| # taz.de -- Abgeschoben nach Serbien: Aus Hamburg in die Berge | |
| > Familie M. wurde aus Hamburg-Groß Borstel abgeschoben. Im südserbischen | |
| > Pirot reicht Ihr Geld kaum für Essen. Roma bekommen keine festen Jobs. | |
| Bild: Bei Familie M. im südserbischen Pirot: Die 81-jährige Großmutter ist f… | |
| PIROT taz | Tahir M. drückt sein Küchenmesser tief in einen alten | |
| Autoreifen, zieht es zwischen dem Gummi und dem Metallring des Reifens | |
| entlang. Nur stockend zerschlitzt die Klinge das zähe Material. Zwei, drei | |
| Mal setzt Tahir an. Für diese Prozedur hat er eigens einen Haken in einen | |
| Baum geschlagen, im hinteren Teil der schmalen Hofstelle. Sie liegt am Rand | |
| der Stadt Pirot im Südosten Serbiens. Zur bulgarischen Grenze fährt man | |
| eine halbe Stunde durch die Berge. | |
| „So geht das“, sagt Tahir auf deutsch, als das Gummi vollständig vom | |
| Metallring getrennt ist. Tahir hat gezeigt, wie er recycelt, was er auf dem | |
| Müll findet. Eine Ärztin und eine Anwältin aus Deutschland sind zu Besuch. | |
| Sie wollen sich ein Bild machen, wie es der Familie M. geht. Denn vor | |
| anderthalb Jahren wohnten die vier in einem Mehrfamilienhaus in | |
| Hamburg-Groß Borstel. Bis am Morgen des 3. November 2011 ein grauer VW-Bus | |
| vorfuhr: Beamte von der Ausländerbehörde, ein Übersetzer und ein Arzt – die | |
| Familie wurde aus Deutschland abgeschoben. | |
| Tahir schmeißt den Gummi-Flatschen auf einen Haufen nach rechts, den | |
| Metallrest nach links. Überall auf dem Grundstück türmen sich solche | |
| Stapel. Die kleinen Katzen aus der Nachbarschaft spielen darin Verstecken. | |
| Gummi ist in Pirot ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, die lokale Reifenfabrik | |
| ist der größte Arbeitgeber. Doch Tahir findet dort keinen Job. Die | |
| Arbeitslosigkeit in Serbien liegt bei über 25 Prozent, in der Bergregion um | |
| Pirot ist sie noch etwas höher. Roma werden nur ungern eingestellt. | |
| ## | |
| Jeden Tag zieht Tahir deshalb los und sucht nach Verwertbarem. Ein Kilo | |
| Gummi bringt sieben Cent. Etwa 7.000 Dinar, umgerechnet 61 Euro, verdient | |
| er so im Monat. Dazu kommen 105 Euro an Sozialhilfe und Kindergeld – | |
| weniger als die Hälfte dessen, was ein Bauarbeiter in Pirot netto verdient. | |
| Wenn das Geld nicht reicht, fällt das Frühstück aus. Schulbücher oder | |
| -taschen kann sich die Familie nicht leisten. | |
| Tochter Stana, sie ist 17, sagt, auch sie müsse unbedingt zum | |
| Familienverdienst beitragen. Medikamente müssen bezahlt werden. Denn ihr | |
| Vater Tahir ist herzkrank. Als er sechs Monate in Deutschland war, bekam er | |
| einen Herzinfarkt. | |
| Wie eine Gartenlaube quetscht sich das Haus in Pirot neben die | |
| dreistöckigen Nachbarhäuser. Es gehört Tahirs Vater. Rote Tonziegel wellen | |
| sich zu einem windschiefen Giebel. Drinnen zwei Zimmer, ein Sofa, ein | |
| Sessel. Nur wenig Licht fällt durch die milchigen Fenster und durch die | |
| Ritzen in der Mauer. Mit Tahirs Vater und der Familie seines Bruders leben | |
