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# taz.de -- IS-Rückkehrer Harry S.: Der Kronzeuge des Terrors
> Vor Gericht wirkt Harry S. wie ein netter Junge. Doch er ist nach Syrien
> gereist, um für den IS zu kämpfen. Wie kam es dazu?
Bild: Einmal Dschihad und zurück: Harry S. ist auf dem hinteren Truck mit Fahn…
HAMBURG/BREMEN taz | Von Tag zu Tag werden es mehr Kämpfer. Mit Autos
werden sie in die Wüste gefahren, ins Ausbildungscamp einer Spezialeinheit
der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS), unweit von Ar-Rakka in Syrien.
Auf 60 Leute wächst die Gruppe an, dann wird sie aufgeteilt. Einer von
ihnen ist der Bremer Harry S. Gleich als er in Syrien ankam, wurde er
gefragt, ob er bereit ist, Anschläge in Deutschland zu verüben. Deutsche
würden dafür noch gesucht, „Franzosen, die bereit sind zu sterben, haben
wir mehr als genug“, so hatten die beiden Islamisten ihn empfangen, die
selbst aus Marseille stammen – nun Männer vom Geheimdienst des IS. Aber
Harry S. wollte nicht.
Trotzdem schaffte er es ins Ausbildungscamp der Spezialeinheit, die bei der
Eroberung von Städten wie Kobane hinter den feindlichen Linien kämpfen
soll. Ein Training in zehn Stufen, Ideologietest, Nahkampf-Übungen, mit
Gewehr durch den Sand robben, kaum Wasser, nur wenig zu essen, Duschverbot.
Wer aus der Reihe fällt, wird öffentlich ausgepeitscht.
Über Details aus dem Innenleben der Terrormiliz IS erfährt man sonst wenig.
Doch Harry S. erzählt. Stundenlang. Ende Juni, Anfang Juli 2016 sitzt er
auf der [1][Anklagebank des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg].
In seiner Jeans und dem hellen, lockeren Hemd will er so gar nicht in das
Bild eines islamistischen Unsympathen passen, das man sich unter einem
„IS-Rückkehrer“ vorstellt. Wenn Harry S. heute über seine Zeit beim IS
berichtet, zieht er den Gerichtssaal in seinen Bann. Er wirkt nachdenklich,
moralisch gefestigt, seine Formulierungen sind klar und geradeaus.
Harry S. hat gebrochen mit der Ideologie des Dschihad, [2][will öffentlich
auftreten, sein Gesicht zeigen] und andere vor einer Radikalisierung
warnen. Das macht aus ihm einen Kronzeugen und Hoffnungsträger. Weil er
kooperiert, wurde der heute 27-Jährige am Dienstag vergangener Woche nach
nur vier Verhandlungstagen wegen Mitgliedschaft in der ausländischen
Terrorvereinigung und Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz zu
drei Jahren Haft verurteilt. Anklage und Urteil basierten im Wesentlichen
auf dem, was Harry S. aussagte – es gibt nur seine Version der Geschichte.
Die überschaubaren eigenen Erkenntnisse von Polizei und Geheimdienst decken
sich mit dem, was er sagt. Ermittler, Bundesanwälte und Richter glauben
ihm.
## Krankgeschrieben vom IS
Von April bis Juni 2015 war Harry S. beim IS in Syrien. Ermordet, sagt er,
hat er in der Zeit niemanden. Ein Kalaschnikow-Sturmgewehr wurde ihm
ausgehändigt, zu Trainingszwecken, ohne Munition. Und später eine
Beretta-Pistole, diesmal mit Patronen. Erste Zweifel kamen ihm, als er in
Ar-Rakka ins Hospital muss, „vom IS krankgeschrieben“, wie er erzählt, und
den vielen Verwundeten begegnet. Die hatten genug. Auch Harry S. sieht die
andere Seite von Terror und Krieg. Als für ihn das Training weitergeht,
knickt sein Fuß gleich wieder um. Nun hat auch er keine Lust mehr auf die
Kampfausbildung. Er sagt, dass er verheiratet ist, und fliegt aus der
Ausbildung. Den Ausweg hatte ihm jemand im Krankenhaus aufgezeigt.
