| # taz.de -- Debatte „Sichere Herkunftsstaaten“: Wenn Symbole lügen | |
| > Der Begriff „sichere Herkunftsstaaten“ gehört sofort abgeschafft. Denn er | |
| > ist nicht nur unpräzise, sondern auch verhöhnend. | |
| Bild: Total sicher? Bei einem Bombenanschlag gab es im November in Tunis mehr a… | |
| Alle paar Monate werden neue Staaten zu „sicheren Herkunftsstaaten“ | |
| erklärt. Im Herbst 2014 waren es Serbien, Bosnien und Mazedonien. Ein Jahr | |
| später kamen Kosovo, Albanien und Montenegro dazu. Und jetzt sollen | |
| Algerien, Marokko und Tunesien als „sichere Herkunftsstaaten“ etikettiert | |
| werden. | |
| Nichts gegen Symbolpolitik. Sie kann mit wenig Aufwand große Wirkung | |
| erzeugen. Sie kann mobilisieren, zufriedenstellen, die gesellschaftliche | |
| Atmosphäre verbessern. Die Symbolpolitik aber, die mit dem Label der | |
| angeblich „sicheren Herkunftsstaaten“ verbunden ist, ist verhöhnend und | |
| verdummend. Problematisch sind weniger die damit verbundenen rechtlichen | |
| Folgen, es ist vielmehr der Begriff, der schleunigst abgeschafft gehört. | |
| Die Menschenrechtslage in Nordafrika ist alles andere als | |
| zufriedenstellend. In marokkanischen Gefängnissen wird gefoltert, | |
| Homosexuelle werden inhaftiert. In Algerien sind die politischen Rechte | |
| stark eingeschränkt. Und in Tunesien geht die Regierung mit zunehmender | |
| Härte gegen Proteste vor. Wie will die Bundesregierung mit den | |
| Verantwortlichen dieser Länder einen Menschenrechtsdialog führen, wenn sie | |
| ihnen gleichzeitig per Gesetz einen Persilschein ausstellt? | |
| Das Attribut „sicher“ verhöhnt auch die Situation der Migranten aus solchen | |
| Ländern. Die Leute verlassen ihre Heimat, weil sie eben kein gesichertes | |
| Auskommen haben, keine gesicherte Zukunft für sich und ihre Kinder. Roma | |
| vom Westbalkan werden in vielen Lebensbereichen diskriminiert. Soll das ein | |
| „sicheres“ Leben sein? | |
| ## Suggestion der totalen Entrechtung | |
| Die Asylanträge von Menschen aus Nordafrika und vom Westbalkan scheitern | |
| nicht, weil ihre Herkunftsländer allgemein sicher sind, sondern weil dort | |
| kein Bürgerkrieg herrscht und den konkreten Antragstellern keine | |
| individuelle Verfolgung droht. Wenn Marokko für Schwule unsicher ist, dann | |
| kann daraus ein Heterosexueller keinen Asylanspruch ableiten. | |
| Wenn Islamisten in Algerien willkürlich inhaftiert werden, können säkulare | |
| Migranten damit keinen Schutzanspruch begründen. Der Begriff der „sicheren | |
| Herkunftsstaaten“ beschönigt einerseits die Lage und erschwert andererseits | |
| das Verständnis, worauf es im Asylverfahren ankommt: auf individuelle | |
| Verfolgung, Bürgerkrieg und konkrete Gefahr. | |
| Zu den Rechtsfolgen in Deutschland sagt das Label „sicherer Herkunftsstaat“ | |
| nichts. Aber es suggeriert: Wer aus einem „sicheren“ Herkunftsstaat kommt, | |
| brauche in Deutschland keinen Schutz. Und wenn Bundestag und Bundesrat per | |
| Gesetz feststellen, dass kein Schutz erforderlich ist, dann wäre jeder | |
| Asylantrag von vornherein unzulässig. Diese Suggestion der totalen | |
| Entrechtung ist aber falsch. Richtig ist: Auch ein Mensch aus einem | |
| „sicheren Herkunftsstaat“ kann in Deutschland einen Asylantrag stellen. Er | |
| bekommt die übliche Anhörung. Anschließend wird wie üblich geprüft, ob | |
| individuelle Verfolgung droht, ob vor Ort ein Bürgerkrieg wütet und ob ein | |
| persönliches Abschiebehindernis besteht. | |
