# taz.de -- Viv Albertine über ihr Leben: „Punk war immer ein Teil von mir“ | |
> Sie war Gitarristin der Punkband The Slits. Nun erscheint ihre | |
> Autobiografie. Viv Albertine über Aggressivität, Selbstbestimmung und das | |
> Gute am Scheitern. | |
Bild: „Wir Frauen brachten Fortschritt in die Sache“, sagt Viv Albertine | |
taz: Viv Albertine, Ihre Autobiografie „Clothes Music Boys“ heißt in | |
deutscher Fassung „A Typical Girl“. Sind Sie ein typisches Mädchen? | |
Viv Albertine: Als Mädchen war ich schüchtern und selbstbewusst, wollte | |
anderen gefallen, wenngleich mir patriarchalische Strukturen immer ein Dorn | |
im Auge waren. Ich war aggressiver als andere Mädchen. Niederlagen konnte | |
ich eher wegstecken, ich war für mein Alter reifer als der Durchschnitt, | |
abenteuerlustiger, das ist bis heute so. Ich habe einander widersprechende | |
Charakterzüge. Die meisten Mädchen waren ausgeglichener, ich neige zu | |
Extremen. | |
Persönliche Niederlagen, aber auch bedeutsame Momente von Punk betrachten | |
Sie in Ihrem Buch nüchtern. | |
Das habe ich von meiner Mutter. Sie hat alles radikal in Frage gestellt. | |
Die siebziger Jahre in England waren vergleichbar mit den Vierzigern. Alle | |
waren ehrfürchtig den Autoritäten gegenüber. Meine Mutter nicht. Punk ist | |
auch explodiert, weil ich auf Gleichgesinnte gestoßen bin, die Autoritäten | |
ebenso in Frage gestellt haben. Was die haarsträubenden Situationen angeht, | |
in die ich dadurch geriet, hatte ich Ängste auszustehen. | |
Ich habe mich aber nie als Opfer gesehen. Vieles, was schiefging, habe ich | |
mir selbst zuzuschreiben, aber es hat mein Leben trotzdem bereichert. Das | |
will ich jungen Lesern vermitteln: Fehler machen bedeutet noch lange nicht | |
zu scheitern. Und Scheitern ist nicht gleichbedeutend mit Versagen. Das | |
soll nicht schulmeisterlich klingen, ich habe einen Draht zur Jugend, meine | |
Tochter ist 16. | |
Sie verzichten als Autorin auf Pathos. Warum? | |
Den Slits und mir mit dem Buch einen Platz in der Kulturgeschichte zu | |
sichern; das war mir zu billig. Wichtiger ist mir das Humanitäre: Im | |
Scheitern steckt tieferer Sinn. Damit, dass die Slits und ihre Pop-Ästhetik | |
wiederentdeckt wurden, erzeuge ich Reibung: Nur weil wir cool aussahen und | |
bahnbrechende Songs komponiert haben, soll nicht verschwiegen werden, dass | |
das Leben für mich unbequeme Wahrheiten bereitgehalten hat. | |
Der Mythos besagt, Punk habe gegen die Gesellschaft revoltiert, Ihr Buch | |
konzentriert sich jedoch auf das häusliche Drama. | |
Ja, Punk war ein Protest gegen die Gesellschaft. Aber mir ging es darum, | |
diese Geschichte aus persönlicher Warte zu schildern. Meiner weiblichen | |
Perspektive war ich mir dabei sehr bewusst. Was mir an Unterdrückung | |
widerfahren ist, erleben auch andere Frauen zu Hause, hinter verschlossenen | |
Türen. Wir schreiben aus dem Innern unseres Körpers, unsere Seelen leiden, | |
wenn wir ignoriert, angefummelt, geschlagen werden. Mir liegt viel an | |
meiner Privatsphäre – dennoch musste ich aufschreiben, was mir widerfahren | |
ist. | |
Sie beschreiben einen initialen Moment, in dem Sie die Perkussionistin der | |
Funkband Kokomo live erlebt haben. Wie befreiend war das? | |
Musikerinnen in den frühen Siebzigern waren meist Sängerinnen in | |
Abendkleidern. Es gab nur diese von der Musikindustrie konfektionierten | |
Rollenmodelle. Ich wollte von frühester Jugend Teil von Pop werden, wusste | |
aber nicht, wie das geht. Und dann sah ich 1975 diese Perkussionistin. Sie | |
konnte nicht spielen, stand aber trotzdem auf der Bühne! | |
