# taz.de -- Migrationsforscherin über Einwanderung: „Das ist alles sehr vola… | |
> Beim Thema Einwanderung ist die deutsche Gesellschaft tief gespalten, | |
> sagt die Forscherin Naika Foroutan. Doch das helle Deutschland überwiege. | |
Bild: So herzlich sehen es nicht alle Deutschen. Tafel in einem Flüchtlingswoh… | |
taz: Frau Foroutan, es gebe „ein helles“ und „ein dunkles Deutschland“,… | |
Bundespräsident Joachim Gauck neulich gesagt. Welche Schattierung überwiegt | |
für Sie derzeit? | |
Naika Foroutan: Für mich überwiegt derzeit das helle Deutschland. Ich weiß | |
aber, dass sich dahinter immer noch ein tiefer Abgrund verbirgt und dass | |
wir den nicht unterschätzen sollten. Niemand merkt, dass die AfD in | |
Umfragen mittlerweile wieder bei sechs Prozent liegt, und bei Pegida in | |
Dresden waren in der letzten Woche wieder 7.500 Leute. | |
Umfragen zu Folge wünschen sich ein gutes Drittel aller Deutschen eine | |
ausgeprägtere Willkommenskultur, einem knappen Drittel ist das jetzt schon | |
zu viel. Wovon hängt es ab, in welche Richtung das Pendel ausschlägt? | |
Das ist eine Ambivalenz, die sich aus ganz vielen Studien der letzten Jahre | |
herauslesen lässt – negativ gesprochen, kann man von einer starken | |
Polarisierung sprechen. Und zwischen diesen Polen gibt es eine | |
unentschiedene Menge, die in beide Richtungen mobilisierbar ist. Im Moment | |
tritt eine Mehrheit für das bunte Deutschland ein. Das liegt sicher auch an | |
den Signalen, die von höchster politischer Ebene gesendet wurden, | |
insbesondere von Frau Merkel, die lauteten: Wir wollen diese Veränderung, | |
und wir werden sie auch bewältigen. Das ist jedoch leider kein politischer | |
Konsens. | |
Merkel ist dafür in die Kritik geraten, auch und gerade in ihrer eigenen | |
Partei. | |
Die Bevölkerung wünscht sich von der politischen Spitze einerseits, sie | |
solle Führungskraft zeigen. Aber in dem Moment, in dem sie das tut, kommt | |
der Vorwurf, Merkel herrsche wie eine Kaiserin. Oder man fragt „Weiß sie, | |
was sie tut?“, wie die Zeit. | |
Was zeigt uns das? | |
Das zeigt uns, dass man Merkel das nicht allein überlassen darf. Wir als | |
Rat für Migration haben Anfang des Jahres eine überparteiliche Kommission | |
gefordert, die zu einem neuen gesellschaftlichen Leitbild kommen sollte. Da | |
sollten alle Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Minderheiten etc. | |
einbezogen werden. Sonst wirkt es wie eine Überrumpelung, wenn Merkel | |
gerade mal eine Woche nach Heidenau diese starken Akzente setzt. Aber Frau | |
Merkel hat nur die Signale aufgenommen, die aus der Bevölkerung an sie | |
herangetragen wurden. Die Gruppe derjenigen, die sich offen zeigt für ein | |
buntes Deutschland und schon seit Jahren den Überdruss gegenüber der | |
EU-Grenzpolitik äußert, ist ja nicht klein. Man hat sich schon immer | |
gefragt, warum werden diese Menschen, die aktiv für ein vielfältiges | |
Deutschland eintreten, nicht stärker von der Politik angesprochen? Warum | |
werden stattdessen diese kleinen Gruppen, die ihr Grummeln im Bauch | |
artikulieren, zur Stimme der schweigenden Mehrheit stilisiert, wenn die | |
Mehrheit in Wahrheit viel weiter ist als diese Leute, die an einem alten | |
Deutschland festhalten? | |
Die „besorgten Bürger“ von Pegida sind also in der Defensive. Aber werden | |
sie das bleiben? | |
Das ist alles sehr volatil. Man darf nicht vergessen: Zwischen Heidenau und | |