Verheirateten ist die Einheit verboten.
Harry S. will nun lieber als Ingenieur die Städte für den IS wieder
aufbauen und reist in den Irak. Ein Hamburger betreibt dort für die
Terroristen eine Sportschule – für Jungen zwischen 14 und 16 Jahren. Harry
S. will hier unterrichten, für die Genehmigung muss er zurück nach
Ar-Rakka. Auch die Schlächter legen Wert auf Bürokratie. Schon als er
ankam, wurden die persönlichen Daten von Harry S. – Familienangehörige,
Kontaktpersonen, Blutgruppe, Ausbildungsstand – von einem IS-Mann in den
Computer eingegeben.
An einem Morgen kommt dann die Nachricht: Alle Deutschen sollen sich
sammeln, etwas Schwarzes anziehen. Harry S. hat nur den Tarnanzug, der ihm
am Anfang ausgehändigt wurde. Nur zwei Leute wissen, worum es geht. Mit
Pick-up-Trucks werden sie abgeholt und von Ar-Rakka nach Palmyra gefahren.
Erst kurz zuvor war die antike Stadt mit den Tempelruinen vom IS
eingenommen worden, was im Westen für Aufsehen gesorgt hatte.
Die Deutschen werden für den Dreh eines [3][Propaganda-Videos gebraucht],
in dem Harry S. später mit seinem Tarnanzug zu sehen sein wird.
Sieben Gefangene werden vorgeführt. Wer Lust habe, sie hinzurichten, wird
gefragt. Nur Harry S. will das nicht. Dafür soll er reden, vor der Kamera,
„ein Schwarzer aus Deutschland, das kommt gut“, wurde ihm gesagt. Auch das
will er nicht. Schließlich trägt er die schwarze Fahne des IS durchs Bild,
ein paar Sekunden ist er zu sehen. In dem fünfminütigen Film wird Kanzlerin
Merkel bedroht und es wird zu [4][Anschlägen in Deutschland aufgerufen]. Es
gilt als eines der wichtigsten Rekrutierungsvideos in deutscher Sprache.
## Ekelhaftes Spiel
Für den Dreh werden den Gefangenen Uniformen angezogen. Einer von ihnen
fleht, er sei nicht von Assad, er sei auch Sunnit. Bevor er weiter sprechen
kann, wird er erschossen. Durchlöchert, auch als er schon am Boden liegt.
Im Film wird schließlich eine andere Hinrichtungsszene gezeigt. Als Harry
S. das Erlebte im Hamburger Gerichtssaal schildert, merkt man ihm seine
Erschütterung an. Ob ihn das wirklich überrascht habe, will der vorsitzende
Richter Klaus Rühle von ihm wissen: „Wir kennen doch eine Fülle von
Hinrichtungsvideos“. Harry S. spricht von einem „ekelhaften Spiel“. Dass
Zivilisten als Militärs hingerichtet wurden, sei eine „Lüge“ gewesen und
habe eine „Doppelmoral“ offenbart.
Noch drei Wochen vor der Reise hätte er nicht gedacht, dass er zum IS nach
Syrien gehen würde, sagt Harry S. bei seinem letzten Wort vor dem Urteil.
Die Bremer Sicherheitsbehörden schätzten das anders ein: Auf ihrem Radar
war er mindestens schon seit 2014. Im Januar jenes Jahres hat er auf
Facebook ein Foto eines anderen Nutzers geteilt, auf dem eine Reisetasche
mit dem Schriftzug des islamischen Glaubensbekenntnisses abgebildet ist,
samt fiktivem Reisepass des „Islamischen Staates“ und Flugticket ins
Kalifat. „Insha’ Allah, sehr bald!“, kommentiert Harry S. damals. Drei
Monate später reist er vom Flughafen Hannover nach Istanbul und will weiter
nach Syrien. Der Versuch scheitert, er wird an der Grenze festgenommen.
