| # taz.de -- Underground-Kunstszene im DDR-Erfurt: Es kribbelt unter den Akten | |
| > Ein Buch der Künstlerin Gabriele Stötzer zeigt, wie eine Subkultur in | |
| > Erfurt zu DDR-Zeiten zwischen Selbstermächtigung und Repression stand. | |
| Bild: Fotoserie der Staatssicherheit von der Haustür der Erfurter Galerie im F… | |
| 17. November 1976. Gabriele Stötzer tippt auf ihrer Schreibmaschine die | |
| Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns und unterschreibt als erste. | |
| In der Nacht, bevor sie die Liste nach Ostberlin bringen will, wird sie | |
| verhaftet. Es ist ihr erster persönlicher Kontakt mit der Staatssicherheit. | |
| Bis 1989 wird sie in vier Verfahren observiert, exmatrikuliert und | |
| inhaftiert. 12 Monate sitzt sie im Frauengefängnis Hoheneck, leitet danach | |
| eine Untergrundgalerie, die 1981 liquidiert wird. | |
| Ihre Frauen-Punkband Erweiterter Orgasmus (EOG) probt in Erfurter Kellern. | |
| 1984 initiiert sie eine Künstlerinnengruppe – damals einmalig in der DDR – | |
| die in Super-8-Filmen, Fotografien, Performances, Mode-Objekt-Shows und | |
| Manifesten Konzepte weiblicher Selbstermächtigung, Kollektivität und | |
| Gesellschaftskritik vereinte. | |
| Auch diese künstlerischen Gegenentwürfe blieben der Stasi nicht verborgen. | |
| Für [1][eine Ausstellung hat Gabriele Stötzer] zur Rolle der Stasi in der | |
| Erfurter Subkultur zwischen den 1960er und 80er Jahren recherchiert: „Es | |
| galt, ihr (der Staatssicherheit) mein Leben aus den Händen zu reißen, ihr | |
| die Kraft zu nehmen, indem ich ihr ins Antlitz sah.“ | |
| 32 Akteur:innen aus Kunst und Literatur erklärten sich damit | |
| einverstanden, dass Stötzer Einsicht in deren Akten nimmt und ihre | |
| Recherche veröffentlicht. Ihr daraus entstandenes Buch „Der lange Arm der | |
| Stasi“ schildert eindrücklich eine DDR-Realität – auch dank der | |
| konzeptuellen und gestalterischen Umsetzung. 60 Personen werden mit | |
| Fotografien eingeführt. | |
| ## Ein Netz von Freundschaften und Überwachung | |
| Die kurzen Texte in den Marginalspalten, verfasst von Co-Autorin und | |
| Herausgeberin Anne König, verorten sie in der Szene. Zwischen den Bildern | |
| spinnt sich so ein Netz von Freundschaften, Liebe, Zusammenarbeit und | |
| Überwachung. Denn von Seite zu Seite stellt sich die Frage: Spitzel oder | |
| nicht? | |
| Obwohl selbst Betroffene, gelingt es Stötzer in ihren Texten, die | |
| unterschiedlichen Formen der Observation sachlich zu vermitteln. Nicht | |
| zuletzt ein Begriffsglossar im Anhang macht auch für kommende Generationen | |
| greifbar, wie die Stasi neben einer Person auch deren engstes Umfeld bis | |
| hin zu Arbeitsstellen und Hochschulen kontrolliert hat: „Man fühlt sich wie | |
| eine ansteckende Kranke, die alle, mit denen sie in Kontakt war, infiziert | |
| hat.“ | |
| Gabriele Stötzer schreibt offen und ehrlich. Angst, selbst körperliche | |
| Übelkeit habe sie während der Recherche zum Buch befallen. Fotos von den | |
| Aktionen der Erfurter Szene stehen im harten Kontrast zu den Reproduktionen | |
| aus den Akten. Diese bezeugen die umfassende Überwachung: | |
| Observationsbilder zeigen Stötzer bei ihren täglichen Gängen in und aus der | |
| Wohnung, daneben ein Grundriss derselben, eine Aufnahme vom Haus. | |
| Einmal fädelte die Stasi die [2][Begegnung mit einem Transvestiten] ein. Er | |
| sollte sie zu pornografischen Bildern animieren, mit denen man sie hätte | |
| kriminalisieren können. Doch Stötzer hat aus ihm ein Fotomodell gemacht. | |
| Die Arbeit zählt heute zu ihrer wichtigsten aus dieser Zeit. | |
| ## Unterschiedliche Identitäten in selbst entworfenen Kostümen | |
| Ein Kapitel ist den Frauen in Erfurt gewidmet. Sie treffen sich in | |
| Wohnungen und diskutieren ihre Vision eines selbstbestimmten Lebens. Mit | |
| Deckeln, Töpfen und Lampen entsteht erste Musik. In [3][selbst entworfenen | |
| Kostümen nehmen sie unterschiedliche weibliche Identitäten] an. | |
| Sie sind Autodidaktinnen. Die DDR verlassen wollen sie nicht, in der | |
| Erfurter Punk-Szene finden sie Rückhalt, manchmal auch in der evangelischen | |
