| # taz.de -- Soziologe über Deutschlands Wirtschaft: „Die Krise ist teilweise… | |
| > Firmen ist der Einfluss der Gewerkschaften zu groß, sagt der Soziologe | |
| > Klaus Dörre. Er fordert ein linkes Bündnis für einen ökologischen | |
| > Sozialstaat. | |
| Bild: Ausdauer im Regen: Mahnwache vor dem Betriebsgelände von Thyssenkrupp in… | |
| taz: Herr Dörre, wir blicken in ein Jahr mit einer drohenden großen | |
| Wirtschaftskrise und ungewissen politischen Aussichten – wo führt das hin? | |
| Klaus Dörre: Kapitalistische Gesellschaften durchlaufen periodisch immer | |
| wieder Krisen. Aber diese ist eine besondere und nicht nur eine deutsche. | |
| Es gibt in Europa eine massive Deindustrialisierungsgefahr. Die | |
| Industrieproduktion ist in der gesamten EU eingebrochen. Frankreich, | |
| Italien und andere haben ähnliche Probleme. Es ist ein tiefer Einschnitt. | |
| Allerdings: Die Krise ist nicht naturwüchsig und teilweise ist sie | |
| inszeniert. | |
| taz: Inwiefern inszeniert? | |
| Dörre: Zum Beispiel in der Autoindustrie: Die Hersteller haben über viele | |
| Jahre hinweg blendend verdient. Die Boni, die Spitzenmanager verdienen, die | |
| Zuwendungen an die Aktionäre – bis ins vorige Jahr war alles auf sehr | |
| hohem Niveau stabil. Vor der Pandemie hatten wir zehn Jahre eine lange | |
| Prosperität. Mit der Pandemie kam es zu einer weltweiten Rezession. Ein | |
| Teil der Unternehmen hat das benutzt, um Verlagerungspläne aus der | |
| Schublade zu holen, die schon lange existierten. | |
| taz: Haben Sie ein Beispiel? | |
| Dörre: [1][Nehmen Sie Ford:] Die Entscheidung, in Saarlouis nicht mehr zu | |
| produzieren und das Werk mit 5.000 Beschäftigten weitgehend dicht zu | |
| machen, folgte keinen Sachzwängen, sondern unternehmensstrategischen | |
| Überlegungen. | |
| taz: Kurz vor Weihnachten konnte die [2][IG Metall bei VW] nur mit größter | |
| Mühe Werksschließungen und betriebsbedingte Kündigungen verhindern. Ob ihr | |
| das auch [3][bei Thyssenkrupp] gelingt, ist völlig offen. Wird gerade das | |
| deutsche Sozialpartnerschaftsmodell zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaften | |
| in Frage gestellt? | |
| Dörre: Konfliktpartnerschaftsmodell trifft es besser, weil das nicht so ein | |
| harmonistischer Begriff ist: Es hat immer Konflikte gegeben, aber die | |
| wurden kooperativ bewältigt. Das war der wahre Kern der Partnerschaft. Was | |
| jetzt passiert, ist jedoch [4][eine Zäsur und ein Tabubruch]. Was die | |
| Arbeitsbeziehung angeht, könnte es sein, dass in der Bundesrepublik ein | |
| neues Zeitalter anfängt, zeitverzögert gegenüber anderen Ländern. | |
| taz: Was soll dieser Tabubruch? | |
| Dörre: Er soll zeigen, dass der deutsche soziale Kapitalismus ausgedient | |
| hat. Das Signal ist: Der Einfluss der Gewerkschaften ist zu groß. Es wird | |
| ähnlich wie im angelsächsischen Raum auf eine Niederwerfungsstrategie | |
| gesetzt. Viele sogenannte Experten empfehlen das: Der gewerkschaftliche | |
| Einfluss muss geschmälert werden. Das beruht auf kollektiver Amnesie. In | |
| der Krise 2007 bis 2009 hat sich gezeigt, dass das Ansteigen der | |
| Arbeitslosigkeit nur verhindert wurde, weil Betriebsräte und Gewerkschaften | |
| Instrumente wie Langzeit-Kurzarbeit in den Unternehmen durchgesetzt haben. | |
| Da waren alle voll des Lobes über Gewerkschaften. | |
| taz: Viele haben Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes. Ist diese | |
| Angst berechtigt? | |
| Dörre: Die derzeitige Krise schlägt noch nicht unmittelbar auf den | |
| Arbeitsmarkt durch. Wir haben nach wie vor eine Rekorderwerbstätigkeit, | |
| wenn auch mit einem hohen Anteil an prekärer Beschäftigung. Wer [5][seinen | |
