# taz.de -- Jil-Sander-Ausstellung in Frankfurt: Hanseatische Vorstellung von Q… | |
> Das Frankfurter Museum Angewandte Kunst zeigt mit „Jil Sander. Präsens“ | |
> eine Modeausstellung, die fast ohne Stoffe und Kleiderpuppen auskommt. | |
Bild: Motiv aus der Jil-Sander-Kampagne Herbst/Winter 2004/2005 (Ausschnitt) | |
Der erste Aha-Effekt kommt vor dem Catwalk. Über drei Großbildschirme | |
laufen weibliche und männliches Models, der Slow-Motion-Effekt federt ihre | |
Bewegungen schläfrig ab. Sie tragen skulpturale, aber niemals extravagante | |
Schnitte in diesen monochromen Farben, wie sie für die Designerin so | |
typisch sind. Die Mäntel kommen ohne sichtbare Knöpfe aus, nur um den | |
Purismus anderswo mit neonfarbenen Paspelierungen lässig zu brechen. | |
Dazu schweres, aufgeregtes Atmen, unterlegt von Beats, Loungemusik, | |
Mash-ups; ein Soundtrack zum Fashion-Show-Cool. Irgendwann tauchen die | |
Supermodels auf: Linda Evangelista mit Pagenkopf. Kate Moss mit kindlichem | |
Gesicht. Die Überraschung weicht einem kleinen Schock: Diese Kleidung, | |
dieses Schaulaufen muss mindestens 20 Jahre alt sein, vielleicht 25. Mehr | |
als zwei Dekaden! | |
Selbst wer niemals einen Laden von ihr betreten hat, kann ein paar | |
Schlagworte über Jil Sander aufzählen: Die beeindruckend unter Beweis | |
gestellte Zeitlosigkeit gehört zum Vokabular, der Minimalismus und ein | |
Purismus, der trotzdem ein Versprechen nach Mehr in sich birgt. | |
Nach dreijähriger Überredung hat Matthias Wagner K, Direktor des | |
Frankfurter Museums Angewandte Kunst (MAK), es geschafft: Ebendort, im | |
Richard-Meier-Bau, wird nun die weltweit erste, umfassende Jil-Sander-Schau | |
auf großzügigen 3.000 Quadratmetern präsentiert. | |
## Funktionsjacke als Nonplusultra modischer Extravaganz | |
Ausgerechnet in dem Land also, wo Mode selbst in Designmuseen selten | |
vorkommt und die Funktionsjacke für manch einen das Nonplusultra modischer | |
Extravaganzen darstellt. Aber vielleicht passt beides dann eigentlich gar | |
nicht so schlecht zusammen: Mit dem Modebegriff kann Sander selbst wenig | |
anfangen, mit gutem Stil hingegen viel. | |
Wer klammheimlich hofft, irgendwo versteckt auf eine schöne | |
Geschmacklosigkeit zu stoßen, wird enttäuscht: Schließlich basiert der | |
Erfolg der 1943 in Dithmarschen Geborenen neben einem sehr sicheren Gespür | |
für ihre Arbeit auch auf maximaler Mitbestimmung an allen kreativen | |
Entscheidungen. Von ihrer eigenen Typografie, die seit 1972 wie nahezu alle | |
Sander-Entwürfe erstaunlich gut gealtert ist, bis zur je einzelnen | |
Kooperation mit Kosmetikherstellern oder Sportfabrikanten. | |
Beim Durchblättern der digitalen Lookbooks fallen die Jahreszahlen | |
ebenfalls kaum ins Gewicht. Hemden oder Blusen. Mäntel, Blazer, Jacken, | |
Strick. Röcke, Kleider und natürlich: Hosen! Für Frauen und für Männer, | |
vielleicht mal ein Nietengürtel. Auch in Sanders Kollektionen werden die | |
Hosenbeine für die Herren irgendwann recht schmal, doch niemals | |
luftabschnürend enganliegend wie anderswo. Mit dem Heroin Chic der frühen | |
90er Jahre hatte die Modeschöpferin ebenso nichts zu schaffen: Der Körper | |
bleibt bei ihr stets unversehrt. | |
## Bekenntnis zur Schlichtheit | |
Und das gilt auch in einem weiteren Sinne: Es ist keine komplette | |
Androgynität, die hier verfolgt wird. Aber das Geschlecht interessiert kaum | |
oder in jedem Falle nicht explizit. Sander befreite nicht nur die Frau von | |
der Dekoration, wie es im Ausstellungstext heißt; ihre Mode befreite auch | |
