad und zurück: Harry S. ist auf dem hinteren Truck mit Fahn… | |
HAMBURG/BREMEN taz | Von Tag zu Tag werden es mehr Kämpfer. Mit Autos | |
werden sie in die Wüste gefahren, ins Ausbildungscamp einer Spezialeinheit | |
der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS), unweit von Ar-Rakka in Syrien. | |
Auf 60 Leute wächst die Gruppe an, dann wird sie aufgeteilt. Einer von | |
ihnen ist der Bremer Harry S. Gleich als er in Syrien ankam, wurde er | |
gefragt, ob er bereit ist, Anschläge in Deutschland zu verüben. Deutsche | |
würden dafür noch gesucht, „Franzosen, die bereit sind zu sterben, haben | |
wir mehr als genug“, so hatten die beiden Islamisten ihn empfangen, die | |
selbst aus Marseille stammen – nun Männer vom Geheimdienst des IS. Aber | |
Harry S. wollte nicht. | |
Trotzdem schaffte er es ins Ausbildungscamp der Spezialeinheit, die bei der | |
Eroberung von Städten wie Kobane hinter den feindlichen Linien kämpfen | |
soll. Ein Training in zehn Stufen, Ideologietest, Nahkampf-Übungen, mit | |
Gewehr durch den Sand robben, kaum Wasser, nur wenig zu essen, Duschverbot. | |
Wer aus der Reihe fällt, wird öffentlich ausgepeitscht. | |
Über Details aus dem Innenleben der Terrormiliz IS erfährt man sonst wenig. | |
Doch Harry S. erzählt. Stundenlang. Ende Juni, Anfang Juli 2016 sitzt er | |
auf der [1][Anklagebank des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg]. | |
In seiner Jeans und dem hellen, lockeren Hemd will er so gar nicht in das | |
Bild eines islamistischen Unsympathen passen, das man sich unter einem | |
„IS-Rückkehrer“ vorstellt. Wenn Harry S. heute über seine Zeit beim IS | |
berichtet, zieht er den Gerichtssaal in seinen Bann. Er wirkt nachdenklich, | |
moralisch gefestigt, seine Formulierungen sind klar und geradeaus. | |
Harry S. hat gebrochen mit der Ideologie des Dschihad, [2][will öffentlich | |
auftreten, sein Gesicht zeigen] und andere vor einer Radikalisierung | |
warnen. Das macht aus ihm einen Kronzeugen und Hoffnungsträger. Weil er | |
kooperiert, wurde der heute 27-Jährige am Dienstag vergangener Woche nach | |
nur vier Verhandlungstagen wegen Mitgliedschaft in der ausländischen | |
Terrorvereinigung und Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz zu | |
drei Jahren Haft verurteilt. Anklage und Urteil basierten im Wesentlichen | |
auf dem, was Harry S. aussagte – es gibt nur seine Version der Geschichte. | |
Die überschaubaren eigenen Erkenntnisse von Polizei und Geheimdienst decken | |
sich mit dem, was er sagt. Ermittler, Bundesanwälte und Richter glauben | |
ihm. | |
## Krankgeschrieben vom IS | |
Von April bis Juni 2015 war Harry S. beim IS in Syrien. Ermordet, sagt er, | |
hat er in der Zeit niemanden. Ein Kalaschnikow-Sturmgewehr wurde ihm | |
ausgehändigt, zu Trainingszwecken, ohne Munition. Und später eine | |
Beretta-Pistole, diesmal mit Patronen. Erste Zweifel kamen ihm, als er in | |
Ar-Rakka ins Hospital muss, „vom IS krankgeschrieben“, wie er erzählt, und | |
den vielen Verwundeten begegnet. Die hatten genug. Auch Harry S. sieht die | |
andere Seite von Terror und Krieg. Als für ihn das Training weitergeht, | |
knickt sein Fuß gleich wieder um. Nun hat auch er keine Lust mehr auf die | |
Kampfausbildung. Er sagt, dass er verheiratet ist, und fliegt aus der | |
Ausbildung. Den Ausweg hatte ihm jemand im Krankenhaus aufgezeigt. | |
Verheirateten ist die Einheit verboten. | |