Damals habe er nur humanitäre Hilfe leisten wollen, sagt Harry S. heute.
„Auf der syrischen Seite, das war mir wichtig. Zu diesem Zeitpunkt habe ich
es als eine islamische Pflicht gesehen.“ Ein Gutachter stützt diese Version
vor Gericht, der Grenzübergang, den er nehmen wollte, war zu der Zeit nicht
vom IS kontrolliert.
Dass man ihm in diesem Fall nichts anderes nachweisen könne, sagt Richter
Rühle dazu in seinem Urteil. Zweifel werden Harry S. vor einem
demokratischen Gericht zu seinen Gunsten ausgelegt und ebenso, dass er Reue
zeigt.
In [5][Online-Kommentaren] zu Berichten über seinen Fall wird ihm nicht so
viel Verständnis zuteil. Die Gruppe, der er sich angeschlossen hat, ist
diejenige, die westliche Werte derzeit wohl am krassesten negiert. Zum
Repertoire der Terrormiliz gehören Selbstmordanschläge, systematische
Tötungen von Geiseln, Vergewaltigung und Versklavung von Frauen. Außerdem
betreibt man eine gut organisierte Medienstelle, die für Propaganda-Zwecke
mordet. Menschenverachtung als Programm.
## Was brachte Harry S. dazu, sich dem IS anzuschließen?
Harry S. sagt, die salafistische Ideologie hätte im krassen Gegensatz zu
seiner vorherigen Lebensführung und seinen Werten gestanden. Geboren 1988
als Kinder ghanaischer Eltern in Bremen, wächst Harry S. im Stadtteil
Osterholz-Tenever in schwierigen Verhältnissen auf. Seinen Vater lernt er
erst spät kennen. Seine streng-christliche Mutter schickt ihn in einen
katholischen Kindergarten und später auf die katholische Privatschule St.
Johann in der Bremer Innenstadt. 2006, als Harry S. in der 9. Klasse ist,
zieht die Familie nach London. Er hat dort zunächst Probleme, Fuß zu
fassen. Auf einem technischen College im Osten der Stadt studiert er
Ingenieurwesen, arbeitet nebenbei im Imbiss eines deutschen Auswanderers
und anschließend in einem Baumarkt.
Auf dem College lernt er muslimische Kommilitonen kennen, die ihm ihren
Glauben näherbringen. Er liest den Koran, ist fasziniert – und konvertiert.
Das führt zunächst zum Zerwürfnis mit seiner Mutter, die ihn kurzzeitig
rausschmeißt. Harry S. wird für ein paar Tage obdachlos und kommt in einer
Moschee-Gemeinde unter.
Dann, 2010, stirbt sein bester Freund in Bremen. „Das hat mein Leben aus
den Fugen gebracht“, sagt Harry S. heute. Er reist für einige Tage nach
Bremen zurück. Freunde von früher überreden ihn zu einer Straftat: Im
Januar 2011 überfällt er mit ihnen einen Supermarkt. Er wird erwischt und
zu zwei Jahren auf Bewährung und einer Geldstrafe verurteilt. „Diesen
Auflagen bin ich leider nicht nachgekommen“, sagt er im Prozess. Im
November 2012 folgt die Haftstrafe. Der Raub? Sei eine Dummheit gewesen,
erklärt Harry S., er habe nicht nachgedacht, es ging ums schnelle Geld. Von
der Beute machte er einen Kurzurlaub auf Gran Canaria.
## Ein ganz normaler Moslem
„Zu dieser Zeit war ich noch ein ganz normaler Moslem“, sagt Harry S.. Doch
im Gefängnis wird er sich verändern. In der Bremer Justizvollzugsanstalt
Oslebshausen lernt der damals 20-Jährige den als „Emir von Gröpelingen“
bekannten deutsch-malaysischen Salafisten René Marc S. kennen. Der ist in
Haft, weil er im Auftrag der „Globalen Islamischen Medienfront“ Propaganda
für al-Qaida verbreitete. Er ist Führungsfigur und Gründer des
islamistischen „Kultur- und Familienvereins“ samt Moschee in
Bremen-Gröpelingen.