| hier jetzt elf Leute. Und Tahirs Schwägerin ist schwanger. | |
| „Es ist sehr schwer, das Haus ist zu voll und zu eng“, sagt Tahirs Frau | |
| Katarina. Draußen, an der Wand, lehnt ein Ofen, groß wie eine Kommode. | |
| Daneben ein Grill. Im Sommer ist es schön, draußen zu kochen, im Winter | |
| fallen die Temperaturen auf bis zu minus 20 Grad. | |
| ## | |
| Tahir setzt sich neben seine Frau auf eine Holzbank vor dem Haus. Das | |
| Blechdach über ihnen ist mit Holzstützen und Brettern zu einer Veranda | |
| ausgebaut. Aus Lautsprecherboxen dudelt Musik, auf dem kleinen Hof tippt | |
| der achtjährige Dalibor einen Fußball in die Luft. | |
| Dalibor war sieben, als er aus Deutschland weg musste. Der Asylantrag der | |
| Familie war abgelehnt worden, danach waren sie geduldet. Monatelang hatten | |
| UnterstützerInnen gekämpft, dass die Familie in Hamburg bleiben kann. | |
| Gottesdienste, Petitionen, der Anruf der Härtefallkommission – sie musste | |
| trotzdem gehen. Zwei Tage vor der Abschiebung erzählte Dalibor im | |
| Internet-Interview von seinen Klassenkameraden: „Hendrik, Jonas, Esmeralda, | |
| Ariana“. In Deutschland wolle er bleiben, sagt Dalibor in die Kamera, „weil | |
| da alle meine Freunde sind“. | |
| Tahir erzählt, dass der Abschiebe-Arzt vor der Reise Medikamente ausgab. Er | |
| hatte Flugangst, hatte darum gebeten, mit dem Bus ausreisen zu dürfen. Im | |
| Flieger von Hamburg über Wien nach Belgrad saß der Arzt die ganze Zeit | |
| neben ihm. Auf dem Flughafen in Belgrad hat er ihm noch Herzmedikamente für | |
| drei Monate in die Hand gedrückt. „Dann hat er einfach Tschüss gesagt und | |
| ist zurück nach Hamburg“, sagt Tahir. | |
| ## | |
| Katarina leert eine hellblaue Plastiktüte mit gefalteten Papieren auf den | |
| Holztisch. Arztbriefe, Rezepte, Diagnosen, auf Deutsch und auf Serbisch. | |
| Die Ärzte in Serbien können die deutschen Dokumente nicht lesen, sie kennen | |
| Tahirs Diagnose nicht und wissen nicht, was ihm verschrieben wurde. | |
| Tochter Stana erzählt, dass sie noch mal einen Brief von ihrer ehemaligen | |
| Klasse bekam. Dalibor telefoniert noch hin und wieder mit seinen | |
| Schulfreunden. Als sie zurück nach Serbien kamen, hatte das Schuljahr | |
| bereits begonnen. Stana ist nun in der neunten Klasse, sie müsste in der | |
| zwölften sein. In der Schule würden sie und andere Roma oft beschimpft, | |
| erzählt Stana. „Seit wir geboren wurden hören wir das“, sagt Mutter | |
| Katarina. „Daran haben wir uns gewöhnt.“ | |
| ## | |
| Ein Auto fährt vor. Für den Besuch aus Deutschland ist Tahirs Großmutter | |
| angereist. Dass die 81-Jährige fast blind ist, merkt man ihr kaum an. Auch | |
| sie erzählt von Deutschland. Ihr Mann war dort. Die Nazis holten ihn, | |
| seinen Vater und seinen Bruder im Jahr 1941, da war er 17 Jahre alt. | |
| Sie kramt vergilbte Dokumente hervor. Erst kam ihr Mann als Zwangsarbeiter | |
| ins serbische Bergwerk Borski Rudnik, Juden und Roma waren dort gefangen. | |
