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# taz.de -- Ausstellung „I am a problem“ in Frankfurt: Das Ich im Darm such…
> Der Regisseur Ersan Mondtag erkundet im Frankfurter Museum für Moderne
> Kunst/MMK2 das Selbst. Einige sind schon vom Durchgehen besoffen.
Bild: Ersan Mondtag
Jede Inszenierung braucht eine gute Geschichte. Die hier geht so: Vorbei an
Hochhaustürmen und Grünanlage, durch eines jener Museumscafés mit seinen
wässrigen Schorlen für viele Euros, über eine Betontreppe und durch einen
Vorhang aus schweren Kunststofflappen führt der Weg ins Innenleben von
Maria Callas. Genauer: in ihren Darm. Dort ließ sich die Opernsängerin der
Legende nach einen Bandwurm wachsen, der sie binnen weniger Monate um 50
Kilo minimierte. Der scheinbaren Magie wohnte letztlich ein höchst
biologischer Vorgang inne, ein äußerst brutaler dazu.
Genau dieser Aspekt interessierte Theaterregisseur Ersan Mondtag (der
zuletzt unter anderem mit einem NSU-Stück von sich reden machte) mehr als
der vermeintliche Wahrheitsgehalt der Legende, sodass er sie zum Aufhänger
für die Schau „I am a problem“ im Frankfurter MMK2 machte. Das Haus stellte
die Sammlung, man wählte gemeinsam Werke aus, die von Mondtag inszeniert
wurden.
Vorhang auf: Wände und Boden mit Plastikplanen, schwarze und gelbe,
dazwischen ein paar Lichtspots, auch die Luft ist voller Plastik. Kein
Varieté schillernder Wesen, eher Geisterbahn, Folienfetisch-Club,
Fiebertraum, Raumschiff aus dem Low-Budget-Fernsehen. Von überall her
dringt Geflüster, auf einer beleuchteten Plattform tanzt ein Go-Go-Tänzer
mit silbernen Hotpants zur Musik aus seinem Walkman, der ihn vom Rest des
Universums abschirmt (und vice versa), als lebendig werdende Performance
der Künstlerin Sturtevant.
Da wird man ja schon vom Durchlaufen besoffen, kommentiert ein Kameramann
leicht bewundernd die fiebertraumartige Plastiklandschaft mit dem sich
durchschlängelnden Riesenbandwurm, der für die Schau vom Kollektiv
Plastique Fantastique angefertigt wurde, mit einer schmalen Gasse zum
Durchquetschen und einigem mehr.
Den Titel entlieh Mondtag von Will Benedict, der einen Videoclip zum
Noiserock von Wolf Eyes mit Cyborgs und Chimären beisteuerte. Wobei das
Problem mit dem Ich wohl doch grundsätzlicher ist, als es im
Ausstellungstext mit der geschassten Selbstoptimierung anklingt.
## Ultimative Zuspitzung
Die ausgewählten Werke fächern das Thema breit auf: von der
Auseinandersetzung mit Nichtidentität wie das melancholische Standvideo
eines Eunuchen von Dayanita Singh über eine wie immer einigermaßen
verstörende Malerei von Miriam Cahn bis zur ganz existenziellen
Auseinandersetzung mit dem versehrten Leib und Leben wie die wunderbaren
Porträtzeichnungen von On Kawara.
Markus Sixay lagert seine Körperlichkeit einfach aus: Übersetzt sie in 150
Kilo Konfetti, die seinem Körpergewicht zur Zeit der Werkfertigung
entsprechen. Körperfett mag niemand, Konfetti hingegen auch jener, der sich
sonst von Dicken, Rauchern und anderen in seiner zarten Existenz bedrängt
fühlt. In Mondtags Schau lagern die bunten Papierschnipsel in einem
schwarzen Plastikpool, direkt unter einem Tableau mit Toscanis berühmter
Skandalkampagne, in der er einst für Benetton einen Aidskranken am
Sterbebett wie den dahinsiechenden Jesus ablichtete.
In dieser gewaltigen Gegenüberstellung der Physis in ihren beiden Extremen,
extrem albern und extrem grausam, schafft Mondtag die ultimative Zuspitzung
und für die Sammlungspräsentation mehr als die Summe ihrer einzelnen Teile.
Überhaupt gibt es viel Physisches zu sehen, interessanterweise, wo doch
Identität wie Nichtidentität heute seltener materialistisch als gefühlig
ausbuchstabiert werden: Aquarellierte Frauenkörper von Marlene Dumas,
zerstörte und geflickte Oberflächen bei Kader Attia, Arnulf Rainers
künstlerische Interventionen haften als Zeugnis letztlicher Kapitulation
vor der Vergänglichkeit auf den Fotografien Verstorbener.
Frau Calla’ Verdauungstrakt ist eher eine Art MacGuffin, ein Objekt, um die
nichtlineare Aufführung ins Rollen zu bringen. Als wie stark man die
Strahlkraft des Settings aufs einzelne Werk auch empfinden mag, der Akt des
Kuratierens oder Inszenierens wird immerzu sichtbar: Kein einzelnes Werk
kann in Ruhe betrachtet werden, über allem flüstern Lautsprecher
Textfragmente von Thomaspeter Georgen, die allein eine längere
Beschäftigung lohnen würden, aber beim Rundgang kaum jemals ganz zu hören
sein werden. Es dröhnt unaufhörlich die Stimme der Vermittlung.
„I am a problem“ ist grell in seiner Morbidität, sonnt sich zwischen
Todestrieb und Vanitas. Im bombastischen, überfrachtenden, aber visuell
schön analogen Setting profitieren einige Werke, andere gehen wie manch
thematische Schärfe eher unter. Der Gesamteindruck wird dann recht
existenziell, das Möbiusband des modernen Menschen: Alles ist Einsamkeit
und Gewalt, die Menschwerdung so brutal wie ihr Abgang.
Weder Dystopie noch Utopie, zeigt die Schau die Suche nach dem
problemhaften Selbst kategorisch als eine dem Menschen ureigene
Angelegenheit. All dem schmettert Ersan Mondtags Fiebertraum noch ein
jugendliches Memento mori entgegen, traurig und mahnend vielleicht, aber
auch trotzig schön.
27 Sep 2017
## AUTOREN
Katharina J. Cichosch
## TAGS
zeitgenössische Kunst
Identität
Ausstellung
Zeitgenössische Malerei
Oper
Mode
Thalia-Theater
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