München lag gerade mal eine Woche. Wenn sich ein Narrativ innerhalb nur | |
einer Woche verschiebt, dann kann sich das genauso schnell wieder in die | |
andere Richtung drehen. Nach Heidenau war die Stimmung: „Wir sind wieder | |
auf dem Weg in das dunkle Deutschland der neunziger Jahre.“ Und nach dem | |
freundlichen Empfang der Flüchtlinge in München herrschte zehn Tage lang so | |
ein Hochgefühl: „Wir verteidigen hier die Ehre Europas.“ Auf diesem | |
Hochgefühl lässt sich aufbauen. Aber stabilisieren lässt es sich nur über | |
ein klares politisches Bekenntnis. | |
Was muss getan werden, damit die Stimmung nicht kippt? | |
Wenn man immer wieder herauf beschwört, dass die Stimmung irgendwann kippen | |
wird, dann ist das wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Man hatte | |
ja fast den Eindruck, dass sich die CSU darüber ärgert, dass sie nicht für | |
die Mehrheit ihres Bundeslands spricht, jedenfalls nicht für München. Und | |
das breite Bekenntnis gab es ja nicht nur in München, sondern auch in | |
Berlin, Frankfurt, Dortmund, selbst in kleineren Städten wie Celle. | |
Trotzdem werden die Stimmen wieder lauter, die von „Grenzen der | |
Belastbarkeit“ und einer drohenden „Überforderung“ sprechen. | |
Ja, und auch die Stimmen, die fragen: Werden wir das schaffen mit den | |
ganzen Muslimen? Das zeigt, dass die dreißig Prozent, die gerade für die | |
positive Stimmung sorgen, die Unterstützung der Mehrheit auch rasch wieder | |
verlieren können. | |
Woran liegt das? | |
Das liegt daran, dass es da noch etwas gibt, das die ganze Zeit nicht | |
thematisiert wird – dass es ein bestehendes Kernpotenzial an Rassismus gibt | |
oder zumindest an Unwissen über Rassismus. Und so lange wir das nicht | |
aufarbeiten, dass es ein Potenzial an Einstellungen gibt, die einen | |
anfällig machen für bestimmte Argumente, die mit einer Herabwürdigung von | |
anderen einhergehen und die dem Kernbestand demokratischer Werte nicht | |
entsprechen, haben wir ein Problem. Es gibt diese Einstellung zu | |
Einwanderern: So lange die ihre Füße unter unseren Tisch strecken, müssen | |
die sich an unsere Regeln halten. Und wer später kommt, muss sich erst | |
einmal hinten anstellen. Aber diese Etabliertenvorrechte entsprechen nicht | |
dem Kernsatz der Demokratie – nämlich gleiche Rechte für alle Bürger, und | |
das ist vielen Leuten nicht bewusst. Ich habe den Eindruck, wir brauchen | |
deutlich mehr Demokratiebildung und -erziehung. Denn Demokratie ist etwas, | |
das man erlernen muss auch in seinen teilweise anstrengenden Konsequenzen. | |
Denn zu dem Eingeständnis, dass alle die gleichen Rechte haben, gehört eben | |
auch, dass eine Lehrerin im Unterricht Kopftuch tragen kann und dass ein | |
homosexuelles Paar heiraten kann, ob man das mag oder nicht. Denn es geht | |
nicht darum, ob ich oder die Mehrheit das persönlich mögen, sondern das ist | |
ein gesetzlich geregelter Grundsatz in dieser Demokratie. | |
Spielen da nicht Konkurrenzängste eine Rolle? | |
Diese ganzen ökonomischen Erklärungen, dass Menschen zu | |
Fremdenfeindlichkeit neigen, weil sie Angst vor dem wirtschaftlichen | |
Abstieg und dem Statusverlust haben, dieses Argument ist nicht ausreichend. | |
Da muss man nur mal in die Schweiz schauen – eines der reichsten Länder | |
Europas, den Leuten dort geht es materiell gut, aber es gibt seit Jahren | |
eine starke rechte Partei, in Österreich und Dänemark übrigens genauso. | |
