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# taz.de -- Fotoausstellung zu Boris Mikhailov: Schlaffer Penis, fette Salami
> Den Realismus mit seinen eigenen Mitteln schlagen: Die Ausstellung „Time
> is out of joint“ in der Berlinischen Galerie zeigt den Fotoexperimentator
> Boris Mikhailov.
Bild: Aus der Serie „Superimpositions for the 60s/70s“, 2005 Courtesy Galer…
Eine Frau, die im Schnee ihren Unterleib entblößt, ein alter Mann in
Uniform, der eine Axt schwingt, einer streckt dem Betrachter seinen
vernarbten Hintern entgegen. Seit seiner berühmten Bilderserie „Case
History – Krankheitsgeschichten“ ist Boris Mikhailov unter einem festen
Image abgespeichert.
Kaum war der 1938 in Charkow geborene Künstler Ende 1996 von seinem
Berliner DAAD-Stipendium in seine Heimat zurückgekehrt, macht er sich
daran, das Leben der „Bomzhes“, der Obdachlosen in der ukrainischen
Industriestadt festzuhalten. „Schrecklich, aber unvergesslich“, notierte
ein britischer Kritiker vor gut zehn Jahren über Mikhailovs drastische
Aufnahmen. Sie avancierten zu Chiffren des postsozialistischen Niedergangs.
Mikhailovs Siegeszug durch die Museen begann. 2000 wurde er dafür mit dem
renommierten Hasselblad-Foto-Preis ausgezeichnet.
Es ist das Verdienst der jüngst eröffneten Ausstellung der Berlinischen
Galerie, dass sie dieses reduzierte Bild aufbricht. Denn anders als bei der
Nan-Goldin Ausstellung vor einem Jahr verlässt sich Kurator Thomas Köhler,
der Direktor des Hauses, diesmal nicht auf die „Erfolgsbilder“ seines
Gastes, sondern präsentiert das gesamte Oeuvre bis in die jüngste
Gegenwart.
Und das lehrt, dass man diesen Künstler nicht auf irgendeinen Realismus
festlegen sollte. Auch wenn er selbst immer wieder das „Alltägliche und
Gewöhnliche“, gar „Wahrhaftigkeit“ für seine Kunst reklamiert. Wenn er …
spöttisch als „Straßenköter“ bezeichnet. Oder die Abwesenheit ästhetisc…
Ambitionen dadurch demonstriert, dass er seine Bilder „aus der Hüfte
schießt“. So entstand seine Serie „Am Boden“, mit der er 1991 in Kiew und
Charkow das Leben der Ausgegrenzten festhielt.
## Die Überzeichnung
Zwar nahm im Alltäglichen alles seinen Ausgang bei Mikhailov. Zu Beginn der
sechziger Jahre begann der junge Ingenieur für Raketenbau Betriebsfeiern in
der Fabrik, in der er arbeitete, mit der Kamera aufzunehmen. Doch dieser
Lebensalltag ist immer so unmerklich aufgeladen, arrangiert oder
„überzeichnet“, dass er sich selbst zu dementieren scheint: Das gilt, wenn
Mikhailov seine menschlichen Wracks zu christlichen Bildmotiven wie der
Pietà gruppiert.
Oder seine Fotoserien über die Badefreuden der Ukrainer mit Sepia belegt.
Wenn er mit kolorierten Fotos den grauen Alltag in blühenden Kitsch
verwandelt. Oder in der „Roten Serie“ den Dimensionen einer Farbe
nachspürt. Der abblätternde Lack einer Teppichstange neben dem strahlenden
Rot der Tribünen für die Mai-Parade wird da zu einem politischen Kommentar.
Noch frappierender wirkt dieser Versuch, den Realismus mit seinen eigenen
Mitteln zu schlagen, mit den „Butterbrot“ genannten Überblendungen der
Jahre 1968 bis 1975. Der experimentierfreudige Autodidakt Mikhailov
projizierte zwei Diapositive übereinander: Das eines schlaffen Penis über
das Bild einer Frau im Slip mit Schneeglöckchen vor der Brust etwa oder das
zweier heiterer Frauen in Sommerkleidern, vor deren Händen eine fette
Salami schwingt.
## Surrealistischer Slapstick
Natürlich war das eine Hommage an die zu Frühzeiten der Russischen
Revolution beliebte Montage. Der surrealistische Slapstick dieser Arbeiten
elektrisierte damals die sowjetische Fotoszene. Zumal Mikhailov die Diashow
der Bilder mit Musik von Pink Floyd unterlegte. So knackte er nicht nur das
unentrinnbar Figurative der Fotografie. Auch der Soz-Art-Fetisch „Realität“
verunklarte sich plötzlich, wie er sich verdoppelte und ineinanderschob.
Auf die konzeptuelle Spitze trieb Mikhailov diese Versuche in seiner Serie
„Wenn ich ein Deutscher wäre“. In Nazi-Uniformen stellten er und seine Frau
Vita, die Künstlerkollegen Sergej Bratkow und Sergej Solonskij, mit denen
er die „Fast Reaction Group“ gegründet hatte, das zwiespältige Verhalten
der Ukrainer während der Zeit der deutschen Besatzung nach: Ein irrwitziges
Rollenspiel zwischen Erniedrigung und Demütigung. Mit der Mischung aus
Experiment, Humor und Selbstironie, die die Ausstellung auffächert,
entsteht das Bild eines der vielseitigsten europäischen Fotokünstler.
Seine Popularität hierzulande gründete sich darauf, dass er das Phänomen
Niedergang Ost erfahrbar machte, zugleich aber auf Abstand hielt. Umso
irritierender ist nun die Erfahrung, wie kompatibel der „realistische“
Blick, den Mikhailov auf seine Landsleute hat, mit den Verhältnissen im
Westen ist. Seit er 2001 an die Spree zog und dort ein Atelier unterhält,
fotografiert er in seinem Langzeitprojekt „Berlin“ die Menschen in der
Stadt.
In Mikhailovs jüngsten Bildern mag man seine etwas formalistische
Selbstdefinition belegt finden, nach der er sich der „Untersuchung und
Erforschung von Raum und Zeit, vom Menschen und dem Milieu, in dem er sich
befindet“ widmet. Selbst wenn sie nicht in Baumstümpfen hausen; die Drastik
der Existenz scheint auch den Spießer-Deutschen in schlecht sitzenden
Windjacken oder den Menschen, der die verbeulten Kartons eines gerade
beendeten Flohmarkts durchwühlt, nicht fremd. Wer genau hinschaut, bemerkt
den Doppelsinn des Ausstellungstitels: Irgendwie ist auch in Wilmersdorf
die Zeit aus den Fugen.
Boris Mikhailov: „Time is out of joint“. Berlinische Galerie. Noch bis zum
28. 5. 2012. Katalog, Distanz-Verlag, 176 S., 24 80 Euro
13 Mar 2012
## AUTOREN
Ingo Arend
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