Als René Marc S. im Februar 2016 nach drei Jahren frei kommt, gilt er den
Behörden noch immer als einer der gefährlichsten Salafisten den Landes. Es
entbrennt eine Diskussion über den Umgang mit haftentlassenen Islamisten:
Der Bremer Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) fordert, [6][verurteilten
„Gefährdern“ wie ihm Fußfesseln anzulegen]. Rechtlich gibt es dafür
[7][keine Grundlage]. Im April 2016 kommt es bei René Marc S. und anderen
zu Hausdurchsuchungen. Er soll ein Mordkomplott gegen ehemalige Mitstreiter
aus der Moschee geplant haben. Der Polizei macht er [8][Vorwürfe, ihn im
Polizeigewahrsam schwer verletzt zu haben].
## Eine Welt aus Gläubigen und Ungläubigen
René Marc S. habe ihm im Gefängnis „eine Art Crashkurs in die Ideologie
gegeben“, sagt Harry S. Er habe ihn eine Unterscheidung zwischen Liebe und
Hass, eine Trennung in Gläubige und Ungläubige gelehrt, sei wie ein großer
Bruder gewesen, nahm den Platz seines verstorbenen Freundes ein. „Sobald du
hier rauskommst, solltest du die Moschee in Gröpelingen besuchen“, hatte
René Marc S. zu ihm gesagt.
Harry S. tut, was er sagt. In der Moschee trifft er Freunde von früher. Er
erfährt, wie ausschließend diese Ideologie tatsächlich ist. „In der Haft
haben wir noch alle zusammen gekocht“, sagt er. Draußen sollte er sich nun
von Leuten fernhalten, die nicht seinem Glauben folgten. Für die Bremer
Bierbrauerei Beck’s darf er nicht mehr arbeiten, weil Alkohol verboten ist.
Sogar Fußballspielen ist für Harry S., den begnadeten Torwart, von nun an
tabu.
Später wird der Richter in seinem Urteil sagen, dass sich mit der Haft im
November 2011 eine Spirale in Gang setzte, die letztendlich zur Reise nach
Syrien geführt habe. Für Harry S. scheint demnach zu gelten, was auch bei
anderen dschihadistischen Islamisten – vor allem aus Frankreich und Belgien
– beobachtet wurde: Der Knast war ihre Brutstätte. Die Pariser
Charlie-Hebdo-Attentäter lernten sich im Gefängnis kennen, auch Ibrahim und
Khalid El-Bakraoui, die Attentäter von Brüssel, waren zu Haftstrafen
verurteilt worden.
Viele der Syrien-Ausreisenden kämen aus dem kriminellen Milieu, sagt der
Politikwissenschaftler und Sozialpädagoge [9][Thomas Mücke 2015 im
Interview mit der taz]. Er leitet das Violence Prevention Network, das seit
2001 [10][Deradikalisierungstrainings] anbietet und auf dem Gebiet als
Vorbild gilt. Junge Menschen, die in ihrem Leben gescheitert sind und keine
gute soziale Perspektive haben, seien besonders anfällig für einfache
Ideologien, sagt er. Islamisten würden im Gefängnis von außen unterstützt,
im Knast gebe es informelle Netzwerke: Wer von seiner Ideologie überzeugt
sei, würde dort auch rekrutieren. Das sei eine Gefahr im Strafvollzug.
Laut einem Bericht des Bundeskriminalamts von 2015 ist das Problem in
Deutschland noch überschaubar: Nur elf Ausreisende werden genannt, die im
Gefängnis radikalisiert wurden. Dennoch sind die deutschen Justiz- und
Sicherheitsbehörden mittlerweile sensibilisiert. Getan werde in diesem
Bereich bislang immer noch zu wenig, sagt Thomas Mücke.
Was beim Islamismus als Mechanismus greift, kritisieren fortschrittliche
Kriminologen für die totale Institution Gefängnis insgesamt: Es beginnt ein
Aufschaukelungsprozess. Die Sanktion verhindert nicht die weitere Straftat,
sondern wird zu ihrer Ursache.