| Die Einstufung als „sicherer Herkunftsstaat“ erzeugt die „Vermutung“, d… | |
| der Antrag abzulehnen ist. Doch diese Vermutung kann in jedem Einzelfall | |
| widerlegt werden. So erkannte das Verwaltungsgericht Oldenburg im Oktober | |
| 2015 die individuelle Verfolgung einer Roma-Aktivistin aus Mazedonien an, | |
| weil sie immer wieder von der Polizei malträtiert worden war. Der Fall ist | |
| eine Ausnahme, an den Anerkennungsquoten änderte sich durch die Einstufung | |
| als „sicherer Herkunftsstaat“ kaum etwas. | |
| Nach der Einstufung sind Asylanträge in der Regel als „offensichtlich | |
| unbegründet“ abzulehnen – vorher war das mit der großen Mehrzahl dieser | |
| Anträge auch passiert, die Asylbehörde spart sich nun lediglich die | |
| Begründung. Vor wie nach der Einstufung ist der Rechtsweg durch kurze | |
| Fristen erschwert. Probleme bei der Abschiebung wie fehlende Pässe und | |
| unklare Identitäten haben mit der Einstufung des Herkunftslandes ohnehin | |
| nichts zu tun. | |
| ## Show und Hokuspokus | |
| Das Label „sicherer Herkunftsstaat“ ist also kaum mehr als Hokuspokus. | |
| Rechtsstaatlich ist die Regelung vertretbar, weil die Einzelfallprüfung | |
| weiter stattfindet. Aber faktisch setzt man wohl auf das Missverständnis, | |
| dass keine Einzelfallprüfung mehr stattfinde. In den Herkunftsstaaten soll | |
| sich die Nachricht verbreiten, dass es sich nicht mehr lohnt, einen Antrag | |
| in Deutschland zu stellen. Zugleich zielt der Anschein schneidiger | |
| Entrechtung innenpolitisch auf Zustimmung vom rechten Rand. | |
| Durch das Asylpaket II, das der Bundestag am heutigen Donnerstag | |
| beschließt, soll die Einstufung als „sicherer Herkunftsstaat“ nun weitere | |
| Rechtswirkungen auslösen. Asylanträge aus solchen Staaten sollen binnen | |
| einer Woche entschieden werden, die Antragsteller sollen in speziellen | |
| Erstaufnahmeeinrichtungen wohnen. Dabei ist zweifelhaft, ob das überlastete | |
| Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) überhaupt in der Lage ist, | |
| so schnell zu entscheiden. Sinnvollerweise heißt es im Gesetzentwurf: Wenn | |
| das BAMF nicht binnen einer Woche entscheidet, führt es eben ein ganz | |
| normales Asylverfahren durch. | |
| Eine gesetzliche Regelung zur Beschleunigung bestimmter Asylverfahren ist | |
| gar nicht erforderlich. Schon heute werden Anträge aus Nordafrika vom BAMF | |
| vorrangig behandelt. Letztlich bleibt das Ganze eine Show, die auf | |
| öffentliche Wirkung zielt. Auch die Kritik macht sich häufig nur am Begriff | |
| fest, der auf die betroffenen Staaten nicht passe. | |
| Passender und hilfreicher als das irreführende „sichere Herkunftsstaaten“ | |
| wären Begriffe wie „Staaten mit geringer Asylrelevanz“. Oder man spricht | |
| von Antragstellern mit „geringer Bleibeperspektive“. | |
| Fragt sich nur, warum die Grünen, wenn sie schon immer wieder neuen | |
| Ländergruppen zustimmen, den Begriff der „sicheren Herkunftsstaaten“ nicht | |
| einfach wegverhandeln. Wenn es im Bundesrat auf grüne Stimmen ankommt, | |
| könnten sie ja auf einer Terminologie ohne Persilscheine und gewollte | |
| Missverständnisse bestehen. Intern beruhigen sie sich wohl damit, dass das | |
| Konzept ja längst nicht so schlimm ist, wie es klingt. Nach außen wollen | |
| sie aber vielleicht doch ein bisschen böse wirken, um so | |
| „Regierungsfähigkeit“ zu demonstrieren. | |
| 25 Feb 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Rath | |
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