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# taz.de -- Fotobuch über Trümmer in der Ex-DDR: Ankündigung des sozial Abge…
> Arwed Messmer fotografierte Trümmerlandschaften in Ostdeutschland. In
> seinem Buch deuten sie eine ebenso rauhe Geschichte wie Gegenwart an.
Bild: Der teils abgetragene Palast der Republik in Berlin Mitte am bereits umbe…
Von sich aus bedeuten Ruinen nichts. Man muss sie als Zeichen
entschlüsseln. Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Hartmut Böhme
schrieb über sie: „Die prekäre Balance der noch sichtbaren Formbestimmtheit
und der noch nicht endgültigen Formauflösung der Ruinen prädestiniert sie
dazu, zur stummen Zeichensprache der Geschichte zu werden.“
In Ruinen können Modi der Zeit zusammenfallen. Wenn der Fotograf Arwed
Messmer seinem kürzlich erschienenen Bildband den Titel
„Tiefenenttrümmerung“ gibt, geht damit das Gefühl einer Bereinigung einher
– allerdings zugunsten einer düsteren Perspektive. Trümmer sind Ruinen im
fortgeschrittenen Stadium der Auflösung. Sie zerfallen endgültig, gehen in
Landschaft über, wirken aber, kann man mit Blick auf Messmers Arbeiten
vermuten, lange nach. Erst wenn sie abgeräumt werden, verschwinden sie als
Zeichenarchiv.
Arwed Messmer, geboren 1964 in Schopfheim, untersucht vor allem Archive. Er
montiert neu, bringt Zeitschichten ans Tageslicht. Entlang der Geschichte
von Orten hat Messmer auch eine Gestaltwerdung der bundesrepublikanischen
Gegenwart gesucht.
Dafür hat er nun sein eigenes Archiv ausgewertet – und festgestellt, dass
er mit der Kamera zum Ende der DDR noch immer präsente Bruchteile des
Nationalsozialismus einfing und bauliche Reinigungsmaßnahmen dokumentierte,
die vielleicht den Auftritt einer [1][sozial abgebrühten, unempathischen
Gegenwart] ankündigen.
## Raketentechnologie im Stollensystem
Messmers Archiv beginnt mit einer Reihe Aufnahmen, die er als „Suche“
überschreibt. In der Rückschau sind die Orte, die Messmer (als
eisenbahnbegeisterter Jugendlicher, als Studierender, als ausgebildeter
Fotograf) besuchte, nicht zufällig gewählt. Sondern politisch konnotiert:
Messmer besuchte das ehemalige Heeresversuchsanlage in Peenemünde und
Niedersachswerfen. Bis zum Ende des zweiten Weltkrieges wurde hier
Raketentechnologie entwickelt und in einem Stollensystem zusammengebaut,
militärisches Sperrgebiet blieb es bis 1990.
[2][Das Seebad Bansin] bei Wolgast hatte der Gauleiter von Pommern als
erstes für „judenfrei“ erklärt. Der Brocken war 1990 noch mit
Betonelementen „Mauer 75“ bewehrt, von hier lauschten Rote Armee und das
MfS nach Westen. Nach der Wende baute die sowjetische Armee neue
Stacheldrahtzäune gegen staunende Tagesausflügler und blieb bis 1994. Ums
Feuer in Questenberg standen zu Pfingsten 1991 neue und alte Nazis.
Die Bildstrecken liegen im Buch als Kontaktabzüge wie Flöze übereinander:
Der Trainspotter Arwed Messmer suchte nach Lokomotiven aus der Baureihe 52,
ab 1942 in hoher Stückzahl gebaut. Sie wurden vor Deportationszüge für
Konzentrationslager gespannt, waren in der DDR bis 1980 im Einsatz. Entlang
der Kontaktstreifen folgen wir dem Versiegen des kalten Krieges: Panzer bei
Prora und Denkmäler für Kriegstote überlagern sich, wir streifen durch
vernarbte, leergezogenen, aber noch nicht abgerissene Altbauten in Leipzig.
