| # taz.de -- FOTOGRAFIE: Die Welt der Konstrukteure | |
| > Die Ausstellung "Photography Calling!" im hannoverschen Sprengel Museum | |
| > versucht, die künstlerische Fotografie seit den 1960er Jahren ausgehend | |
| > vom "dokumentarischen Stil" zu betrachten. Für die gezeigten Werke greift | |
| > der Begriff aber zu kurz. | |
| Bild: Auch die "New Topographics" wurden weiterentwickelt: Hier eine unbetitelt… | |
| HANNOVER taz | Könnte der 1975 verstorbene Fotokünstler Walker Evans diese | |
| Ausstellung sehen, er würde sich wohl die Augen reiben. Da hängen | |
| großformatige Farbfotos von inszenierten Schnittblumen neben | |
| kleinformatigen Schwarz-Weiß-Fotos von graubraunen Feldwegen. Eine Serie | |
| von Frauen, die kurz nach der Entbindung nackt mit ihrem Neugeborenem im | |
| Arm für die Kamera posieren, hängt gegenüber einer Serie von frontal | |
| abgelichteten Industriebauten. All das, so will es das Ausstellungskonzept, | |
| soll seinen Ausgangspunkt haben im Begriff des "dokumentarischen Stils", | |
| den Walker Evans im Jahr 1971 geprägt hat. | |
| Evans wollte mit dem Begriff des "dokumentarischen Stils" klarmachen, dass | |
| er seine Fotos nicht nur für Dokumente hält, sondern für den Ausdruck einer | |
| subjektiven Sicht auf die Welt und damit für Kunst. In der Ausstellung | |
| "Photography Calling!" im Sprengel Museum in Hannover wollen die beiden | |
| Kuratoren Inka Schube und Thomas Weski zeigen, wie sich die künstlerische | |
| Fotografie ausgehend von Evans "dokumentarischem Stil" entwickelt hat. | |
| Gezeigt werden insgesamt 430 Werke von 31 FotografInnen. Arbeiten von Evans | |
| sind nicht dabei. | |
| Rund die Hälfte der Fotos stammt aus der Sammlung der Niedersächsischen | |
| Sparkassenstiftung, die als Kooperationspartnerin an der Ausstellung | |
| beteiligt ist. Die Bandbreite reicht von Robert Adams und Lewis Baltz über | |
| Diane Arbus, Elisabeth Neudörfl, Lee Friedlander zu Thomas Demand, Andreas | |
| Gursky und Tobias Zielony. Für alle greift der Begriff des | |
| "dokumentarischen Stils" zu kurz: Sie dokumentieren nicht nur, was ihnen | |
| die Welt bietet, sondern sie konstruieren sie zugleich. | |
| Bereits jene Künstler, die Mitte der 1970er Jahre unter dem Label "New | |
| Topographics" bekannt geworden sind, verfolgen keinen dokumentarischen | |
| Ansatz mehr, sondern arbeiten mit einer konzeptionellen Herangehensweise, | |
| die ihre Arbeiten anschlussfähig machte an den Kunstdiskurs ihrer Zeit. | |
| Die Fotos von Robert Adams und Lewis Baltz etwa zeigen, wie amerikanische | |
| Naturlandschaften und Siedlungen ineinander übergehen. Die Darstellung des | |
| unspektakulären Alltags bewerkstelligen Adams und Baltz mit unspektakulären | |
| fotografischen Mitteln. Das Konzept der fotografischen Objektivität wird | |
| streng durchgehalten. Seinerzeit war von einem "stillosen Stil" die Rede. | |
| Wiederzufinden ist dieser auch bei den Industriebauten-Fotos von Bernd und | |
| Hilla Becher, die ebenfalls in Hannover gezeigt werden. | |
| Zu sehen ist, wie Elisabeth Neudörfl die Ideen von "New Topographics" | |
| weiterentwickelt: Ihre Siedlungsränder und ins Nichts laufenden Betonwege | |
| hat sie im Berliner Umland gefunden. Thomas Ruff arbeitet auch mit der | |
| Weite von Landschaften, allerdings konfrontiert er den Betrachter damit, | |
| wie limitiert so eine Betrachterperspektive sein kann: Seine Fotos der | |
| Marsoberfläche lassen keinen Schluss darauf zu, aus welcher Entfernung sie | |
| aufgenommen wurden. | |
| Nah am Menschen als sozial verfasstes Wesen bleibt dagegen Diane Arbus, die | |
| die Mitte der amerikanischen Gesellschaft untersucht, indem sie Motive | |