Schon auf seinen ersten Freigängen macht sich Harry S. zu Besuchen im
Kultur- und Familienverein auf. Ab seiner Freilassung im November 2013
besucht er regelmäßig das Freitagsgebet. Etwa 60 der rund 360 Salafisten in
Bremen gehen dort mit ihm hin. Doch nicht nur im von Armut geprägten Bremer
Stadtteil Gröpelingen hat der [11][Kultur- und Familienverein eine
Sogwirkung]. Dschihadisten aus ganz Deutschland und Europa reisen in die
Räume des ehemaligen Kindergartens. Sie hören Predigten über Juden und
Christen als „Hunde und Ratten“, darüber, dass es für Eltern eine Ehre se…
wenn ihre Kinder am Dschihad teilnehmen, dem bewaffneten Kampf. Dass ein
gläubiger Moslem nicht unter Ungläubigen leben dürfe.
Gläubige und Ungläubige, Liebe und Hass – was Harry S. von René Marc S.
gelernt hat, ist eine besonders radikale Form des Salafismus: die Lehre der
[12][Takfir-Bewegung]. Laut Bremer Innenressort war der Kultur- und
Familienverein die erste Moschee dieser Ideologie-Richtung in Deutschland.
„Takfir“ bedeutet, jemandem zum Ungläubigen zu erklären – in diesem Fall
fast alle, Muslime und Nicht-Muslime, die sich der Ideologie nicht
anschließen.
Laut Erkenntnissen des Bremer Innenressorts wurde auch Besuchern des
Freitagsgebets in der Moschee immer wieder das Bedrohungsszenario
vermittelt, selbst ungläubig zu werden, sollte man das deutsche politische
System anerkennen oder sich der hiesigen Gesellschaft anpassen. Das ging so
weit, dass Anhänger des Vereins sich bei einer Verkehrskontrolle wehrten:
„Eure Gesetze beachte ich nicht“, sagte einer zur Polizei, „wir leben nach
dem Recht der Scharia.“ Ein Vorfall, wie er in ähnlicher Weise auch von
Harry S. bekannt ist.
## Vereinsverbot durch Innensenator
Im November 2014 wird der Verein vom Bremer Innensenator verboten. In der
Verbotsverfügung heißt es: Der Verein habe eine „aggressiv-kämpferische
Grundhaltung“, er rufe zum Hass gegen Angehörige anderer Religionen auf und
stachele zu terroristischen Handlungen an. Neun Männer, sieben Frauen und
elf Kinder seien zum Zeitpunkt des Verbots aus dem Umfeld des Vereins
ausgereist, um sich an Kampfhandlungen in Syrien und dem Irak zu
beteiligen.
2008 hatte sich der Kultur- und Familienverein vom „Islamischen
Kulturzentrum“ (IKZ) in Bremen abgespalten. Die Gründungsmitglieder warfen
ihren einstigen Glaubensbrüdern vor, sich auf einem islamischen Irrweg zu
befinden.
Obwohl das Islamische Kulturzentrum seither beteuert, mit derartiger
Spielart des Islamismus nichts zu tun zu haben, sind auch deren Anhänger
bis heute im Blick der Bremer Polizei und unter genauer Beobachtung durch
den Verfassungsschutz. Beim Alarm wegen angeblicher Anschlagspläne in
Frühjahr 2015 in Bremen richtete sich der Fokus auf die Moschee des IKZ
unweit des Hauptbahnhofs. Ein Haufen Uzi-Maschinenpistolen sollte hier für
einen Anschlag versteckt worden sein. Die Räume wurden gestürmt,
[13][gefunden wurde nichts]. Die Durchsuchung war nicht rechtmäßig, stellte
das Landgericht Bremern später fest – [14][nicht der einzige Fehlgriff der
Bremer Polizei an jenem Wochenende].