ihre Trägerin selbst vom Status eines bloßen Beiwerks. Dieses Prinzip lässt | |
sich heute geschlechtsunabhängig formulieren: Jil Sanders hat das Diktat | |
der Mode zugunsten seiner Trägerin, seines Trägers umgekehrt. | |
Nicht ausbuchstabiert wird, was sich wie ein roter Faden durch die | |
Ausstellungsräume spinnen ließe: Wie sich in ihrem Bekenntnis zur | |
Schlichtheit eine sicherlich hanseatische Vorstellung von Qualität, aber | |
eben auch Bescheidenheit niederschlägt, wie man hier und dort | |
Überlagerungen aus französischer und fernöstlicher Stil-Auffassung | |
ausmachen könnte, aus durchaus verspielter Eleganz auf der einen und der | |
völligen Abkehr vom Ornament, wie man sie auch bei den japanischen | |
Modeschöpfern Yōji Yamamoto oder Rei Kawakubo findet, auf der anderen | |
Seite. | |
Äquivalent zur Mode, die Trägerin und Träger ultimativen Freiraum | |
verschaffen soll, lässt auch das MAK seinen Exponaten viel Platz zur | |
Entfaltung. Die Leere, das Nichtvorhandensein gehört dazu und ist von der | |
Designerin ausdrücklich gewollt. Alles, bloß keine Retrospektive! Auch die | |
Wandtexte halten sich vornehm zurück. Das Wesentliche, diese | |
Jil-Sander-Quintessenz, soll individuell erfahrbar sein. Was in diesem | |
Kontext natürlich heißen muss: audiovisuell, nicht olfaktorisch oder gar | |
haptisch. | |
## „Präsens“ ist eine ätherische Angelegenheit | |
Überhaupt gibt es erstaunlich wenig Material im eigentlichen Sinne: | |
Rohstoffe wie der Tweed, den Sander einst für die weibliche Mode nutzbar | |
machte, kommen kaum vor. „Präsens“ ist mit viel Video und Sound, Luft und | |
Raum auch eine recht ätherische Angelegenheit, eine Ideen- und Wandelschau | |
geworden: Man wandelt so durch die Räume, wandelt hinauf und hinab (statt | |
Treppen gibt es schiefe Ebenen), und verlässt das Haus später in einem fast | |
schon meditativen Zustand. | |
Nichts sei langweiliger als Kleidung auf Kleiderständern, wurde die | |
Designerin, deren Entwürfe sich im Tragen entfalten sollen, gern zitiert. | |
Ganz ohne ist ihre Ausstellung nicht ausgekommen. Aber an einer Stelle | |
gelingt Jil Sander doch ein kleiner Coup, der zu den stärksten Momenten der | |
Schau gehört: Im vielleicht schönsten Raum des Hauses, dessen Fenster | |
großzügige Blicke auf den herbstlichen Emma-Metzler-Park und das Mainufer | |
freigeben, wird ihr erster Flagshipstore auf der Pariser Avenue Montaigne | |
nachgestellt. | |
Eigentlich sieht man hier aber bloß dessen Skelett: Wände mit | |
Schattenfugen, diffuses Licht, ein Tisch, zwei Stühle. Stahlregal und | |
Stangen sind komplett leergefegt. Ha!: Ein Modegeschäft, das ganz ohne Mode | |
auskommt. Kleidung ist hier nur virtuell vorhanden. Stattdessen all das, | |
was Sander außerdem gestaltet und konzipiert: Architektonische Skizzen | |
eines Treppen-Bauteils, eines Stahlbodenregals. Der Raum im Raum entfaltet | |
sich real und zusätzlich virtuell. | |
Blickt man eine Weile auf die Bilder-Slideshow, kann man keinen Unterschied | |
mehr ausmachen zwischen den spärlich gefüllten Räumen in Frankfurt am Main | |
und in der Avenue Montaigne. Auch wenn es fraglos Punkte gibt, an denen ein | |
tieferes Eintauchen lohnenswert wäre: Schöner Luxus, einer Ausstellung, | |
einer Designerin einmal wörtlich so viel Raum zu lassen. | |
14 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Katharina J. Cichosch | |
## TAGS | |
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Geschlechterkampf | |
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