| wählt, die von dieser Mitte abweichen - die Kleinfamilie mit dem | |
| schielenden Kind etwa oder die Zwillinge, die so nebeneinander stehen, dass | |
| man nicht weiß, ob sie zusammengewachsen sind. | |
| Ein ähnliches Interesse hat Boris Mikhailov: Er porträtierte Bürger aus | |
| Braunschweig, die 2008 beim Festival Theaterformen den 300 Personen starken | |
| Chor in Aischylos' "Die Perser" gaben. Die Chorteilnehmer sah Mikhailov als | |
| prototypische Vertreter eines Gemeinwesens. | |
| Die Ähnlichkeit der Ansätze von Arbus und Mikhailov versuchen die Kuratoren | |
| zu verdeutlichen, indem sie die Arbeiten einander gegenübergehängt haben. | |
| Die Zusammenhänge aber erschließen sich nicht von selbst. Zumal sich | |
| mitunter auch Arbeiten gegenüber finden, die allenfalls im Kontrast | |
| aufeinander bezogen werden können: Jitka Hanzlovás grobkörnige | |
| Naturaufnahmen aus einem Wald in den Nordkapaten begegnen Andreas Gurskys | |
| fünf Meter breitem, gestochen scharfem und digital konstruiertem Bild einer | |
| Frankfurter Nachtklubszene. | |
| An einer anderen Stelle konfrontieren die Kuratoren die der | |
| Wissenschaftsfotografie verbundenen Tierstudien Jochen Lemperts mit den | |
| Bildern von Thomas Demand. Letztere zeigen mediale Szenerien wie etwa das | |
| Kerzenmeer nach der Katastrophe bei der Duisburger Loveparade im Jahr 2010. | |
| Allerdings hat Demand diese Szenen aus Pappe nachgebaut und fotografiert. | |
| Demands Arbeiten liegt der Gedanke zugrunde, dass der Fotograf nicht die | |
| Wirklichkeit dokumentiert, sondern konstruiert: Er ist im Wortsinn der | |
| Konstrukteur der Welt, die er abbildet, und kein registrierender Beobachter | |
| im Sinne des "dokumentarischen Stils". Auch hat Demand nicht mehr Walker | |
| Evans subjektiven Blick auf die Welt, sondern nur noch Medienbilder, die | |
| ihm die Welt sind. | |
| Demands Arbeiten dennoch auf den "dokumentarischen Stil" zurückzuführen, | |
| unterschlägt die Diskussion um den Dokumentarismus. Konzeptionell bleibt | |
| die Ausstellung "Photography Calling!" daher schwach und steht letztlich | |
| vor allem im Zeichen einer Sammlungspräsentation. Die Kuratoren versuchen | |
| gegenzusteuern, indem sie parallel zur Sammlungspräsentation in einem | |
| Projektraum wechselnde Ausstellungen zeigen. Beteiligt sind die Künstler | |
| Thierry Geoffroy, Markus Schaden und Wilhelm Schürmann. Aber wie die dann | |
| mit der Hauptschau zusammenhängen, steht auf einem anderen Blatt. | |
| Bis 15. 1. 2012, Sprengel Museum Hannover. Der Katalog ist bei Steidl | |
| erschienen und kostet 29 Euro | |
| 14 Nov 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Irler | |
| Klaus Irler | |
| ## TAGS | |
| Fotografie | |
| Kunst | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Ostdeutsche Fotografin Evelyn Richter: Durch politische Gezeiten | |
| Im Kunstpalast Düsseldorf ist eine große Retrospektive der 2021 | |
| verstorbenen Fotografin Evelyn Richter zu sehen. Darunter ist viel | |
| Unbekanntes. | |
| Kunstfestival in Berlin: Raum für Zweckfreiheit | |
| Als Institute für alles Mögliche sind sie Laboratorien der Kunst: Beim | |
| Project Space Festival stellen sich im August viele spannende Berliner | |
| Projekträume vor. | |
| Foto-Ausstellung Lewis Baltz: Stätten des Verfalls | |
| Die Werke des Fotografen Lewis Baltz sind dominiert von Manipulation und | |
| Zerstörung. In Hannover ist nun eine Retrospektive zu sehen. | |
| Fotoausstellung zu Boris Mikhailov: Schlaffer Penis, fette Salami | |
| Den Realismus mit seinen eigenen Mitteln schlagen: Die Ausstellung „Time is | |
| out of joint“ in der Berlinischen Galerie zeigt den Fotoexperimentator | |
| Boris Mikhailov. |