Harry S. fühlte sich angezogen von den Gelehrten und Belesenen der
Takfir-Bewegung. Ende 2013 reist er nach Wien, um den Prediger Abu Hamzah
al-Afghani zu sehen. Der kritisiert Vorgänge in der Gröpelinger Moschee.
Zurück in Bremen streitet sich Harry S. in der Gemeinde und bekommt
Moscheeverbot. Dennoch reist er im März 2014 mit anderen aus dem Kultur-
und Familienverein nach Mekka. Hier trifft er auch den [15][salafistischen
Prediger Pierre Vogel].
Einen Monat später unternimmt er den ersten Reiseversuch nach Syrien,
jenen, wo er nur humanitäre Hilfe leisten wollte. Nach der Rückkehr
heiratet Harry S. nach islamischen Recht, findet eine neue Wohnung und will
einen Neuanfang versuchen. Er sei zu dem Zeitpunkt auf einem guten Weg
gewesen, sagt Harry S. im Prozess. Doch der Reiseversuch nach Syrien hatte
Konsequenzen: „In den Augen ihrer Umwelt waren Sie derjenige, der sich mit
dem Terror einlässt“, sagt Richter Rühle. Die Behörden entziehen Harry S.
den Reisepass. Als 2014 der Kultur-und Familienverein verboten wird, hört
er im Fernsehen von Wohnungsdurchsuchungen. Harry erzählt, wie auch seine
neu eingerichtete Wohnung zerstört wurde.
## In die Ecke gedrängt
„Mann, Harry, was ist los hier“, habe ein Nachbar zu ihm gesagt. Die Leute
veränderten sich und wurden misstrauisch, sagt er im Prozess. „Und immer
wieder der Spruch, dass wir Muslime in diesem Land nichts zu suchen haben.“
Er fühlt sich in die Ecke gedrängt. Am 30. März 2015 kam es zu einer
erneuten Durchsuchung, diesmal wegen Raubes. Dass er Terrorverdächtiger
sei, hätten die Beamte ihm vorgehalten. Was er „hier“ wolle, hätten sie i…
gefragt, erzählt sein Anwalt Udo Würtz der taz. Würtz beschreibt die Zeit
als von „Stigmatisierung“ geprägt, spricht von „Schikane“ durch die Po…
– und davon, dass dies seinen Mandanten letztendlich so emotionalisiert
habe, dass er aus Deutschland weg wollte.
Harry S. Freund Adnan S., der mit ihm im Kultur- und Familienverein war,
hatte ihm schon früher gesagt: „Die wollen nicht, dass Muslime hier frei
leben können.“ Adnan S. fragt ihn, ob er mit ihm ausreist. Diesmal trifft
das Angebot auf fruchtbaren Boden. Der Richter nennt Adnan S. einen
„Mephisto“, der Harry S. verleitete. Einen Tag später machen die beiden
Ernst: Harry S. besorgt sich den Pass eines Verwandten und sie reisen
gemeinsam aus.
Die Infrastruktur dafür steht: In Hamburg gibt ein Kontaktmann ihnen Geld
für ihr Auto, nach dem Weg über Österreich, Ungarn und Bulgarien werden sie
von IS-Leuten in einem „Safe-House“ schon in der Türkei in Empfang
genommen. Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass Harry S. zusammen mit
Adnan S. am 6. April 2015 in die terroristischen Vereinigung „Islamischer
Staat Irak und Großsyrien“ eingetreten ist.
Drei Monate später ist der Weg zurück für Harry S. sehr viel schwieriger.
Der IS-Machthaber an der Grenze will ihn nicht durchlassen, er lädt sich
Landkarten von Google im Internet-Café runter, kontaktiert seine Frau:
„Wenn du in den nächsten 48 Stunden nichts von mir hörst, leb’ dein Leben…
Und er nimmt über sie Kontakt zu seinem Anwalt Würtz auf. Ihr Verhältnis
ist eng, schon Jahre vorher hatten sie sich zufällig kennengelernt und
immer wieder in einer lockeren Runde miteinander Fußball gespielt. Doch
Würtz kann ihm nicht helfen, auch er kennt niemanden, der ihn aus Syrien
rauszuholen vermag.
