# taz.de -- Abgeschobene Roma: In Vidikovac spricht man Deutsch | |
> Am Rande Belgrads liegt Vidikovac. Roma-Familien wohnen hier in | |
> Slum-Hütten. Viele wurden aus Deutschland abgeschoben. Manche sind dort | |
> geboren. | |
Bild: Slums am Rande Belgrads: Bei Regen versinken die Hütten im Schlamm. | |
VIDIKOVAC taz | Rauch steigt auf. Auf einem Feld verschwinden ein paar | |
Menschen hinter Gebüschen. Überall liegt Plastik, Metall, Papier. Abfall | |
wie Dünen. Dazwischen, nur an den Kanten auszumachen, reihen sich Hütten. | |
Von Weitem gehen sie in die Müllberge über. Eine Gruppe Kinder hüpft darauf | |
herum, tollt, spielt, lacht. Slums. Ein Junge trägt mit seinem Vater einen | |
großen Rahmen aus Metall, womöglich ein alter Elektroherd. Die informelle | |
Siedlung liegt in Vidikovac, einem Vorort von Belgrad, an der Bundesstraße | |
22. Etwa 30 Familien leben hier. Sie gehören zur serbischen Minderheit der | |
Roma. | |
Langsam treten die deutschen und belgischen AnwältInnen näher. Sie sind | |
nach Serbien gereist, um sich ein Bild davon zu machen, was ihre | |
MandantInnen erwartet, wenn sie deren Abschiebung nicht verhindern. Auch | |
zwei Übersetzerinnen sind dabei, aber das wäre nicht wirklich nötig | |
gewesen. Denn in Belgrads Slums wird fließend Deutsch gesprochen. | |
„Ich habe in Mönchengladbach gelebt“, „ich in Hannover“, „ich in Kö… | |
Menschen hier wurden entweder abgeschoben oder zur „freiwilligen Ausreise“ | |
gezwungen. So wie Nicola. 13 Jahre lang war er in Deutschland, mit Frau und | |
Kindern. Nicola faltet den Ausweis seines Sohnes Daniel auf. Der ist in | |
Deutschland geboren. So steht es in dem Dokument. Darunter ein Stempel: | |
„Abgeschoben“. | |
## | |
Nicola zeigt seine Hütte. Alte Türen sind an Bretter genagelt, dazwischen | |
Stofffetzen, manche Ecken sind mit Plastikfolie umwickelt. Die Wände würden | |
keine Bilder tragen. Zwischen zwei Sofas und einem Tisch ist kaum der | |
Teppich zu sehen, der als Fußboden dient. Die Familie lebt hier zu siebt, | |
Nicolas fünfjährige Enkeltochter Claudia ist die jüngste. Sie darf mit auf | |
dem Sofa schlafen, Nicola legt sich nachts auf die Erde. | |
Menschenrechts-Aktivisten schätzen, dass es etwa 200 informelle Siedlungen | |
in Belgrad gibt. Manche größer, manche kleiner. Nur wenige Kinder in diesen | |
Siedlungen gehen zur Schule. Die Roma dort erhalten keine Sozialhilfe und | |
keine Krankenversicherung. Denn informelle Siedlungen erkennen die | |
serbischen Behörden für eine Registrierung nicht an. Immer wieder werden | |
die Siedlungen gewaltsam geräumt oder, wie in Vidikovac, so zerstört, dass | |
sie von der Straße nicht mehr zu sehen sind. | |
Vor der Flucht nach Deutschland hatte Nicolas Familie ein Haus im | |
südserbischen Vranje. Als sie wiederkamen, war das Haus weg. „Es sah aus, | |
als sei es nie da gewesen“, sagt Tochter Jasmina. Sie zogen nach Belgrad. | |
„Drei Tage lang haben wir im Gras geschlafen“, sagt sie. Dann hatten sie | |
genug Sperrmüll für eine Hütte gefunden – ihr Dach seit über zehn Jahren. | |
## | |
In der Großstadt können Sie im Müll nach Sachen suchen. Nach heilen | |
Klamotten, die sie noch verkaufen können, nach Geschirr oder Elektroteilen. | |
Wenn ihnen niemand etwas abkauft, zieht die Familie noch einmal los: Dann | |
müssen sie nach Essen suchen. | |
Bis zu 55.000 Menschen leben laut der luxemburgischen | |
Menschenrechts-Organisation Chachipe in Serbien davon, Müll zu sammeln – | |
hauptsächlich Roma. Um sich europäischen Umweltnormen anzupassen, hat | |
Belgrad 2012 begonnen, die alten Mülltonnen durch unterirdische Behälter zu | |
ersetzen und das Müllsammeln unter Strafe gestellt. | |
Eine blaue Wanne steht vor Nicolas Hütte. Darin wäscht die Familie sich und | |
ihre Kleider, auch das Geschirr. Ein paar Fußschritte entfernt hat Nicola | |
ein Loch gegraben und darum ein paar Bretter gezimmert: die Toilette. Um | |
Wasser betteln die Menschen in Vidikovac im benachbarten Wohngebiet. | |
Derzeit gibt es einen offenen Hahn bei einer nahen Baustelle. | |
## | |
Ein Nachbar erzählt vom Winter: „Das ist richtig abscheulich, aber manche | |
Leute sammeln das Essen, geben es ihren Kindern, da sind dann Kakerlaken | |
und Maden drin.“ Bei der bitteren Kälte sei es richtig schwer, sagt er. | |
„Richtig, richtig schwer.“ | |
Ein Mann legt einen Holzscheit in einen kleinen verrosteten Metallofen, der | |
offen auf der Wiese steht. In einem Topf kocht er Knochen aus. Gleich | |
gegenüber steht ein Junge im Müll. Er hebt einen alten Bildschirm auf und | |
trägt ihn über seinem Kopf. Der Junge ist kaum im Grundschulalter, er | |
sammelt Plastik. Immer wieder rutscht ihm bei der Arbeit die Hose runter. | |
Auf dem Gelände stehen Altpapier-Container neben fast jeder Hütte. Drei, | |
vier Mal im Monat kommt der Lastwagen der Recycling-Firma. Er ist | |
geländegängig, kommt auch bei Regen durch den Schlamm. Pro Kilo Papier gibt | |
es fünf Cent. „Jeder hier in der Siedlung hat seinen Container und ist in | |
bei der Firma im Computer eingespeichert, mit Namen und Vornamen“, erklärt | |
ein Bewohner. Anders als bei den Behörden funktioniert die Registrierung | |
bei der Recycling-Firma tadellos. | |
## | |
Zwei Gebüsche weiter liegt die Hütte von Thomas*. Aus einer alten | |
Blechtonne hat sich seine Familie einen Herd gebaut. Das Ofenrohr versperrt | |
fast den Eingang. Er bittet hinein, möchte eine Geschichte erzählen. Davon, | |
wie serbische Neonazis ihn überfielen. Wie sie ihn zwangen, mit anzusehen, | |
wie sie seine Schwester vergewaltigten. | |
Er hebt sein Hemd, dreht sich zur Seite. Über seiner linken Niere ist eine | |
fingerbreite Narbe. Die Neonazis haben ihm ein Messer in den Rücken | |
gestochen. Er zieht einen kleinen Jungen zu sich. Er sei von dem serbischen | |
Mann, sagt er. Der kleine Junge, sein Neffe, lebt mit ihm in Vidikovac. | |
*Name geändert | |
18 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Jean-Philipp Baeck | |
Allegra Schneider | |
Malte Stieber | |
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