Harry S. will nun lieber als Ingenieur die Städte für den IS wieder | |
aufbauen und reist in den Irak. Ein Hamburger betreibt dort für die | |
Terroristen eine Sportschule – für Jungen zwischen 14 und 16 Jahren. Harry | |
S. will hier unterrichten, für die Genehmigung muss er zurück nach | |
Ar-Rakka. Auch die Schlächter legen Wert auf Bürokratie. Schon als er | |
ankam, wurden die persönlichen Daten von Harry S. – Familienangehörige, | |
Kontaktpersonen, Blutgruppe, Ausbildungsstand – von einem IS-Mann in den | |
Computer eingegeben. | |
An einem Morgen kommt dann die Nachricht: Alle Deutschen sollen sich | |
sammeln, etwas Schwarzes anziehen. Harry S. hat nur den Tarnanzug, der ihm | |
am Anfang ausgehändigt wurde. Nur zwei Leute wissen, worum es geht. Mit | |
Pick-up-Trucks werden sie abgeholt und von Ar-Rakka nach Palmyra gefahren. | |
Erst kurz zuvor war die antike Stadt mit den Tempelruinen vom IS | |
eingenommen worden, was im Westen für Aufsehen gesorgt hatte. | |
Die Deutschen werden für den Dreh eines [3][Propaganda-Videos gebraucht], | |
in dem Harry S. später mit seinem Tarnanzug zu sehen sein wird. | |
Sieben Gefangene werden vorgeführt. Wer Lust habe, sie hinzurichten, wird | |
gefragt. Nur Harry S. will das nicht. Dafür soll er reden, vor der Kamera, | |
„ein Schwarzer aus Deutschland, das kommt gut“, wurde ihm gesagt. Auch das | |
will er nicht. Schließlich trägt er die schwarze Fahne des IS durchs Bild, | |
ein paar Sekunden ist er zu sehen. In dem fünfminütigen Film wird Kanzlerin | |
Merkel bedroht und es wird zu [4][Anschlägen in Deutschland aufgerufen]. Es | |
gilt als eines der wichtigsten Rekrutierungsvideos in deutscher Sprache. | |
## Ekelhaftes Spiel | |
Für den Dreh werden den Gefangenen Uniformen angezogen. Einer von ihnen | |
fleht, er sei nicht von Assad, er sei auch Sunnit. Bevor er weiter sprechen | |
kann, wird er erschossen. Durchlöchert, auch als er schon am Boden liegt. | |
Im Film wird schließlich eine andere Hinrichtungsszene gezeigt. Als Harry | |
S. das Erlebte im Hamburger Gerichtssaal schildert, merkt man ihm seine | |
Erschütterung an. Ob ihn das wirklich überrascht habe, will der vorsitzende | |
Richter Klaus Rühle von ihm wissen: „Wir kennen doch eine Fülle von | |
Hinrichtungsvideos“. Harry S. spricht von einem „ekelhaften Spiel“. Dass | |
Zivilisten als Militärs hingerichtet wurden, sei eine „Lüge“ gewesen und | |
habe eine „Doppelmoral“ offenbart. | |
Noch drei Wochen vor der Reise hätte er nicht gedacht, dass er zum IS nach | |
Syrien gehen würde, sagt Harry S. bei seinem letzten Wort vor dem Urteil. | |
Die Bremer Sicherheitsbehörden schätzten das anders ein: Auf ihrem Radar | |
war er mindestens schon seit 2014. Im Januar jenes Jahres hat er auf | |
Facebook ein Foto eines anderen Nutzers geteilt, auf dem eine Reisetasche | |
mit dem Schriftzug des islamischen Glaubensbekenntnisses abgebildet ist, | |
samt fiktivem Reisepass des „Islamischen Staates“ und Flugticket ins | |
Kalifat. „Insha’ Allah, sehr bald!“, kommentiert Harry S. damals. Drei | |
Monate später reist er vom Flughafen Hannover nach Istanbul und will weiter | |
nach Syrien. Der Versuch scheitert, er wird an der Grenze festgenommen. | |
Damals habe er nur humanitäre Hilfe leisten wollen, sagt Harry S. heute. | |
„Auf der syrischen Seite, das war mir wichtig. Zu diesem Zeitpunkt habe ich | |
es als eine islamische Pflicht gesehen.“ Ein Gutachter stützt diese Version | |