Die Bildstrecken bestehen aus Schnappschüssen, sicher schon komponierte
Aufnahmen, aber vor allem Dokumente einer konzeptionell unfertigen,
nervösen Suche, die den Umbruch erfassen will.
Im zweiten Kapitel, „Nullpunkt“ wird die Bildsprache ruhiger, der
Ausschnitt weiter. Messmer begibt sich auf die Spur einer Gewaltgeschichte:
Hitlers Reichskanzlei, gemauerte Fundamente, Stahlbeton, im Weltkrieg
zerbombt, überpflügt, versunken. Aufnahmen öffnen sich zu erschütternden
Panoramen, sorgfältig komponiert unter ausdruckslosem
Hilla-und-Bernd-Becher-Himmel.
## Vernutzte Orte
Wenn man sich die Aufnahmen länger anschaut, kann man meinen, dass auf den
Trümmern die Stadt nicht zusammenwüchse: Obenauf nachlässige Teerflächen,
Pflaster und Bodenplatten, neu und schon vergammelt. Obsolete Betonpfeiler
sind widerborstig, ringsum macht sich allenfalls breit, was man
Ruderalvegetation nennt: Struppige Pflanzen, die es an diesen vernutzten
Orten aushalten.
Wo einmal [3][das große Kaufhaus Wertheim stand] und im Krieg beschädigt
wurde, wollte die DDR Plattenbaureihen errichten. Kam nicht voran. Bis 2005
stand dann der Tresor hier, vereinte Hedonisten Ost wie West, lockte
Touristen aus aller Welt: Ein Technoclub.
Das dritte, umfangreichste Kapitel heißt „Übergang“ – es beobachtet Sta…
und Land beim Verdauen und Neuausrichten: Reste von Industrie, Trümmer
werden weggeschafft, Plattenbauten abgerissen. [4][Messmer schaut auf
Berlin], streift durch Ostdeutschland – Zustände in Westberlin und
Westdeutschland hat er in anderen Arbeiten untersucht. Seine Aufnahmen
erzählen auch von der Absage an Verantwortung, vom Rückzug des Staates:
Metallschrott liegt am Rande eines LPG-Geländes, neben stillgelegten
Gleisen. Soll doch wer anders den Müll wegräumen.
Aus den Bildern spricht viel Empathielosigkeit, ein Schulterzucken über
Historie und Kultur: Die großformatige Industrielandwirtschaft kümmert die
Umweltzerstörung nicht, die sie verursachte. Die Häuserzeilen von
Landarbeitern sind zu Wohnbehältnissen degradiert. Der Kulturpalast zeigt
große Geste mit mickriger Zufahrt.
## Enttrümmerung beseitigt Erinnerung
Messmers [5][Blick auf Berlin und Ostdeutschland vermittelt bereits eine
Renitenz], die sich bald breitmachen wird: Während in Städten noch
DDR-Moderne abgerissen wird, wachsen schon investorenkalte Häuser.
Kapitalertragsästhetik drängt dazwischen, neue Balkone verkünden Miethöhen.
Das Leben auf dem Land, ahnen wir, wird den Anschluss verpassen.
Die Enttrümmerung beseitigt Erinnerung. Im neuen, geographischen
Mittelpunkt eines Deutschlands nach 1990 pflanzte die thüringische Gemeinde
Niederdorla einen Baum. „Traum vom Reich“, hat Arwed Messmer seinen
Bildband unterschrieben. Wenn die dunkle Teile der Vergangenheit beseitigt
sind, scheint es, als könnte die Tür zur Nostalgie aufgestoßen werden.
Potsdam wird zum preußischen Disneyland verkitscht, in Berlin wird ein
Schloss gebaut. Der Baum in Niederdorla ist eine Kaiserlinde.
14 Dec 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Lennart Laberenz
## TAGS
Fotografie
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30 Jahre friedliche Revolution
Lesestück Recherche und Reportage
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