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# taz.de -- Willkommenskultur und Patriotismus: Neues Deutschland
> Es gibt wieder eine gewisse Kultur der Ausschließlichkeit: was die
> Fußball-WM 2006 mit der aktuellen Debatte über Zuwanderung zu tun hat.
Bild: Schland – jetzt auch in gut?
Vor neun Jahren waren nicht wenige verdutzt, als sich Deutschland neu
erfand. Bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 schien oft die Sonne, die
Spiele waren toll, aus den Zapfhähnen floss das Bier in Strömen. Das
deutsche Team, von dem man gar nicht so viel erwartet hatte, schaffte es
ins Halbfinale. Auf den Fanmeilen wurde fast jeden Tag eine große Party
gefeiert. Dass die deutschen Fußballfans ihr Bier mit Spaniern, Franzosen
oder Argentiniern tranken und sich nicht gegenseitig auf die Nase hauten,
galt als Beweis für das neue, entspannte, feierfreudige Deutschland.
Man berauschte sich an der WM – und an diesem neuen Deutschland. Die
zaudernde Republik war plötzlich geil geworden, schrieben Kommentatoren,
habe sich so radikal verändert, dass man es selbst nicht glauben könne.
Feuilletonisten, die sich an dieser WM betrunken hatten, hielten selbst im
ausgenüchterten Zustand fest, dass alles anders geworden sei in diesem
einst so dunklen Land. Um sich im Überschwang ein wenig selbst zu
relativieren, machte man aus dem sperrigen, dumpf-tugendhaftem Deutschland
das selbstironische Schland. Das war nicht nur cool, das klang jetzt auch
so.
Dieses Schland konnte man eigentlich nur gut finden. Oder? Wer Zweifel
äußerte am plötzlichen Bewusstseinswandel der Bundesrepublikaner, der wurde
irgendwie zum Außenseiter. Für manche sogar – implizit – zum
Vaterlandsverräter. Aber gab es das nicht auch? Antisemitische und
rassistische Gesänge auf den Fanmeilen und Schland-Fans, die einem gehörig
auf den Geist gehen konnten mit ihrer omnipräsenten Fußballseligkeit.
Auch das deutsche Fußballteam musste man jetzt eher super finden. Aber war
dieser Trainer Jürgen Klinsmann nicht ein merkwürdiger Kauz, der, wie sich
später herausstellen sollte, die „Polen durch die Wand knallen“ wollte?
Waren unsere Auswahlspieler nicht auch schnöselige Jungprofis, die längst
den Kontakt zur Basis verloren hatten, der DFB eine Brutstätte üblen
Funktionärstums und die veranstaltende Fifa ein Hort der Korruption? Nicht
so wichtig. Man lebte im Hier und Jetzt. Die Party war zu schön, um sich
mit solchen Nebensächlichkeiten zu befassen.
## Trotzig statt verschlossen
Dieses Schland ist nun neun Jahre alt. Es hat der Welt das Wörtchen
Sommermärchen geschenkt. Im Jahr 2015 geht es nicht mehr um eine
Nebensache, den Fußball, sondern um eine Hauptsache: den Umgang mit
Flüchtlingen. Aus dem Sommermärchen ist ein Spätsommermärchen geworden.
Willkommenskultur ist jetzt das Wort, das um die Welt geht. Der
Schland-Bürger, das ist jetzt klar, kann nicht nur Rabatz im Fußballzirkus
machen, er kann auch helfen, wo Not an der Frau und am Mann ist.
Er tut es um so trotziger, je verschlossener sich die anderen geben,
Ungarn, Polen oder Serben. Es ist eine Botschaft der Menschlichkeit, die um
den Globus geht, die sich auf den Titelseiten der internationalen Presse
findet. Obwohl es nicht um ein Spiel geht, ein Fußballspiel, gibt es wieder
so etwas wie einen Rausch. Und eine gewisse Kultur der Ausschließlichkeit.
Die FAZ nennt das „Monothematismus“.
Die Bild-Zeitung spielt sich mit ihrer Kampagne „Wir helfen“ zu der
moralischen Instanz im Lande auf. Spätestens diese Selbstermächtigung
sollte einen skeptisch stimmen. Wer sich [1][wie der Fußballklub St. Pauli
dagegen wehrt], von der Bild-Zeitung vereinnahmt zu werden, muss
anscheinend damit rechnen, ein Feind der Flüchtlinge zu sein. Bild-Chef Kai
Diekmann brandmarkte den linken Verein ja mit dem Hashtag
#refugeesnotwelcome. Das war nichts anderes als eine Denunziation.
Merkwürdig war in diesem Zusammenhang, dass sich SPD-Vizekanzler Sigmar
Gabriel und Familienministerin Manuela Schwesig, ebenfalls SPD,
bereitwillig vor den Karren der Bild-Kampagne spannen ließen.