vor Gericht, der Grenzübergang, den er nehmen wollte, war zu der Zeit nicht | |
vom IS kontrolliert. | |
Dass man ihm in diesem Fall nichts anderes nachweisen könne, sagt Richter | |
Rühle dazu in seinem Urteil. Zweifel werden Harry S. vor einem | |
demokratischen Gericht zu seinen Gunsten ausgelegt und ebenso, dass er Reue | |
zeigt. | |
In [5][Online-Kommentaren] zu Berichten über seinen Fall wird ihm nicht so | |
viel Verständnis zuteil. Die Gruppe, der er sich angeschlossen hat, ist | |
diejenige, die westliche Werte derzeit wohl am krassesten negiert. Zum | |
Repertoire der Terrormiliz gehören Selbstmordanschläge, systematische | |
Tötungen von Geiseln, Vergewaltigung und Versklavung von Frauen. Außerdem | |
betreibt man eine gut organisierte Medienstelle, die für Propaganda-Zwecke | |
mordet. Menschenverachtung als Programm. | |
## Was brachte Harry S. dazu, sich dem IS anzuschließen? | |
Harry S. sagt, die salafistische Ideologie hätte im krassen Gegensatz zu | |
seiner vorherigen Lebensführung und seinen Werten gestanden. Geboren 1988 | |
als Kinder ghanaischer Eltern in Bremen, wächst Harry S. im Stadtteil | |
Osterholz-Tenever in schwierigen Verhältnissen auf. Seinen Vater lernt er | |
erst spät kennen. Seine streng-christliche Mutter schickt ihn in einen | |
katholischen Kindergarten und später auf die katholische Privatschule St. | |
Johann in der Bremer Innenstadt. 2006, als Harry S. in der 9. Klasse ist, | |
zieht die Familie nach London. Er hat dort zunächst Probleme, Fuß zu | |
fassen. Auf einem technischen College im Osten der Stadt studiert er | |
Ingenieurwesen, arbeitet nebenbei im Imbiss eines deutschen Auswanderers | |
und anschließend in einem Baumarkt. | |
Auf dem College lernt er muslimische Kommilitonen kennen, die ihm ihren | |
Glauben näherbringen. Er liest den Koran, ist fasziniert – und konvertiert. | |
Das führt zunächst zum Zerwürfnis mit seiner Mutter, die ihn kurzzeitig | |
rausschmeißt. Harry S. wird für ein paar Tage obdachlos und kommt in einer | |
Moschee-Gemeinde unter. | |
Dann, 2010, stirbt sein bester Freund in Bremen. „Das hat mein Leben aus | |
den Fugen gebracht“, sagt Harry S. heute. Er reist für einige Tage nach | |
Bremen zurück. Freunde von früher überreden ihn zu einer Straftat: Im | |
Januar 2011 überfällt er mit ihnen einen Supermarkt. Er wird erwischt und | |
zu zwei Jahren auf Bewährung und einer Geldstrafe verurteilt. „Diesen | |
Auflagen bin ich leider nicht nachgekommen“, sagt er im Prozess. Im | |
November 2012 folgt die Haftstrafe. Der Raub? Sei eine Dummheit gewesen, | |
erklärt Harry S., er habe nicht nachgedacht, es ging ums schnelle Geld. Von | |
der Beute machte er einen Kurzurlaub auf Gran Canaria. | |
## Ein ganz normaler Moslem | |
„Zu dieser Zeit war ich noch ein ganz normaler Moslem“, sagt Harry S.. Doch | |
im Gefängnis wird er sich verändern. In der Bremer Justizvollzugsanstalt | |
Oslebshausen lernt der damals 20-Jährige den als „Emir von Gröpelingen“ | |
bekannten deutsch-malaysischen Salafisten René Marc S. kennen. Der ist in | |
Haft, weil er im Auftrag der „Globalen Islamischen Medienfront“ Propaganda | |
für al-Qaida verbreitete. Er ist Führungsfigur und Gründer des | |
islamistischen „Kultur- und Familienvereins“ samt Moschee in | |
Bremen-Gröpelingen. | |
Als René Marc S. im Februar 2016 nach drei Jahren frei kommt, gilt er den | |
Behörden noch immer als einer der gefährlichsten Salafisten den Landes. Es | |