Der Grüne Boris Palmer [1][warnte kürzlich in der taz], über 70 Prozent der | |
Flüchtlinge seien „junge Männer, die ganz andere Vorstellungen von der | |
Rolle der Frauen, der Religion, Meinungsfreiheit, Homosexualität oder | |
Umweltschutz“ mitbrächten. Wie kommt er auf diese Zahl? | |
Ich frage mich auch, wie er auf diese pauschalen Vorannahmen kommt. Mir | |
fallen eine Menge polemischer Antworten dazu ein, aber ich habe keine Lust | |
auf erboste Leserbriefe, deswegen halte ich mich zurück. Nur so viel: Vor | |
25 Jahren sind in der Bundesrepublik viele Leute dazu gekommen, von denen | |
ein großer Teil keinerlei demokratische Erfahrung hatte, und das über | |
teilweise zwei Generationen hinweg. Aber worauf die Gesellschaft gesetzt | |
hat, war die Sehnsucht nach Demokratie. Wir sollten davon ausgehen, dass | |
diese Leute, die aus Syrien fliehen vor einem autoritären System und einer | |
terroristischen Organisation, die sie foltern und quälen, dass die mit | |
einer großen Hoffnung auf ein anderes Leben hier herkommen. | |
Was mich insbesondere bei diesem Homophobie-Argument irritiert ist, warum | |
das immer nur mit Blick auf Muslime auftaucht, aber nicht mit Blick auf | |
andere gesellschaftliche Kontexte, wo Homophobie ebenfalls stark verankert | |
ist. Wenn man sich mal anschaut, wie Homosexualität etwa in der russischen | |
Gesellschaft geächtet wird. In den USA zeigt die FBI-Statistik, dass | |
Homosexuelle in Relation zu ihrer Gruppengröße am häufigsten Opfer von | |
Gewaltattacken sind, und in Frankreich und Italien sind Hunderttausende | |
gegen die Ehe für alle auf die Straße gegangen. Wir müssen Homophobie als | |
Gesellschaft sanktionieren, ohne diese antidemokratische Haltung auf eine | |
Gruppe auszulagern und es mit deren Kultur oder Religion zu erklären. Das | |
macht es zu einfach zu denken, dass hätte nichts mit uns zu tun, nach dem | |
Motto: Wir im Westen, wir haben das nicht. Das ist doch bigott. Genauso ist | |
es mit Antisemitismus. | |
Könnte Merkels Losung „Wir schaffen das“ ein Leitbild sein? | |
Daran merkt man die Kraft der Politik, ein Narrativ zu entwerfen, mit dem | |
sie sich über Strukturen erheben kann. Aber das Versprechen auf Zukunft | |
trägt nicht lange für die Gegenwart. Und das verbreitete Narrativ: Wir | |
brauchen Einwanderer, um unsere Renten zu sichern, ist zu utilitaristisch. | |
Das wird schnell brüchig, sobald medial die ersten Eingewanderten sichtbar | |
werden, die nach Leistungsindikatoren doch nicht zu gebrauchen sein würden. | |
Aber die sind dann trotzdem da, Kinder, Alte, Traumatisierte. Und was | |
machen wir dann? Abschieben? Insofern brauchen wir für dieses Land ein | |
stabileres Leitbild. Eines das nicht auf einer Verwertungslogik aufbaut, | |
die brüchig werden kann sobald die ökonomische Situation schwächelt, | |
sondern darauf, dass wir als Gesellschaft selbstverständlich auch Alte und | |
Schwache integrieren können, weil es unserem Ehrenkodex und Normensystem | |
entspricht. Auf der Freiheitsstatue steht: „Gebt mir eure Müden, eure | |
Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren“ – da steht | |
nicht, gebt mir eure qualifizierten Arbeitnehmer! Wenn wir uns als | |
Einwanderungsland endlich trauen, uns neu zu definieren, dann brauchen wir | |
eine Debatte über dieses Leitbild. | |
3 Oct 2015 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Bax | |
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