| Kirche. Zu den frühen Akteurinnen zählen Monika Andres, Verena Kyselka, | |
| Monique Förster, Gabriele Göbel, Ina Heyner, Ingrid Plöttner, Elke Karl und | |
| Harriet Wollert. | |
| Ab 1986 produziert die Künstlerinnengruppe Erfurt jedes Jahr einen | |
| Experimentalfilm, führte etwa in „Komik-Komisch“ (1988) absurde | |
| Bewegungsabläufe auf den Dächern der Stadt auf. Die Filme waren im | |
| vergangenen Jahr Schwerpunkt der Ausstellung „Hosen haben Röcke an“ in der | |
| Berliner nGbK. Erstmals gab diese mit originalen Materialien und Kostümen | |
| Einblick in die kaum bekannte feministische Subkultur der DDR. | |
| Wie in jener Ausstellung zeugen nun auch im Buch Briefe und Akten von ihrer | |
| steten Überwachung. Der Partner einer der Frauen unterstützte die Gruppe | |
| zwar mit Verstärker und Mikrofonen, berichtete aber auch als Inoffizieller | |
| Mitarbeiter (IM) über Kunstaktionen und gab private Details wie Scheidungen | |
| und Krankheiten weiter. In der Gruppe gab es nachweislich keine weibliche | |
| IM. | |
| ## All die IMs ohne Namen und Gesicht | |
| Am 4. Dezember 1989 gehörte Gabriele Stötzer zu den Frauen, die den | |
| Startschuss gaben, um das Stasi-Bezirksgebäude in Erfurt friedlich zu | |
| besetzen. „All die IMs und offiziellen Mitarbeiter haben bis heute keine | |
| Namen und kein Gesicht“, schreibt sie und ermuntert dazu, Einsicht in die | |
| Akten zu nehmen. „So kann Frieden in uns hergestellt werden, der uns hilft, | |
| wach zu bleiben und hinter die Masken der Zeit zu schauen.“ | |
| Im Sommer 2019 hat sie bei dem Mann geklingelt, der sie in den Knast | |
| gebracht hat. Das im Buch abgedruckte Gedächtnisprotokoll jener Begegnung | |
| beschließt dieses Stück Zeitgeschichte. Es ist auch ein Stück | |
| Kunstgeschichte. | |
| 12 Nov 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /DDR-Subkultur-in-Cottbus/!5488438 | |
| [2] /Queerness-im-Bild/!5888197 | |
| [3] /Schau-ueber-Elsa-Schiaparelli-in-Paris/!5881974 | |
| ## AUTOREN | |
| Sarah Alberti | |
| ## TAGS | |
| 30 Jahre friedliche Revolution | |
| DDR | |
| Feminismus | |
| Bildende Kunst | |
| Aktionskunst | |
| Videokunst | |
| Underground | |
| Körper in der Kunst | |
| Fotografie | |
| Bildende Kunst | |
| wochentaz | |
| Roman | |
| DDR | |
| Punk | |
| Lesestück Interview | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Neodadaismus aus der DDR: Sie entleerten die Bilder | |
| Eine Berliner Retrospektive erinnert an die neodadaistischen Performances | |
| der Dresdner Auto-Perforations-Artisten in den 1980er Jahren. | |
| Fotobuch über Trümmer in der Ex-DDR: Ankündigung des sozial Abgebrühten | |
| Arwed Messmer fotografierte Trümmerlandschaften in Ostdeutschland. In | |
| seinem Buch deuten sie eine ebenso rauhe Geschichte wie Gegenwart an. | |
| Kunst zu „Kochen Putzen Sorgen“: Bis zum surrealen Familiengesicht | |
| Die Ausstellung „Kochen Putzen Sorgen“ im Quadrat Bottrop zeigt | |
| feministische Kunst von den 1960ern bis heute. Die ist ziemlich satirisch. | |
| Ausstellung über Wolf Biermann: Am lebenden Objekt | |
| Das Deutsche Historische Museum zeigt eine große Schau über Wolf Biermann | |
| und seine beiden Deutschlands. Über eine Liebes- und Hassfigur. | |
| Wiederentdeckter DDR-Roman: Die Kräuselschrift der Böen | |
| Der Roman „Die Alleinseglerin“ aus der DDR ist wiederentdeckt worden. Darin | |
| zeichnet Christine Wolter eine Beschwörung widerspenstiger Schönheit. | |
| Doku über DDR-Künstlerinnen: Bleiben oder gehen? | |
| Freiräume in der DDR: Die Doku „Rebellinnen“ kreist um das Leben der | |
| Künstlerinnen Tina Bara, Cornelia Schleime und Gabriele Stötzer. | |
| Konzert mit Ostpunkbands in Berlin: Bierdusche für die Discokugel | |
| Mit zwei Jahren Verspätung feierten Ostpunkbands von Betonromantik bis | |
| L’Attentat die Wiederauflage ihrer Musik aus DDR-Zeiten. | |
| Im Interview: Pfarrerin Jasmin El-Manhy: „Ich bin ja eine Westberliner Göre�… | |
| Mit 14 wollte sie Muslimin sein. Mit 40 befasst sich Jasmin El-Manhy mit | |
| DDR-Geschichte und Kinder-Trauer – als Pfarrerin in Prenzlauer Berg. |