entbrennt eine Diskussion über den Umgang mit haftentlassenen Islamisten: | |
Der Bremer Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) fordert, [6][verurteilten | |
„Gefährdern“ wie ihm Fußfesseln anzulegen]. Rechtlich gibt es dafür | |
[7][keine Grundlage]. Im April 2016 kommt es bei René Marc S. und anderen | |
zu Hausdurchsuchungen. Er soll ein Mordkomplott gegen ehemalige Mitstreiter | |
aus der Moschee geplant haben. Der Polizei macht er [8][Vorwürfe, ihn im | |
Polizeigewahrsam schwer verletzt zu haben]. | |
## Eine Welt aus Gläubigen und Ungläubigen | |
René Marc S. habe ihm im Gefängnis „eine Art Crashkurs in die Ideologie | |
gegeben“, sagt Harry S. Er habe ihn eine Unterscheidung zwischen Liebe und | |
Hass, eine Trennung in Gläubige und Ungläubige gelehrt, sei wie ein großer | |
Bruder gewesen, nahm den Platz seines verstorbenen Freundes ein. „Sobald du | |
hier rauskommst, solltest du die Moschee in Gröpelingen besuchen“, hatte | |
René Marc S. zu ihm gesagt. | |
Harry S. tut, was er sagt. In der Moschee trifft er Freunde von früher. Er | |
erfährt, wie ausschließend diese Ideologie tatsächlich ist. „In der Haft | |
haben wir noch alle zusammen gekocht“, sagt er. Draußen sollte er sich nun | |
von Leuten fernhalten, die nicht seinem Glauben folgten. Für die Bremer | |
Bierbrauerei Beck’s darf er nicht mehr arbeiten, weil Alkohol verboten ist. | |
Sogar Fußballspielen ist für Harry S., den begnadeten Torwart, von nun an | |
tabu. | |
Später wird der Richter in seinem Urteil sagen, dass sich mit der Haft im | |
November 2011 eine Spirale in Gang setzte, die letztendlich zur Reise nach | |
Syrien geführt habe. Für Harry S. scheint demnach zu gelten, was auch bei | |
anderen dschihadistischen Islamisten – vor allem aus Frankreich und Belgien | |
– beobachtet wurde: Der Knast war ihre Brutstätte. Die Pariser | |
Charlie-Hebdo-Attentäter lernten sich im Gefängnis kennen, auch Ibrahim und | |
Khalid El-Bakraoui, die Attentäter von Brüssel, waren zu Haftstrafen | |
verurteilt worden. | |
Viele der Syrien-Ausreisenden kämen aus dem kriminellen Milieu, sagt der | |
Politikwissenschaftler und Sozialpädagoge [9][Thomas Mücke 2015 im | |
Interview mit der taz]. Er leitet das Violence Prevention Network, das seit | |
2001 [10][Deradikalisierungstrainings] anbietet und auf dem Gebiet als | |
Vorbild gilt. Junge Menschen, die in ihrem Leben gescheitert sind und keine | |
gute soziale Perspektive haben, seien besonders anfällig für einfache | |
Ideologien, sagt er. Islamisten würden im Gefängnis von außen unterstützt, | |
im Knast gebe es informelle Netzwerke: Wer von seiner Ideologie überzeugt | |
sei, würde dort auch rekrutieren. Das sei eine Gefahr im Strafvollzug. | |
Laut einem Bericht des Bundeskriminalamts von 2015 ist das Problem in | |
Deutschland noch überschaubar: Nur elf Ausreisende werden genannt, die im | |
Gefängnis radikalisiert wurden. Dennoch sind die deutschen Justiz- und | |
Sicherheitsbehörden mittlerweile sensibilisiert. Getan werde in diesem | |
Bereich bislang immer noch zu wenig, sagt Thomas Mücke. | |
Was beim Islamismus als Mechanismus greift, kritisieren fortschrittliche | |
Kriminologen für die totale Institution Gefängnis insgesamt: Es beginnt ein | |
Aufschaukelungsprozess. Die Sanktion verhindert nicht die weitere Straftat, | |
sondern wird zu ihrer Ursache. | |
Schon auf seinen ersten Freigängen macht sich Harry S. zu Besuchen im | |
