# taz.de -- Kommentar Flüchtlingsgipfel: Deutschland einfach härter machen | |
> Die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder loben sich für einen | |
> Kompromiss, der kein Lob verdient. Er ist gleich mehrfach perfide. | |
Bild: Schon mal kein Fehlanreiz: improvisierte Flüchtlingsunterkünfte. | |
So ein Wort können sich wirklich nur Bürokraten ausdenken. Kalt, technisch | |
und unpersönlich klingt es, aber irgendwie auch präzise und scheinbar wahr. | |
Dieses Wort war der Kanzlerin, dem Grünen Winfried Kretschmann und den | |
anderen Ministerpräsidenten bei ihrem großen Asylkompromiss sehr wichtig, | |
es fällt gleich mehrfach [1][in ihrem Beschluss]. Fehlanreize. | |
Fehlanreize also gelte es für Asylbewerber tunlichst zu vermeiden, was | |
übersetzt bedeutet: Wir müssen Deutschland einfach unfreundlicher und | |
härter machen, dann kommen weniger Hilfesuchende zu uns. Dass die CSU und | |
Merkels CDU so denken, ist keine Überraschung. Aber auch die | |
Sozialdemokraten und die Grünen stimmen dieser Analyse zu, auch wenn sie | |
das nicht ganz so laut sagen. Das ist der große Konsens der deutschen | |
Politik, der sich Donnerstagnacht offenbarte. | |
Jener ist gleich mehrfach perfide. Zunächst arbeiten Merkel und die | |
Länderchefs mit einer handfesten Unterstellung. Viele Flüchtlinge suchen | |
doch gar nicht Schutz, sie wollen etwas bei uns abgreifen - unseren | |
Reichtum, unser Geld, unsere Sozialleistungen. Wer so denkt, sollte sich | |
kurz vor Augen führen, wie tief empfunden Not sein muss, wenn Menschen | |
freiwillig ihre Familie, ihre Freunde und ihre Heimat zurücklassen, um auf | |
eine lebensgefährliche Reise zu gehen. | |
Solche Menschen mögen nach deutschem Recht keinen Asylgrund haben. Aber | |
mindert das ihren Mut, den Aufbruch zu wagen? Oder ihr Recht, ihr Glück zu | |
suchen? Merkels ganz große Koalition hat sich nicht nur dafür entschieden, | |
Armutsflüchtlinge zu entmutigen. Nein, jetzt werden ein paar Schikanen in | |
Gesetzestexte gegossen. Der Staat wird Asylbewerber bis zu sechs Monate in | |
völlig überfüllte Erstaufnahmeeinrichtungen sperren, nicht nur drei wie | |
bisher. Dies wird das Chaos vor Ort nur vergrößern, da sind sich viele | |
Experten einig. | |
## Eine fatale Logik | |
Das kleine Taschengeld, mit dem sich Flüchtlinge bisher einen Kinobesuch, | |
die Busfahrt in die Innenstadt oder ein Eis an der Ecke kaufen können, wird | |
gestrichen. Stattdessen wollen Merkel und die Ministerpräsidenten | |
Sachleistungen oder Gutscheine gewähren. Mal abgesehen davon, dass es schon | |
recht widerwärtig ist, 143 Euro im Monat in einem reichen Land als | |
luxuriösen „Fehlanreiz“ zu definieren: Dieser bürokratische Unfug wird die | |
gestressten Helfer vollends in den Wahnsinn treiben. | |
Bekommt jeder einen Zigarettengutschein, auch die Nichtraucher? Muss jeder | |
ins Kino, auch die, die nicht wollen? Hilft eigentlich ein | |
Gutschein-Schwarzmarkt in Unterkünften? Ist das alles nicht etwas irre? Das | |
sind so Fragen, die die Entscheider im Kanzleramt lieber nicht beantworten | |
wollten. | |
Eine Idee aber ist besonders abstoßend. Merkel und die Länder wollen | |
abgelehnten Asylbewerbern, die nicht freiwillig ausreisen, jede | |
Unterstützung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz streichen - bis auf das | |
„unabdingbar Notwendige“. Will der Staat in Zukunft also verzweifelten | |
Menschen, die sich ihm nicht unterordnen, das Existenzminimum kürzen? Das | |
wäre in der Tat eine interessante Rechtsauslegung, vermutlich bleibt diese | |
Klausel deshalb bewusst schwammig. | |
Dann könnte der Gesetzgeber sich zum Beispiel auch überlegen, Hartz | |
IV-Bezieher, die einen ungeliebten Job nicht annehmen, aus ihrer Wohnung zu | |
werfen. Motto: Wer nicht hören will, wird eben obdachlos, wieder ein | |
Fehlanreiz weniger. | |
Eine solche Logik aber wäre fatal. Die Stärke eines Rechtsstaates zeigt | |
sich gerade in seinem Umgang mit Schwachen, die Menschenwürde gilt auch für | |
diejenigen, die Gesetze nicht achten. Merkel, Kretschmann und die anderen | |
Ministerpräsidenten loben sich im Moment für einen Kompromiss, der kein Lob | |
verdient. | |
25 Sep 2015 | |
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[1] /Fluechtlingsgipfel-im-Kanzleramt/!5235797/ | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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