## Doppelt so fremdenfreundlich
Die Schland-Bürger sind augenscheinlich reifer als die
Vereinigungsdeutschen der 90er Jahre: selbstsicherer, offener,
pluralistischer. Wurden 1992 knapp 440.000 Asylbewerber teilweise als
extreme Bedrohung wahrgenommen, so stemmt die Bundesrepublik in diesem Jahr
voraussichtlich eine Zahl von einer Million Schutzsuchender. Man könnte
also sagen, das Land ist in gut 20 Jahren doppelt so fremdenfreundlich
geworden.
Aus Fremdenangst ist vielerorts, vor allem in den Großstädten, so etwas wie
„Fremdenmut“ (Spiegel) geworden. Es entsteht der Eindruck, Deutschland habe
sich wie schon 2006 wieder einmal radikal gewandelt. Aber ist das wirklich
so oder nur etwas, was sich Parlamentarier und Medien wünschen? So sehr
wünschen, dass andere Stimmen kaum durchdringen in der aktuellen Debatte,
einem Diskurs, der erneut im Hier und Jetzt gefangen zu sein scheint und
kaum die Risiken der aktuellen Flüchtlingspolitik abwägt.
Nur wer die Welt romantisiert, trägt auch zu ihrer Humanisierung bei, heißt
es nun. Das darf man bezweifeln. Romantisierung wurde von Sigmund Freud
zwar nicht explizit als Verdrängungsmechanismus benannt. Aber
Romantisierung funktioniert ähnlich. Und wer nicht richtig aufarbeitet, die
aktuellen Probleme benennt und löst, muss mit der Wiederkehr des
Verdrängten rechnen. Aktuell wird in der Flüchtlingsdebatte das Über-Ich
ohnehin arg strapaziert. Das kann leicht mal ins Zwanghafte abrutschen.
## Was nicht passt, darüber wird geschwiegen
Die Freude darüber, es nach dem guten Schland-Deutschen jetzt mit dem noch
besseren Willkommens-Deutschen zu tun zu haben, führt bisweilen zu einem
Tunnelblick in der Berichterstattung. Da finden sich überproportional viele
Helfergeschichten. Oder Storys über den syrischen Musterflüchtling, der von
Baschar al-Assad ausgebombt wurde.
Ein allumfassendes Bild liefern die wenigsten Medien. Sie verlieren auch
gern mal die journalistische Distanz. Das Kalkül ist klar: Man will den
zivilisatorischen Fortschritt des Willkommens-Deutschen nicht gefährden
oder – noch schlimmer – den Rechten in die Hände spielen, wenn man den Pfad
der Verklärung verlässt. Da wird dann vieles wegdiskutiert, weil es gerade
nicht passt. Kritiker bleiben stumm, weil sie keine Lust haben,
Diekmann-mäßig angegangen zu werden.
Dabei sind viele Fragen virulent: Was machen eine Million Flüchtlinge mit
diesem Land, zumal ein nicht geringer Teil von ihnen antisemitisches,
homophobes und antidemokratisches Gedankengut mit nach Deutschland bringt,
von einem vorsintflutlichen Frauenbild gar nicht zu reden? Kann
Deutschlands Sozialsystem neben sechs Millionen Hartz-IV-Empfängern und
fast einer Millionen Menschen, die sogenannte Lohnersatzleistungen
erhalten, die neuen Zuwanderer sinnvoll unterstützen? Auf wessen Kosten
geht das? Reicht die Merkel-Doktrin „Wir schaffen das“ als politische
Vorgabe? Darf der Bürger nicht mehr erwarten, als diese nebulöse Parole?
Passt das Profil der Geflüchteten wirklich so gut zu den derzeit gemeldeten
596.500 offenen Stellen in Deutschland?
## Politisch naiv?
Und weiter: Werden die neuen Zuwanderer ganz schnell zu
Verfassungspatrioten? Was passiert, wenn die Idealisierung Deutschlands
durch die Flüchtlinge umschlägt, weil man im Sehnsuchtsland BRD unter
ätzenden Bedingungen in einer Turnhalle nächtigt und so schnell dann doch
nicht arbeiten darf? Warum braucht die USA über ein Jahr, um die Identität
von wenigen tausend Syrern zu überprüfen und lässt sie erst dann ins Land,
während Deutschland auf so etwas verzichtet? Ist das nicht politisch naiv?
Das ist nur ein Bruchteil der Fragen, die derzeit eher unter der Oberfläche
wabern.
Deutschland sollte sich bei all der Willkommenskultur nichts vormachen. Es
erfindet sich zwar wieder neu und baut durch den freundlichen Empfang der
Migranten fleißig Integrationshürden ab. Aber wenn sich dieser Prozess
nicht nur auf die politische und mediale Elite sowie den liberalen
Mittelstand beschränken soll, dann müssen solche Fragen mit heißem Herzen
und kühlem Kopf debattiert werden.
27 Sep 2015
## LINKS
[1] /FC-St-Pauli-boykottiert-Bild-Aktion/!5233805
## AUTOREN
Markus Völker
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