| # taz.de -- Foto-Ausstellung Lewis Baltz: Stätten des Verfalls | |
| > Die Werke des Fotografen Lewis Baltz sind dominiert von Manipulation und | |
| > Zerstörung. In Hannover ist nun eine Retrospektive zu sehen. | |
| Bild: Urbane Einöde: Tract House Nr. 9 von 1971 aus der Serie „Tract Houses�… | |
| In künstliches rotes Licht ist die Piazza Sigmund Freud in Mailand | |
| getaucht. Die Nachtaufnahme von 1989 stammt von dem amerikanischen | |
| Fotografen Lewis Baltz, der 1945 in Newport Beach geboren wurde und heute | |
| zu den wichtigsten Fotografen der Gegenwart zählt. Die Fotografie zeigt | |
| eine unspektakuläre Sicht auf einen Parkplatz im Zentrum der Stadt: urbane | |
| Einöde aus Autos, Absperrungen, Hochhäusern und sternenlosem Himmel. | |
| Wie Sigmund Freud, aus unerfindlichen Gründen Namensgeber des Platzes, | |
| analysiert Lewis Baltz die Vielschichtigkeit der alltäglichen Wirklichkeit | |
| und dringt dabei ins Innere der Gesellschaft vor. So wie auf der | |
| Nachtaufnahme deutlich wird, dass Städte nur noch Orte des Transfers sind, | |
| in denen Menschen arbeiten, schlafen und konsumieren und die Architektur | |
| sich zu einem befremdlichen Artefakt entwickelt hat, verweisen auch andere | |
| Bilder und Wandinstallationen auf einen komplexen Prozess von Entfremdung, | |
| Zerstörung und Manipulation. | |
| Das Kunstmuseum Bonn und die Hannoveraner Kestnergesellschaft zeigen | |
| erstmals in Deutschland eine umfassende Retrospektive und öffnen den Blick | |
| für ein vielfältiges und wichtiges Werk. Schon Baltz’ erste Arbeiten | |
| beweisen ein untrügliches Gespür für die Kulminationspunkte eines urbanen | |
| und technoiden Fortschrittsdenkens. | |
| „Prototype Works“ (1967–76) zeigt Ausschnitte der städtischen Struktur: | |
| flächige Schwarz-Weiß-Aufnahmen mit harten Kontrasten, auf denen Fassaden, | |
| Fenster, Automobile, Schilder und Straßenecken zu sehen sind. Prototypisch | |
| ist die Stadtlandschaft, weil die Artefakte industriell, abweisend und | |
| überall gleich sind. | |
| ## Alltagsbezug der Pop-Art | |
| Schon in diesen ersten Arbeiten zeigen sich Bezüge zur bildenden Kunst | |
| jener Jahre: der Alltagsbezug der Pop-Art, die Reduktion des Minimalismus, | |
| die Genauigkeit der Konzeptkunst. Alle Formen durchdringen sich, und Baltz | |
| übersetzt die Prämissen in ein konsistentes Fotografiekonzept. Das sieht | |
| auch Leo Castelli, der wichtige New Yorker Galerist, der dem jungen | |
| Fotografen für seine Arbeit „Tract Houses“ (1969–71) eine erste | |
| Einzelausstellung einräumt. | |
| Baltz arbeitet umfassend und genau. Die „Tract Houses“ konzentrieren sich | |
| auf die Struktur und Materialität von Fertighäusern und Baugrundstücken. | |
| Die abstrakten Formen verraten dennoch sehr viel über den bürgerlichen | |
| Geist von Eigentum und Inbesitznahme, den die Häuser, die auf freiem Feld | |
| vor den Toren der Stadt entstehen, verkörpern. | |
| Konsequent erweitert er seinen Blick und seine Sujets. „The New Industrial | |
| Parks Near Irvine“ (1973–75) zeigt Industriegelände und -architekturen mit | |
| ihren ebenfalls gleichförmigen und abweisenden Oberflächen. | |
| Unmöglich zu sagen, was hinter diesen geschieht. Hier zeigt sich bereits | |
| die fatale Logik einer modernen industriellen Produktion, die Verantwortung | |
| und Fertigung so flexibel aufteilt und geschickt verschleiert, dass am Ende | |
| niemand genau weiß, wer was wo produziert hat. „Schau dir das an …, du | |
| weißt nicht, ob sie Strumpfhosen oder Mega-Tod herstellen“, bringt Lewis | |
| Baltz die Situation auf den Punkt. | |
| ## Frontaler Blick | |
| Die Arbeiten „San Quentin Point“ (1981–83) und „Candlestick Point“ | |
| (1984–88) zeigen die Abgründe einer städtischen Kultur, die auf Konsum, | |
| Wachstum und einem vordergründigen Begriff von individueller Freiheit | |
| basiert. Und das, obwohl Baltz nichts anderes tut, als den Blick frontal | |
| auf das zu richten, was er sieht: Verkrustungen aus Plastikmüll, Holzreste, | |
| Elektroschrott, Autowracks, von Freizeitschützen mit Waffen zerballerte | |
