# taz.de -- Ausstellung von indischer Fotografin: Bilder gegen die Behäbigkeit | |
> Dayanita Singh, die große Fotografin Indiens, wird mit einer | |
> Retrospektive in der Münchener Villa Stuck geehrt. Zu sehen sind | |
> (semi-)private Porträts. | |
Bild: Dayanita Singh, „Mona Montage“, 2021 (Ausschnitt) | |
Wenn sie fotografiert, trägt Dayanita Singh ihre Kamera in der Körpermitte, | |
vor dem Bauch. Die Linse bleibt immer in Bewegung. | |
Die indische Fotografin richtet sie auf Tänzer und Eunuchen, auf Verwandte, | |
Tiere oder Kinder. Dayanita Singh tanzt mit ihren Motiven, als wäre die | |
Mittelformatkamera Teil ihres Körpers geworden. Leichthändig sprengt sie | |
die Kasten der indischen Gesellschaftsordnung – nur um ihre Fotografien in | |
kleine bis mittelgroße Teakholzrahmen zu bringen, die wiederum mobil genug | |
sind, um ständig neu angeordnet, neu gelesen und in neue Sinnzusammenhänge | |
gesetzt zu werden. | |
Ihr Tanz besiegt die Behäbigkeit der indischen Tradition. Ihre Bilder | |
spiegeln das Leben, und in der Abfolge entstehen fast filmische | |
Dramaturgien, die von Grenzen und vom Ausbruch erzählen. Die Ausstellung | |
„Dancing with my camera“ in der Villa Stuck ist die bisher umfassendste | |
Retrospektive von Dayanita Singh, die zu den bedeutendsten Künstlerinnen | |
Indiens zählt. | |
## Aufklärerische Fotografie | |
Vor München war sie bereits im Gropius Bau in Berlin zu sehen. Dort fiel | |
die Eröffnung mit der Vergabe des renommierten Hasselblad-Awards an die | |
62-Jährige zusammen. In der Villa Stuck nun stößt ihre aufklärerische | |
Fotografie auch auf den düsteren Jugendstil des namensgebenden Malers Franz | |
von Stuck. | |
Dayanita Singhs Familie gehörte der indischen Oberschicht an. In New York | |
hat Singh Dokumentarfotografie und Fotojournalismus studiert, und der | |
filmische Charakter ihrer Bilderserien ist zu ihrem markanten Stilstatement | |
geworden. In den Zeitungen der Londoner Times und der New York Times fand | |
sie früh journalistische Auftraggeber für ihre Fotoreportagen über das | |
indische Kastensystem und dessen Ausgegrenzte. Bis heute hat sie darüber 14 | |
Bücher veröffentlicht – und fotografiert immer noch analog, doch lässt sie | |
Negative ihrer Abzüge mittlerweile scannen und digital ausbelichten. | |
Die Retrospektive zeigt Schwarz-Weiß-Fotografien, die seit den 1980er | |
Jahren entstanden sind: Mit ihrer Hasselblad begleitet Dayanita Singh darin | |
teils Personen aus ihrem direkten Umfeld und ihrem engsten Familienkreis | |
(wie ihre Mutter), teils konzentriert sie sich auf thematische | |
Schwerpunkte, oft umgesetzt als Langzeitstudien. Sie porträtiert indische | |
Musiker, darunter ihren künstlerischen Mentor, den Tabla-Spieler Ustad | |
Zakir Hussain. | |
Fast vierzig Jahre lang dokumentiert Singh auch ihre Freundin Mona Ahmed: | |
Die [1][Transgender-Eunuchin] lernt sie kennen, als sie Ende der achtziger | |
Jahre für die Times eine Reportage über Intersexuelle und Transgender in | |
Indien umsetzt. Mona lebt bis zu ihrem Tod 2017 auf einem muslimischen | |
Friedhof in Neu-Delhi. Sie ist doppelt verstoßen – von ihrer Familie wie | |
von der Gemeinschaft der Eunuchen. | |
Immer wieder taucht ihr Gesicht, ihr tanzender Körper in der Ausstellung | |
auf. Auch Singhs zweites Buch, „Myself Mona Ahmed“ (2001), ist der Freundin | |
gewidmet; am Beispiel ihrer Protagonistin erzählt Singh das Leiden an | |
Geschlechterrollen. | |
Sie lichtet Reichtum in Kalkutta genauso ab wie ein Mädchen-Ashram in | |
Benares. Unbeschwert wirken diese Aufnahmen, spontan und lebensfroh, der | |
Titel lautet kokett „Little Ladies Museum“. Singh zeigt uns eine fremde | |
Welt: Mädchen posieren herausgeputzt wie kleine Puppen zwischen gediegenen | |
Polstermöbeln. Manchmal wird die Fotografin Teil von flüchtigen, fröhlichen | |
Momenten. Eine Zeitlang aber verliert sich Dayanita Singh in Depressionen | |
und wendet sich ganz von Menschen ab. Dann fotografiert sie ausschließlich | |
ihre Tiere, zum Beispiel ihren Hausaffen – den, so erzählt die | |
Bildunterschrift, schließlich ihre Nachbarn vergiften. | |
## Kleine Schreine | |
Für ihre Aufnahmen baut die Künstlerin kleine Schreine, Leporellos, Türme | |
und Paravents aus Teakholz. Ein Teil der Bilder zieht sich im Neubau | |
raumhoch über zwei Etagen – wie ein Feed zum Anfassen. Manche Fotografien | |
sind auf vier Paravents in den historischen Räumen der Villa Stuck zu | |
sehen, die der Secessions-Maler Franz von Stuck um 1898 mit selbstgebauten | |
Möbeln, schweren Stoffen und Goldreliefs auf dunklen Wänden zu einem | |
üppigen Gesamtkunstwerk ausstaffiert hatte und die bis heute erhalten sind. | |
Singhs Fotos in den Teak-Paravents werden hier in einen losen | |
Sinnzusammenhang zu den opulenten Malereien des [2][Münchner Malerfürsten] | |
gesetzt: Vor seinen Bücherregalen mit Jugendstil-Kunstkatalogen werden | |
Aufnahmen mit vergilbten Blätter- und Aktenstapeln gezeigt, vor seinen Öl- | |
und Pastellkreidenporträts seiner Tochter Mary von Stuck räkeln sich | |
indische Mädchen auf Diwanen und kichern, vor Stucks Panflöte spielende | |
Zentauren setzen die Kuratoren jene von Dayanita Singhs Fotografien, auf | |
denen Musiker traditionelle indische Instrumente spielen. | |
Einige Stücke der modularen Ausstellung aber verbleiben in Koffern, die | |
mitten im Raum stehen. So sind die kleinen Kunstdepots schnell | |
zusammengepackt und einfach zu transportieren – und damit so beweglich wie | |
die Inhalte, die drauf zu sehen sind. | |
7 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Johanna Schmeller | |
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