Kultur- und Familienverein auf. Ab seiner Freilassung im November 2013 | |
besucht er regelmäßig das Freitagsgebet. Etwa 60 der rund 360 Salafisten in | |
Bremen gehen dort mit ihm hin. Doch nicht nur im von Armut geprägten Bremer | |
Stadtteil Gröpelingen hat der [11][Kultur- und Familienverein eine | |
Sogwirkung]. Dschihadisten aus ganz Deutschland und Europa reisen in die | |
Räume des ehemaligen Kindergartens. Sie hören Predigten über Juden und | |
Christen als „Hunde und Ratten“, darüber, dass es für Eltern eine Ehre se… | |
wenn ihre Kinder am Dschihad teilnehmen, dem bewaffneten Kampf. Dass ein | |
gläubiger Moslem nicht unter Ungläubigen leben dürfe. | |
Gläubige und Ungläubige, Liebe und Hass – was Harry S. von René Marc S. | |
gelernt hat, ist eine besonders radikale Form des Salafismus: die Lehre der | |
[12][Takfir-Bewegung]. Laut Bremer Innenressort war der Kultur- und | |
Familienverein die erste Moschee dieser Ideologie-Richtung in Deutschland. | |
„Takfir“ bedeutet, jemandem zum Ungläubigen zu erklären – in diesem Fall | |
fast alle, Muslime und Nicht-Muslime, die sich der Ideologie nicht | |
anschließen. | |
Laut Erkenntnissen des Bremer Innenressorts wurde auch Besuchern des | |
Freitagsgebets in der Moschee immer wieder das Bedrohungsszenario | |
vermittelt, selbst ungläubig zu werden, sollte man das deutsche politische | |
System anerkennen oder sich der hiesigen Gesellschaft anpassen. Das ging so | |
weit, dass Anhänger des Vereins sich bei einer Verkehrskontrolle wehrten: | |
„Eure Gesetze beachte ich nicht“, sagte einer zur Polizei, „wir leben nach | |
dem Recht der Scharia.“ Ein Vorfall, wie er in ähnlicher Weise auch von | |
Harry S. bekannt ist. | |
## Vereinsverbot durch Innensenator | |
Im November 2014 wird der Verein vom Bremer Innensenator verboten. In der | |
Verbotsverfügung heißt es: Der Verein habe eine „aggressiv-kämpferische | |
Grundhaltung“, er rufe zum Hass gegen Angehörige anderer Religionen auf und | |
stachele zu terroristischen Handlungen an. Neun Männer, sieben Frauen und | |
elf Kinder seien zum Zeitpunkt des Verbots aus dem Umfeld des Vereins | |
ausgereist, um sich an Kampfhandlungen in Syrien und dem Irak zu | |
beteiligen. | |
2008 hatte sich der Kultur- und Familienverein vom „Islamischen | |
Kulturzentrum“ (IKZ) in Bremen abgespalten. Die Gründungsmitglieder warfen | |
ihren einstigen Glaubensbrüdern vor, sich auf einem islamischen Irrweg zu | |
befinden. | |
Obwohl das Islamische Kulturzentrum seither beteuert, mit derartiger | |
Spielart des Islamismus nichts zu tun zu haben, sind auch deren Anhänger | |
bis heute im Blick der Bremer Polizei und unter genauer Beobachtung durch | |
den Verfassungsschutz. Beim Alarm wegen angeblicher Anschlagspläne in | |
Frühjahr 2015 in Bremen richtete sich der Fokus auf die Moschee des IKZ | |
unweit des Hauptbahnhofs. Ein Haufen Uzi-Maschinenpistolen sollte hier für | |
einen Anschlag versteckt worden sein. Die Räume wurden gestürmt, | |
[13][gefunden wurde nichts]. Die Durchsuchung war nicht rechtmäßig, stellte | |
das Landgericht Bremern später fest – [14][nicht der einzige Fehlgriff der | |
Bremer Polizei an jenem Wochenende]. | |
Harry S. fühlte sich angezogen von den Gelehrten und Belesenen der | |
Takfir-Bewegung. Ende 2013 reist er nach Wien, um den Prediger Abu Hamzah | |
al-Afghani zu sehen. Der kritisiert Vorgänge in der Gröpelinger Moschee. | |
