# taz.de -- Roma-Protest gegen Abschiebung: Räumung nach Mitternacht | |
> Dutzende Roma haben in Berlin das Denkmal der im Nationalsozialismus | |
> ermordeten Sinti und Roma besetzt. Sie demonstrieren gegen ihre | |
> Abschiebung. | |
Bild: Roma demonstrieren am Denkmal ihren Widerstand gegen Abschiebungen | |
50 Roma haben das Denkmal der im Nationalsozialismus ermordeten Roma und | |
Sinti besetzt, um gegen drohende Abschiebungen zu demonstrieren. Darunter | |
waren viele Kinder. Die Polizei ließ trotzdem räumen – nach Mitternacht. | |
„Ich habe nichts zu verlieren“, sagt Sergio. „Ich habe meinen | |
Abschiebebescheid vor ein paar Monaten erhalten. Sie können jederzeit | |
kommen. Was wird dann aus meinen Kindern?“ Aus Angst vor der | |
Abschiebebehörde will Sergio seinen Nachnamen lieber nicht nennen. Er will | |
trotzdem nichts unversucht lassen, um hier zu bleiben. „Es ist viel zu | |
selten, dass Roma sich politisch äußern“, sagt der 40-Jährige. Um das zu | |
ändern, ist er zusammen mit seiner Frau und seinen vier Kindern nach Berlin | |
gefahren. | |
Sergio ist einer von circa 50 Roma, die sich am Sonntagnachmittag am | |
Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma | |
versammelten, um gegen ihre drohenden oder bereits verhängten Abschiebungen | |
zu demonstrieren. Sie entrollen Transparente und kampieren auf dem Gelände | |
des Denkmals. Ihre Forderung: „Bleiberecht für alle“. | |
Lokale AktivistInnen und organisierte Roma-Verbände unterstützen die | |
Familien. Nach der verschärften Asylgesetzgebung droht vielen von ihnen die | |
baldige Abschiebung in ihre vermeintlich „sicheren Herkunftsländer“ auf dem | |
Balkan. Sie positionieren sich um den Brunnen in der Mitte des Denkmals. | |
Als sie ihre Transparente entrollen, applaudieren die umstehenden | |
Touristen, die mit Selfie-Stick durch das Regierungsviertel flanieren. | |
## Musik am Gedenkort | |
Die Roma haben den Ort ihres Protestes mit Bedacht gewählt. Durch die | |
Besetzung des Denkmals wollen sie an Deutschlands Verantwortung für die | |
gewaltsame Ermordung ihrer Vorfahren appellieren. „Dieser Platz ist für uns | |
sehr wichtig. 500.000 wurden im Porajmos ermordet“, so ein Sprecher der | |
Demonstranten. „Es ist Zeit, dass Deutschland sich uns gegenüber | |
solidarisch zeigt. Dieses Versprechen gibt es seit den Fünfzigern. Wir | |
haben ein Recht zu bleiben. Und an diesem Ort zu demonstrieren“, sagt er | |
weiter. | |
Die Polizei sieht das anders. Der Sicherheitsdienst am Denkmal hatte sie | |
binnen Minuten alarmiert. In Verhandlung mit den Roma sagt ein Polizist: | |
„Der Ort ist Gedenkstätte und befriedeter Bezirk.“ Deswegen drängt der | |
Beamte darauf, den Protest außerhalb der Bannmeile um das Regierungsviertel | |
zu verlagern: „Dort können sie solange bleiben, bis sie ihr Anliegen | |
durchgebracht haben.“ | |
Die Roma denken gar nicht daran, ihren Gedenkort zu räumen: „Es ist die | |
größte Diskriminierung überhaupt, dass man uns von diesem Ort vertreiben | |
will.“ Über fest installierte Lautsprecher läuft das eigens für den | |
Gedenkort komponierte Violinenstück Mare Manuschenge von Romeo Franz. Es | |
klingt wie die musikalische Umsetzung eines Tinnitus. Auf den | |
Pflastersteinen um den Brunnen steht Neuengamme, Buchenwald, Auschwitz. | |
Die organisierten Roma hatten gehofft, dass bundesweit deutlich mehr Roma | |
zu dem Protest kommen würden. „Viele haben Angst, dass sie erst recht | |
abgeschoben werden, wenn sie demonstrieren oder sich über ihre Lage | |
beschweren“, sagt Sergio. | |