| Haushaltsgeräte oder überwucherte Brachflächen und verwilderte Gebüsche | |
| bilden die Randgebiete der Stadt. | |
| Diese peripheren Orte sind auch Stätten des sozialen Verfalls: Diebstahl, | |
| Drogensucht und Obdachlosigkeit bilden sich gleichermaßen neben dem Raubbau | |
| an der Natur in den Landschaftstableaus ab. Kein Pathos und keine | |
| moralische Attitüde verstellen den Blick. Baltz fokussiert Zerstörung und | |
| Besitznahme, Verführung und Erniedrigung, Progression und Entropie als | |
| gesellschaftliche Tatsachen. | |
| Lewis Baltz’ fotografische Wurzeln liegen in den 1970ern. Eine Zeit, in der | |
| die Fotografie in Frage gestellt, analysiert und konzeptuell erweitert | |
| wird. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Künstler nicht in einem | |
| gefundenen Modus verharrt, sondern bereit ist, seine Arbeit | |
| weiterzutreiben. Oder wie es sein Freund, der Berliner Fotograf Michael | |
| Schmidt, 1989 formuliert: „Wenn ich mir Deine Bücher ansehe, fällt mir auf, | |
| dass Du mit jedem Buch das vorherige korrigierst. Das verrät Offenheit und | |
| vielleicht auch Unzufriedenheit mit dem Geleisteten.“ | |
| Nur wer sich verändert, bleibt sich treu. Und das beweist Baltz fulminant, | |
| indem er Ende der 1980er Jahre seine Arbeit komplett umstellt. Jetzt sind | |
| keine kleinteiligen, umfangreichen Schwarz-Weiß-Tableaus an der Wand zu | |
| sehen, sondern großformatige, farbige Einzelbilder. „Sites of Technologies“ | |
| (1989–91) heißt dieser Werkkomplex. | |
| ## Orte der dritten industriellen Revolution | |
| Hier sind die Orte der dritten industriellen Revolution zu sehen: digitale | |
| und molekulare Welten der Hochtechnologie. Baltz zeigt Räume, deren | |
| Funktion, Aufbau und Verortung unklar bleiben. Kühles künstliches Licht, | |
| glatte aseptische Oberflächen und technoide Apparaturen prägen die | |
| Interieurs. Verwaltung und Labor arbeiten hier Hand in Hand. | |
| Mit der großen Wandarbeit „Ronde de Nuit“ (1992–95) verdichtet Baltz | |
| perfekt seinen fotografischen und gesellschaftlichen Diskurs. Die Collage | |
| macht die mediale Durchdringung des Alltags durch Überwachungskameras und | |
| unsere Abhängigkeit von Maschinen und technischen Bildern deutlich. | |
| Wie Fotografien Geschichten und Geschichte generieren, zeigt er in „The | |
| Deaths in Newport“ (1989–95). Eingeladen, für ein neu geplantes Museum in | |
| seiner Heimatstadt eine Arbeit zu realisieren, recherchiert er einen | |
| Mordfall aus dem Jahre 1947. Ein Ehepaar wird an Bord der eigenen Yacht im | |
| Hafen von Newport durch eine Explosion getötet. Reste des Sprengstoffs an | |
| Bord belegen, dass es sich um ein Verbrechen handelt. | |
| ## Tochter des Mordopfers | |
| Verdächtigt werden die Tochter des Mordopfers und ihr Verlobter. In einem | |
| widerspruchsvollen und langwierigen Strafprozess werden die korrupten | |
| Beziehungen der Stadtverwaltung und die schlampige Polizeiarbeit an die | |
| Oberfläche gespült. | |
| Das Urteil lautet dennoch: „nicht schuldig“. Baltz rekonstruierte anhand | |
| von Archiv- und Zeitungsbildern den Ablauf und die soziale Dimension des | |
| Falls. Die Arbeit wird schließlich von den städtischen Auftraggebern | |
| abgelehnt: Zu viele Akteure würden noch heute in Newport das | |
| gesellschaftliche Leben prägen. | |
| Selbst 50 Jahre später funktioniert die Verdrängung und Tabuisierung. Und | |
| Lewis Baltz bewies abermals sein sicheres Gespür für die Sollbruchstellen | |
| des sozialen Konsenses. Baltz zeigt uns eine selbst gemachte Welt, die | |
| immer wieder außer Kontrolle gerät und deren Technik und Ästhetik machtvoll | |
| und monströs ist, ganz gleich, ob es sich um die Produktion von Gütern oder | |
| Bildern handelt. | |
| Kestnergesellschaft, Hannover, 14. 9. bis 4. 11. 2012. Katalog: „Rule | |
| Without Exceptions/Only Exceptions“, Steidl Verlag | |
| 11 Sep 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Maik Schlüter | |
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