Zurück in Bremen streitet sich Harry S. in der Gemeinde und bekommt | |
Moscheeverbot. Dennoch reist er im März 2014 mit anderen aus dem Kultur- | |
und Familienverein nach Mekka. Hier trifft er auch den [15][salafistischen | |
Prediger Pierre Vogel]. | |
Einen Monat später unternimmt er den ersten Reiseversuch nach Syrien, | |
jenen, wo er nur humanitäre Hilfe leisten wollte. Nach der Rückkehr | |
heiratet Harry S. nach islamischen Recht, findet eine neue Wohnung und will | |
einen Neuanfang versuchen. Er sei zu dem Zeitpunkt auf einem guten Weg | |
gewesen, sagt Harry S. im Prozess. Doch der Reiseversuch nach Syrien hatte | |
Konsequenzen: „In den Augen ihrer Umwelt waren Sie derjenige, der sich mit | |
dem Terror einlässt“, sagt Richter Rühle. Die Behörden entziehen Harry S. | |
den Reisepass. Als 2014 der Kultur-und Familienverein verboten wird, hört | |
er im Fernsehen von Wohnungsdurchsuchungen. Harry erzählt, wie auch seine | |
neu eingerichtete Wohnung zerstört wurde. | |
## In die Ecke gedrängt | |
„Mann, Harry, was ist los hier“, habe ein Nachbar zu ihm gesagt. Die Leute | |
veränderten sich und wurden misstrauisch, sagt er im Prozess. „Und immer | |
wieder der Spruch, dass wir Muslime in diesem Land nichts zu suchen haben.“ | |
Er fühlt sich in die Ecke gedrängt. Am 30. März 2015 kam es zu einer | |
erneuten Durchsuchung, diesmal wegen Raubes. Dass er Terrorverdächtiger | |
sei, hätten die Beamte ihm vorgehalten. Was er „hier“ wolle, hätten sie i… | |
gefragt, erzählt sein Anwalt Udo Würtz der taz. Würtz beschreibt die Zeit | |
als von „Stigmatisierung“ geprägt, spricht von „Schikane“ durch die Po… | |
– und davon, dass dies seinen Mandanten letztendlich so emotionalisiert | |
habe, dass er aus Deutschland weg wollte. | |
Harry S. Freund Adnan S., der mit ihm im Kultur- und Familienverein war, | |
hatte ihm schon früher gesagt: „Die wollen nicht, dass Muslime hier frei | |
leben können.“ Adnan S. fragt ihn, ob er mit ihm ausreist. Diesmal trifft | |
das Angebot auf fruchtbaren Boden. Der Richter nennt Adnan S. einen | |
„Mephisto“, der Harry S. verleitete. Einen Tag später machen die beiden | |
Ernst: Harry S. besorgt sich den Pass eines Verwandten und sie reisen | |
gemeinsam aus. | |
Die Infrastruktur dafür steht: In Hamburg gibt ein Kontaktmann ihnen Geld | |
für ihr Auto, nach dem Weg über Österreich, Ungarn und Bulgarien werden sie | |
von IS-Leuten in einem „Safe-House“ schon in der Türkei in Empfang | |
genommen. Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass Harry S. zusammen mit | |
Adnan S. am 6. April 2015 in die terroristischen Vereinigung „Islamischer | |
Staat Irak und Großsyrien“ eingetreten ist. | |
Drei Monate später ist der Weg zurück für Harry S. sehr viel schwieriger. | |
Der IS-Machthaber an der Grenze will ihn nicht durchlassen, er lädt sich | |
Landkarten von Google im Internet-Café runter, kontaktiert seine Frau: | |
„Wenn du in den nächsten 48 Stunden nichts von mir hörst, leb’ dein Leben… | |
Und er nimmt über sie Kontakt zu seinem Anwalt Würtz auf. Ihr Verhältnis | |
ist eng, schon Jahre vorher hatten sie sich zufällig kennengelernt und | |
immer wieder in einer lockeren Runde miteinander Fußball gespielt. Doch | |
Würtz kann ihm nicht helfen, auch er kennt niemanden, der ihn aus Syrien | |
rauszuholen vermag. | |
## Nur noch raus | |
Er habe viele junge Leute in Syrien getroffen, die nur noch raus wollen, | |