Er hat einen serbischen Pass, war aber seit zwanzig Jahren nicht mehr da. | |
Nachdem er das Land verlassen hatte, weil ihm Verfolgung und | |
Diskriminierung drohten, lebte er in Bosnien, wo er auch seine jetzige Frau | |
kennenlernte. Seine Frau und er verkauften Kleidung auf Flohmärkten und | |
verdienten gar nicht so schlecht, wie er sagt. | |
## Der Hass der Bosnier | |
Genau das triggerte den Hass der Bosnier. Immer wieder beschlagnahmten | |
Polizisten die Kleidung, verfolgten und schlugen ihn und seine Frau. Er | |
erzählt, dass seine Frau einmal auf der Flucht von einem Polizisten eine | |
Treppe hinunter geschubst wurde. Sie war im vierten Monat schwanger. Nach | |
dem Sturz musste sie ins Krankenhaus. Sie verloren das Baby. Daraufhin | |
gingen sie nach Frankreich. | |
Und, als sie dort nicht mehr willkommen waren, gingen sie schließlich nach | |
Deutschland. Seine Kinder haben als Ausweisdokumente nur ihre | |
Geburtsurkunden. Sie haben weder einen serbischen noch einen bosnischen | |
Pass. Diskriminierung und Ausgrenzung droht ihnen in beiden Ländern. Sergio | |
hat Angst. Um seine Kinder und um seine Frau. Ihre beiden jüngsten Söhne | |
sind vier Jahre alt, Zwillinge. Nach langer Suche haben sie endlich einen | |
Platz in der Kita gefunden. Der ältere Bruder der beiden, knapp acht Jahre | |
alt, geht in Deutschland zur Schule. Werden die Kinder mit Sergio nach | |
Serbien abgeschoben oder mit ihrer Mutter nach Bosnien? Er weiß es nicht. | |
Nach einigen Stunden haben die Polizisten einen Vertreter der Stiftung des | |
Denkmals aufgetrieben. Auch er sagt, dass der Ort des Protestes nicht | |
geeignet sei. Die Roma weigern sich dennoch, den Ort zu verlassen. Es | |
heißt, dass die Besetzer über Nacht bleiben dürfen. Doch die Lage ist nur | |
scheinbar entspannt. | |
Denn kurz nach Mitternacht folgt die Räumung. Auf Druck der Stiftung des | |
Denkmals, wie es von Seiten der AktivistInnen heißt. Eine Hundertschaft | |
Polizisten in Demonstrationsausrüstung vertreibt die Roma. Auf Anordnung | |
des Bundestagspräsidenten, wie ein anwesender Fotograf berichtet. | |
Eine halbe Stunde später ist das Gelände von behelmten Polizisten besetzt, | |
die die Transparente abhängen. Zu der bedrückenden Geigenmusik stellt sich | |
nun auch noch das Weinen der Kinder ein. | |
## Chaotischer Ablauf | |
Die Räumung verläuft chaotisch. Die Polizei nimmt einen 14-jährigen Sohn | |
eines Roma und einen Aktivisten in Gewahrsam. Panik bricht aus. Schon zuvor | |
hatte eine Frau einen epileptischen Anfall bekommen, sich aber im Anschluss | |
an die ärztliche Versorgung vor Ort geweigert ins Krankenhaus zu gehen – | |
aus Angst vor Abschiebung. | |
Gegen circa ein Uhr ist der Bereich um das Mahnmal abgesperrt. Das Denkmal | |
ist normalerweise Tag und Nacht zugänglich. Die Polizei teilt mit, dass sie | |
drei Strafanzeigen wegen Hausfriedensbruchs und wegen Widerstandes gegen | |
Vollstreckungsbeamte eingeleitet habe. | |
Einer der Roma sagt nach der Räumung: „Es gibt keinen Ort für Roma. Wenn | |
dieses Denkmal nicht der Ort ist, wo wir etwas sagen können, wo dann?“ Der | |
Hilfe von AktivistInnen ist es zu verdanken, dass die Roma samt ihrer | |
Kinder nach der Räumung nicht auf der Straße schlafen müssen. Für die Nacht | |
kommen sie in einem linken Hausprojekt unter. Sergio und seine Kinder sind | |
noch in der Nacht abgereist. Sie haben Angst vor der Polizei. | |
23 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
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