| # taz.de -- Bildband über Corona-Lockdown: Dokumente des Ausnahmezustands | |
| > Ein Fotobuch zoomt auf Details aus der Coronazeit. Die Bilder erzählen | |
| > von Langeweile und Leere, von anziehender Einsamkeit und Isolation. | |
| Bild: Keine Tourist:innen in Sicht. Melancholie überm leeren Skigebiet | |
| Zwiebelschalen auf einem türkisfarbenen Küchentisch. Verwelkte Tulpen. | |
| Ausgedrückte Orangenschalen. Es sind einfache und doch farblich schön | |
| komponierte Stillleben, die Jeanette Petri an ihrem Frankfurter Küchentisch | |
| fotografiert hat. 2020, als im ersten coronabedingten Lockdown viel mehr | |
| nicht ging, als einkaufen und kochen. Den Kopf voller Sorgen, wurde das | |
| Fotografieren von Obst und Gemüse zu ihrer täglichen Meditation. | |
| Jeanette Petri gehört zu den 89 Fotograf:innen, die ein Fotobuch zusammen | |
| gemacht haben über die Coronazeit. Viele von ihnen haben 2020 abrupt | |
| Aufträge verloren und suchten sich selbst ein Thema: gegen den Stillstand, | |
| gegen Existenzsorgen, gegen das Gefühl des Eingeschlossenseins. Und bald | |
| auch, um den Ausnahmezustand zu dokumentieren. | |
| Nicht wenige nahmen die Zeit auch als einen unerwarteten Freiraum wahr, der | |
| im plötzlich menschenleeren öffentlichen Raum neue Möglichkeiten bot. Das | |
| erfährt man aus den kurzen Statements der Fotograf:innen, die in einem Heft | |
| dem Fotobuch beilegen. Erst einmal aber blättert man durch die | |
| unkommentierten Bilder, jede/r hat vier oder zwei Seiten bekommen, das | |
| Layout wechselt zwischen doppelseitigen Bildern und kleinteiligen Strecken. | |
| Es liegt eine schöne Melancholie über den [1][stillen Seebädern von Sylt] | |
| und Langeoog, die Andreas Herzau und Deff Westerkamp fotografiert haben. | |
| Das Aushebeln des Tourismus hat jene Landschaft freigesetzt, die viele ja | |
| dort suchen, aber eben immer mit vielen teilen müssen. Einsamkeit kann auch | |
| anziehend sein; davon erzählen die Bilder des Buches ebenso wie von den | |
| bedrückenden Erfahrung der Isolation, etwa einer alleinerziehenden Mutter. | |
| ## Teils vergessen, teils verdrängt | |
| Die Einschränkungen des sozialen Zusammenlebens wurden in den Coronajahren | |
| 2020/2021 als einschneidend erlebt. Sie bewirkten durch die Gegner der | |
| Coronamaßnahmen tiefe Erschütterungen im sozialen Zusammenhalt. Da ist es | |
| heute erstaunlich, wie schnell das teils vergessen, teils verdrängt wurde, | |
| bald überdeckt von neuen Konflikten. Das Blättern im Buch ruft Erinnerungen | |
| wach. Und erzeugt dabei ein Wechselbad der Gefühle. | |
| Denn schließlich haben einige der Fotograf:innen auf Pflegestationen | |
| gearbeitet, zeigen die bedrückenden Situationen von Personal und Patienten. | |
| Patrick Junker lässt dem Bild eines als Sensenmann verkleideten Mannes, der | |
| über einen Parkplatz läuft, das Porträt eines jungen Mannes folgen. Der | |
| blickt dann erschöpft in die Kamera, im Gesicht noch die Spuren seiner | |
| Atemschutzmaske im Desinfektionsdienst. | |
| Undramatisch und dennoch eindringlich wirken die klassischen Porträts von | |
| vier Frauen, die in der Zeit als Apothekerin oder Konditorin | |
| weitergearbeitet haben. Sibylle Zettler hat sie fotografiert: | |
| Systemrelevanz ohne Pathos. | |
| Viele Bilder, und das ist dann sogar unterhaltsam, fangen das Gefühl der | |
| Absurdität ein, dass der Rhythmuswechsel im Alltag mit sich brachte. Es | |
| sind visuelle Fundstücke: Ein kleines Schild „Bitte Abstand halten“ setzt | |
| ein Antidot mitten in den großformatigen Werbeplakaten von Intimität | |
| versprechenden Bikini-Schönheiten. So hat es Michael Zegers festgehalten. | |
| Die Sexarbeiterinnen von Sankt Pauli | |
| Mehr und mehr liest man sich in die Geschichten der Bilder ein. Vom | |
| [2][Kampf der Sexarbeiterinnen aus Sankt Pauli] um ihren Arbeitsplatz | |
| (Hinrich Schultze), von ersten Chorproben, die wieder stattfinden durften | |
| im Freien, unter einer Brücke (Rolf Schulten). Von kleinen, wiedererlangten | |
| Rechten erzählen die Bilder. | |
| Fünf Fotograf:innen geben das Buch zusammen heraus. Der Kurator | |
| Wolfgang Zurborn hat den schweren Job übernommen, aus Tausenden von Bildern | |
| eine Auswahl zu treffen. Einmal eingetaucht in die unterschiedlichsten | |
| Atmosphären, würde man von vielen der Künstler:innen gern mehr sehen; | |
| aber auch so ist das Buch schon dick. Die Wechsel zwischen den | |
| unterschiedlichen Konzepten und Zugriffen, dokumentarisch, essayistisch, | |
| sehr persönlich, erfordert öfters harte Sprünge in die nächste Realität, wo | |
| man lieber noch verweilen möchte. | |
| 17 Jan 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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