aber keine Ausweg kennen, sagt Harry S. Er kauft sich etwas Wasser, trägt | |
einen Jogginganzug und seine Waffe und macht sich zu Fuß auf den Weg. Über | |
Stunden verbringt er Zeit im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Immer wieder | |
wird er entdeckt, wird beschossen. Er tarnt sich mit Schlamm. Bis er einen | |
Beduinen trifft, der ihm den Weg zeigt: „30 Minuten in diese Richtung, dann | |
bist du in der Türkei.“ | |
Im Juni 2015 geht er ins deutsche Konsulat in Izmir und sagt, er habe | |
seinen deutschen Pass verloren. Er tritt aus dem Schatten ins Blickfeld der | |
Behörden. Im Juli 2015 wird er direkt nach der Ankunft am Bremer Flughafen | |
festgenommen. | |
Seitdem ist er in Haft. Im Oktober 2015 wird er zunächst vom | |
Verfassungsschutz verhört. Der Polizei in Bremen traut er nicht. | |
Schließlich kommt es auch zu stundenlangen Sitzungen mit dem LKA. 700 | |
Seiten an geheimdienstlichen Informationen, Hinweise über IS-Strukturen, | |
Morde und Massenmorde. | |
Harry S. wird aus der JVA Bremen in den Hochsicherheitstrakt in Oldenburg | |
verlegt. Dort sei man mit sich und seinem Atem allein, sagt sein Anwalt | |
Würtz, es sei ein Isolationstrakt der Art, wie er in der RAF-Zeit | |
entstanden ist. In seinem Plädoyer spricht er auch über die | |
Haftbedingungen. Und darüber, dass es letztendlich der Bremer Innensenator | |
gewesen sei, der eine Verlegung seines Mandanten in die normale | |
Justizvollzugsanstalt in Bremen verhindert habe, obwohl dem nach dem | |
Geständnis nichts mehr im Weg stand. | |
Der Innensenator führte an, es sei für Harry S. im normalen Vollzug zu | |
gefährlich. Anwalt Würtz sieht dafür keine konkreten Anhaltspunkte. Er | |
spricht von „politischem Kalkül“: Mit der Gefahr lasse sich eine harte | |
Gangart besser verkaufen. | |
Harry S. ist mittlerweile wieder im Hochsicherheitstrakt. Das Urteil ist | |
rechtskräftig. Anwalt Würtz hofft, dass er schnellstmöglich in den normalen | |
Vollzug verlegt wird. Harry S. will helfen, dass andere es ihm nicht | |
gleichtun, will Jugendliche vor der Ausreise warnen. Es sollen nicht immer | |
noch mehr Kämpfer werden. Eine Zusammenarbeit mit einem Präventionsprojekt | |
ist in Planung. Irgendwie soll das gehen, auch hinter Gittern. | |
13 Jul 2016 | |
## LINKS | |
[1] /Urteil-gegen-Bremer-IS-Aussteiger/!5315745 | |
[2] /Klage-gegen-Syrien-Rueckkehrer/!5311289 | |
[3] http://www.radiobremen.de/politik/nachrichten/salafisten136.html | |
[4] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-08/islamischer-staat-video-deut… | |
[5] http://www.bento.de/politik/islamischer-staat-darum-geht-es-im-prozess-gege… | |
[6] /Bekaempfung-des-Islamismus/!5284461 | |
[7] /Islamist-nach-der-Haft/!5287293 | |
[8] /Debatte-ueber-angebliche-Polizeigewalt/!5297303 | |
[9] /Radikalisierung-im-Gefaengnis/!5021415 | |
[10] /Praevention-gegen-Radikalisierung/!5252305 | |
[11] /Gruene-fuer-Vereinsverbot/!5030389 | |
[12] http://www.hamburg.de/innenbehoerde/islamismus/499906/takfir-ideologie/ | |
[13] /Feindbilder-des-Staatsschutzes/!5255978 | |
[14] /Befragung/!5252798 | |
[15] /Islamismus-in-Deutschland/!5306582 | |
## AUTOREN | |
Lena Kaiser | |
Jean-Philipp Baeck | |
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Geheimdienst rapportiert: Spione klären auf | |
Der Verfassungsschutz verzeichnet den Rückgang islamistischer und | |
rechtsextremer Organisationen – dafür aber umso gefährlichere Einzelgänger. |