| # taz.de -- Ostdeutsche Fotografin Evelyn Richter: Durch politische Gezeiten | |
| > Im Kunstpalast Düsseldorf ist eine große Retrospektive der 2021 | |
| > verstorbenen Fotografin Evelyn Richter zu sehen. Darunter ist viel | |
| > Unbekanntes. | |
| Bild: Evelyn Richter: „Kleinbahn auf Rügen“ von 1976 | |
| Als 1989 die Galerie der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst | |
| versuchte in einem Ausstellungskatalog eine gesamtdeutsche Fotogeschichte | |
| zu schreiben, zwang sie Bernd und Hilla Bechers ikonische Fachwerkhäuser | |
| aus dem Siegerland grobschlächtig mit dem Scherengitter-Bild einer | |
| Pförtnerloge von Evelyn Richter zusammen. | |
| Auch im Leipziger Archiv der Fotografin Evelyn Richter finden sich frühe | |
| Studien thüringischer Fachwerkfassaden, allerdings stehen bei ihr – im | |
| Unterschied zur Becher’schen Vermeidung von allem Körperlichen – Menschen | |
| im Bild. | |
| Den Becher-Preis für Fotografie konnte die 1930 in Bautzen geborene Evelyn | |
| Richter 2020 schon nicht mehr entgegennehmen. [1][2021 verstarb sie in | |
| Dresden] noch vor ihrer ersten großen Retrospektive in Westdeutschland, die | |
| nun im Kunstpalast Düsseldorf stattfindet. | |
| ## Mit Aufträgen über Wasser gehalten | |
| „Mit dem Tod von Künstler:innen ändert sich die Situation, aus der wir | |
| ihr Werk betrachten“ betonen die Kurator:innen Linda Conze, Jeanette | |
| Stoschek und Jan Wenzel in ihrem detaillierten Katalog zur Ausstellung. | |
| Darin zeigen sie fotografische Auftragsarbeiten, mit der sich die | |
| freischaffende Künstlerin Evelyn Richter überhaupt in der DDR über Wasser | |
| halten konnte. | |
| Und sie öffnen ihr Arbeitsdepot. Lange nämlich verstaute Richter ihre | |
| Abzüge in ORWO-Kartons. Denn Künstler:innen aus der DDR – und Richters | |
| wichtige Arbeitsphase umspannt die 40 Jahre im geteilten Deutschland – | |
| arbeiteten häufig auf spätere Zeiten hin. | |
| Die Ebenen zwischen dem offiziellen Werk und einem verstreutem „Überschuss“ | |
| der Materialien, jenen Bildern aus den ORWO-Kartons, werden prägnant im | |
| Katalog kenntlich gemacht. Und so bietet der von Wolfgang Schwärzler durch | |
| Papierwahl, abgestufte Gestaltungen, eingebettete Materialien und dichte | |
| Bezugnahmen gestaltete Band frische Perspektiven auf ein schon | |
| kanonisiertes Werk der Fotografin. | |
| ## Selfie in Minsk | |
| Richters frühe Aufnahmen sorbischer Trachten stehen August Sanders | |
| ethnologischer Sicherungsarbeit im Westerwald nahe. Doch dann stürzte sich | |
| ihre Kamera berauscht in die sowjetischen Metropolen; auf einem Selfie in | |
| Minsk von 1957 fällt sie aus der kontrollierten Rolle und blickt verliebt | |
| in die Kamera. In der Stadtverwaltung von Kiew hängen Pläne zum | |
| Wiederaufbau – erst wenige Jahre zuvor hatte die Deutsche Wehrmacht hier | |
| nur Zerstörung und Tod hinterlassen. „Von da an konnte ich einfach nicht | |
| mehr so fotografieren wie bisher“, wird sie im Katalog zitiert. | |
| Später wird Evelyn Richter die Dokumentaristin eines heute vergessenen | |
| Kulturlebens in der DDR. Auf einem Bahnsteig lungern Teenager mit | |
| Ghettoblaster in einem Moment popkultureller Freiheit. Häufig porträtierte | |
| die zwischen der Lausitz, Leipzig und Berlin per Zug pendelnde Fotografin | |
| andere Reisende. | |
| Oder sie begleitet in langen Werklinien und körnigen Kontrasten den | |
| Komponisten Paul Dessau gemeinsam mit den Kollegen Luigi Nono und Hans | |
| Werner Henze, dem Dramatiker Heiner Müller oder der Regisseurin Ruth | |
| Berghaus – „so, als würde man einen Menschen einsammeln“, heißt es im | |
| Katalog. Evelyn Richters Weg windet sich durch politische Gezeiten. So wird | |
| sie geschätzte Foto-Professorin an der Hochschule für Grafik und Buchkunst | |
| Leipzig, die sie Jahrzehnte vorher noch exmatrikuliert hatte. | |
| In der Düsseldorfer Ausstellung führen 300 Schwarz-weiß-Aufnahmen und | |
| Materialien (Bücher, Schallplattenhüllen, Kontaktbogen, Archivalien) in | |
| neun Kapiteln durch ihre Arbeitsschwerpunkte. Dean Dixon, der schwarze | |
| Chefdirigent des Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt, wandelt mit Neuer | |
| Musik im Gepäck zwischen West und Ost und wird bei einer Probe 1967 im | |
| Leipziger Gewandhaus als passionierter Musikarbeiter porträtiert. Auch der | |
| [2][Maler Otto Dix] pendelte regelmäßig zwischen Dresdner | |
| Lithografiewerkstatt und seinem Atelier am Bodensee. | |
| Ihre Bilder von [3][spanischen Bürgerkriegsflüchtlingen], die nach dem Ende | |
| des Franco-Faschismus 1975 ihre Rückkehr aus der DDR vorbereiten, decken | |
| ein vergessenes Detail der politischen Geschichte Europas auf. Per Zufall | |
| war Richter auch 1961 dabei, als die trennende Mauer in Berlin gebaut | |
| wurde. Sie konnte heimlich einige aus dem Lot geratene Aufnahmen sichern. | |
| Zwei Reisen zur photokina-Messe nach Köln und zum Fotofestival im | |
| französischen Arles festigten internationale Kontakte. Von einer | |
| „Verflechtungsgeschichte“ zwischen Ost und West spricht hierbei Linda | |
| Conze. Sie lässt sich in der nach Leipzig weiterwandernden Ausstellung | |
| nachlesen. Obwohl – und das machen Schau und Katalog deutlich – diese | |
| Verflechtungen auch noch mehr erforscht gehören. | |
| 27 Nov 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Nachruf-auf-Evelyn-Richter/!5804140 | |
| [2] /Ausstellung-im-Cartoonmuseum-Basel/!5471876 | |
| [3] /Reportagereise-Spanischer-Buergerkrieg/!5871441 | |
| ## AUTOREN | |
| Jochen Becker | |
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