## Nur noch raus
Er habe viele junge Leute in Syrien getroffen, die nur noch raus wollen,
aber keine Ausweg kennen, sagt Harry S. Er kauft sich etwas Wasser, trägt
einen Jogginganzug und seine Waffe und macht sich zu Fuß auf den Weg. Über
Stunden verbringt er Zeit im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Immer wieder
wird er entdeckt, wird beschossen. Er tarnt sich mit Schlamm. Bis er einen
Beduinen trifft, der ihm den Weg zeigt: „30 Minuten in diese Richtung, dann
bist du in der Türkei.“
Im Juni 2015 geht er ins deutsche Konsulat in Izmir und sagt, er habe
seinen deutschen Pass verloren. Er tritt aus dem Schatten ins Blickfeld der
Behörden. Im Juli 2015 wird er direkt nach der Ankunft am Bremer Flughafen
festgenommen.
Seitdem ist er in Haft. Im Oktober 2015 wird er zunächst vom
Verfassungsschutz verhört. Der Polizei in Bremen traut er nicht.
Schließlich kommt es auch zu stundenlangen Sitzungen mit dem LKA. 700
Seiten an geheimdienstlichen Informationen, Hinweise über IS-Strukturen,
Morde und Massenmorde.
Harry S. wird aus der JVA Bremen in den Hochsicherheitstrakt in Oldenburg
verlegt. Dort sei man mit sich und seinem Atem allein, sagt sein Anwalt
Würtz, es sei ein Isolationstrakt der Art, wie er in der RAF-Zeit
entstanden ist. In seinem Plädoyer spricht er auch über die
Haftbedingungen. Und darüber, dass es letztendlich der Bremer Innensenator
gewesen sei, der eine Verlegung seines Mandanten in die normale
Justizvollzugsanstalt in Bremen verhindert habe, obwohl dem nach dem
Geständnis nichts mehr im Weg stand.
Der Innensenator führte an, es sei für Harry S. im normalen Vollzug zu
gefährlich. Anwalt Würtz sieht dafür keine konkreten Anhaltspunkte. Er
spricht von „politischem Kalkül“: Mit der Gefahr lasse sich eine harte
Gangart besser verkaufen.
Harry S. ist mittlerweile wieder im Hochsicherheitstrakt. Das Urteil ist
rechtskräftig. Anwalt Würtz hofft, dass er schnellstmöglich in den normalen
Vollzug verlegt wird. Harry S. will helfen, dass andere es ihm nicht
gleichtun, will Jugendliche vor der Ausreise warnen. Es sollen nicht immer
noch mehr Kämpfer werden. Eine Zusammenarbeit mit einem Präventionsprojekt
ist in Planung. Irgendwie soll das gehen, auch hinter Gittern.
13 Jul 2016
## LINKS
[1] /Urteil-gegen-Bremer-IS-Aussteiger/!5315745
[2] /Klage-gegen-Syrien-Rueckkehrer/!5311289
[3] http://www.radiobremen.de/politik/nachrichten/salafisten136.html
[4] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-08/islamischer-staat-video-deut…
[5] http://www.bento.de/politik/islamischer-staat-darum-geht-es-im-prozess-gege…
[6] /Bekaempfung-des-Islamismus/!5284461
[7] /Islamist-nach-der-Haft/!5287293
[8] /Debatte-ueber-angebliche-Polizeigewalt/!5297303
[9] /Radikalisierung-im-Gefaengnis/!5021415
[10] /Praevention-gegen-Radikalisierung/!5252305
[11] /Gruene-fuer-Vereinsverbot/!5030389
[12] http://www.hamburg.de/innenbehoerde/islamismus/499906/takfir-ideologie/
[13] /Feindbilder-des-Staatsschutzes/!5255978
[14] /Befragung/!5252798
[15] /Islamismus-in-Deutschland/!5306582
## AUTOREN
Lena Kaiser
Jean-Philipp Baeck
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Lesestück Recherche und Reportage
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