| Dann wurde er ins „Straflager Berlin Celle“ deportiert. Er wurde gefoltert, | |
| musste tagelang in kaltem Wasser stehen. Er überlebte. | |
| Oft habe der Großvater seinen Kindern von der Zeit im Lager erzählt, ihnen | |
| die Nummer auf dem Unterarm gezeigt. Die Folter hat ihn krank gemacht, 1992 | |
| starb er an den Spätfolgen. | |
| Weil es Zeugen und Belege gab, hat die Familie Anspruch auf Entschädigung | |
| von Deutschland. 2004 kamen zwei Schecks über insgesamt rund 7.000 Euro. | |
| Sie waren auf den Namen des mittlerweile verstorbenen Großvaters | |
| ausgestellt, konnten deshalb nicht eingelöst werden. Um sie auf den Namen | |
| seiner zu Frau überschreiben, hat die Familie alle nötigen Urkunden | |
| eingereicht. Das ist Jahre her. Seitdem haben sie nichts mehr gehört. | |
| Katarina steht auf und spaziert zur Straße, führt den Besuch vorbei an den | |
| Neubauten, zwei, drei Minuten, bis die Häuser wieder flacher werden. Sie | |
| geht in eine enge Gasse. Vor einer zerfallenen Mauer bleibt sie stehen. Aus | |
| einem Schutthaufen ragt ein Türrahmen, Gras wuchert über zerborstenen | |
| Balken und alten Ziegeln. | |
| Es ist ihr altes Haus, wie sie es nach ihrer Rückkehr vorfanden. | |
| Eingestürzt. Für den Wiederaufbau fehlt das Geld. Katarina drückt ihre | |
| Tochter Stana an sich. Sie weint. Gern wären sie wieder in Deutschland. Vor | |
| allem den Hafen in Hamburg, den vermisse sie, sagt Katarina. | |
| 18 Aug 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Jean-Philipp Baeck | |
| Allegra Schneider | |
| Malte Stieber | |
| ## TAGS | |
| Serbien | |
| Asyl | |
| Abschiebung | |
| Roma | |
| Hamburg | |
| Slowakei | |
| Roma | |
| Roma | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Flüchtlinge aus dem Balkan: Rot-Grün: „kein Bedarf“ für Abschiebestopp | |
| Wegen „humanitärer Härten“ schieben Schleswig-Holstein und Bremen im Wint… | |
| niemanden nach Südosteuropa ab - anders als Niedersachsen und Hamburg. | |
| Ausländerbehörde zeigt Härte: Roma eiskalt abgeschoben | |
| Die Ausländerbehörde lässt kurz vor dem Winter 49 Menschen auf den Balkan | |
| ausfliegen. Flüchtlingsrat wirft Innensenator vor, „Angst und Schrecken“ zu | |
| verbreiten | |
| Diskriminierung in der Slowakei: EU will Roma-Mauer einreißen | |
| In Kosice verläuft seit Juli eine zwei Meter hohe Mauer zwischen dem | |
| Romaviertel Lunik IX und einem Parkplatz. Die EU fordert den sofortigen | |
| Abriss. | |
| Abgeschobene Roma: In Vidikovac spricht man Deutsch | |
| Am Rande Belgrads liegt Vidikovac. Roma-Familien wohnen hier in | |
| Slum-Hütten. Viele wurden aus Deutschland abgeschoben. Manche sind dort | |
| geboren. | |
| Abgeschobene Roma: Vorwärts ins Feindesland | |
| Aus Hamburg, Hannover und Kiel werden Roma nach Serbien abgeschoben. Wie | |
| ergeht es ihnen? Ein Besuch in Südserbien und den Slums am Rande Belgrads. | |
| Flucht: Behörde spaltet Familie | |
| Die kosovarische Familie Nuhi soll Deutschland verlassen. Wegen seiner | |
| guten schulischen Leistungen darf der ältere Sohn noch bleiben – mit einem | |
| Elternteil. |