Bald danach veröffentlichte Patti Smith ihr Album „Horses“. Auf dem Cover | |
inszenierte sie sich halb männlich, halb weiblich. Ich dachte sofort: | |
Genauso fühle ich auch. Dadurch wurde mir klar, wie wichtig selbst | |
ausgedachte Musik ist. Patti klang so freizügig und selbstbestimmt wie | |
keine zuvor. Damals sollten Mädchen beim Sex keinen Mucks machen, über | |
Menstruation schweigen. Und sie schrie es einfach raus. | |
Wieso gilt Punk dann heute als sexistisch? | |
Das weise ich zurück: Wir Frauen brachten Fortschritt in die Sache. Klar | |
gab es Sexismus: Die Musikindustrie war 1976 eine Männerbastion. Genauso | |
die Medien. In vielen Bands gaben Machos den Ton an, nehmen wir Paul Weller | |
von The Jam. Bedeutender für mich war Vivienne Westwood, eine | |
Geschäftsfrau, die aus der nordenglischen Arbeiterklasse kam und Männer | |
nicht mehr unterwürfig angelächelt hat. | |
Neu war auch der Einfluss von Reggae. Wie prägend war er wirklich? | |
Wie fast alle Ur-Punks besuchte ich eine öffentliche Schule in London, | |
Mitschüler kamen aus der Karibik, hatten indische Wurzeln. Das war ein | |
irrer Resonanzraum. Vom Mainstream angeödet waren wir schon, bevor Punk | |
losging. Zunächst gab es nichts, mit dem wir das ersetzen konnten. Reggae | |
lehrte uns, in unserem Dialekt zu singen. Er war Sprachrohr für die | |
Besitzlosen und Entrechteten. Gerade mit ihnen haben wir uns identifiziert. | |
Außerdem klang Reggae minimalistisch und unprätentiös. Aus Dub werden | |
Klangelemente gesiebt, das entsprach unserem Lebensgefühl. Aber | |
Rastafarians sind leider Sexisten. Sie wollten, dass wir Kopftücher tragen | |
und ihren Haushalt führen. Obwohl wir von ihrem Sound fasziniert waren und | |
sie von unserem, führte das zu vielen Missverständnissen. | |
Wann wurde Ihre Sozialisation zum Hindernis? | |
Punk war immer ein Teil von mir. Ich habe dafür gelebt, auch wenn es nur 18 | |
Monate gewesen sein mögen, in denen ich mich ihm zugehörig gefühlt habe. | |
Anfang der Achtziger wurde England konsumorientierter, Frauen gingen | |
plötzlich zur Maniküre. Dem stand ich im Weg. Auch, weil ich den Mund | |
aufmache, wenn mich was stört. So gab es keinen Platz mehr für mich. Im | |
britischen Pop ändern sich die Moden und Stile schnell. | |
Der Schauspieler Vincent Gallo trat 2007 auf den Plan und outete sich als | |
Slits-Fan. Woher kennen Sie ihn? | |
Er sah die Slits als 18-Jähriger 1979 live in New York. Als er mich | |
aufgespürt hat, war für ihn noch relevant, was ich als Punk gemacht hatte. | |
Die Person, die ich einst war, hatte ich zu dem Zeitpunkt längst vergessen. | |
Durch Gespräche mit Gallo wurde sie wieder zum Leben erweckt. | |
2012 haben Sie die Hauptrolle in dem tollen Film „Exhibition“ von Joanna | |
Hogg gespielt. War das ähnlich existenziell wie Punk? | |
Definitiv, kurz vor Beginn der Dreharbeiten habe ich mein Haus verkauft, | |
meine Ehe ging kaputt. Die Story handelt von einem Paar, das an seinem Haus | |
verzweifelt, sie ging mir nah. Anders als beim Verfassen des Buches 2014 | |
war der Film keine kathartische Erfahrung, dafür war die Arbeit zu | |
anstrengend. Letztendlich ist mir egal, ob ich auf der Leinwand zu sehen | |
bin oder ob sich mein Buch verkauft. Ich habe unglaubliche Energie in die | |
Slits gesteckt und es dauerte 30 Jahre, bis unsere künstlerische Leistung | |
anerkannt wurde. Tu das, was du tun willst, ohne nachzudenken! Egal, ob | |
sich Leute an dich erinnern oder nicht. | |
6 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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