| Arbeitsplatz verliert], findet in der Regel was anderes. Die Gefahr ist | |
| aber, dass die Person einen Gehalts- und Statusverlust erlebt. Das ist die | |
| Furcht, die Beschäftigte umtreibt. Es ist noch nicht unbedingt die Angst | |
| vor Erwerbslosigkeit. | |
| taz: In früheren Krisen haben Bundesregierungen gegengesteuert. Das ist | |
| jetzt nicht der Fall. Wie erklären Sie sich das? | |
| Dörre: Bei aller Kritik hatte ich den Eindruck, dass Robert Habeck es | |
| versucht hat. Aber mit Strohfeuer. Es gibt zu wenig Planungssicherheit, | |
| auch für die industriellen Akteure. Das führt zur Zurückhaltung von | |
| Investitionen, und das ist ein Großteil der Krise. Was wir bräuchten, wäre | |
| eine gut durchfinanzierte, langfristig angelegte Industrie- und | |
| Wirtschaftspolitik, angefangen von der Infrastruktur bis zu den | |
| Knotenpunkten der Transformation. Das hat die Ampel-Regierung nicht | |
| gemacht. | |
| taz: Warum nicht? | |
| Dörre: Die Ampel hatte die ökologische Konterrevolution eingebaut mit dem | |
| Koalitionspartner FDP. Und damit immer eine [6][Gegenstimme zu | |
| Langfristigkeit und Planmäßigkeit]. Wir brauchen große Investitionen in die | |
| Infrastruktur, 600 Milliarden jährlich Minimum. Das muss finanziert werden. | |
| Dass das mit Schuldenbremse in der jetzigen Form nicht geht, ist klar. Wer | |
| will, dass umgebaut, also dass real dekarbonisiert wird, braucht einen Plan | |
| dafür. Wenn Sie auf grünen Wasserstoff umstellen wollen, dann braucht es | |
| eine Preisgarantie, zumindest einen Korridor, innerhalb dessen sich die | |
| Produktion von grünem Wasserstoff bewegt. Wenn Sie das nicht haben, kriegen | |
| Sie die Investitionen nicht. | |
| taz: In einem Punkt hat die Bundesregierung etwas getan: Sie hat die | |
| Förderung für E-Autos quasi über Nacht gekippt. | |
| Dörre: Das war fatal. Genauso fatal ist, dass das Klimageld nicht gekommen | |
| ist. Das sind zwei Grundfehler. | |
| taz: Wieso macht ein Grüner wie Habeck, dessen Partei wie keine andere für | |
| eine konsequente Klimapolitik steht, solche Fehler? | |
| Dörre: Die Grünen haben nicht genügend gesehen, dass ökologische | |
| Nachhaltigkeit ohne soziale Gerechtigkeit nicht zu machen ist. In der | |
| Facharbeiterschaft in der Automobilindustrie besteht der Eindruck, dass sie | |
| in ihr jeweiliges Konzept von guten Leben eingreifen. Das Problem der | |
| Grünen ist, dass sie das einfach nicht wahrhaben wollen. Nun verlieren sie | |
| nicht nur die Arbeiter, die in großen Teilen ohnehin nie zu ihrer | |
| Anhängerschaft gehörten. Sie machen sie sich zu Feinden. | |
| taz: Gleichzeitig droht, dass die neue Regierung – egal wie zusammengesetzt | |
| – Klimapolitik nur über den CO2-Preis macht. | |
| Dörre: Genau das ist ökologische Konterrevolution. Wird nur über Markt und | |
| Preis reguliert, drohen zwei Effekte: Entweder der Preis ist zu niedrig, | |
| dann hat er keine Lenkungswirkung für die Wirtschaft. Ist er zu hoch, | |
| werden die kleinen Portemonnaies am stärksten belastet, wenn es keinen | |
| Ausgleich wie das Klimageld gibt, was ja nur ein partieller Ausgleich wäre. | |
| Das könnte bedeuten, dass jene Erfolg haben, die suggerieren, man könne so | |
| weitermachen wie bisher. Im Moment erleben wir, dass die ökologischen | |
| Fragen nicht nur in Deutschland in brachialer Geschwindigkeit von der | |
| Platte geputzt werden. Untätigkeit wird dazu führen, dass ökologische | |
| Großgefahren in ihren Wirkungen umso stärker werden. Mit einer zerstörten | |
| Natur lässt sich aber keine florierende Wirtschaft machen. | |
| taz: Die Krise müsste eigentlich der Linken nützen. Aber die | |
| gesellschaftliche und die politische Linke sind in der absoluten Defensive. | |
| Warum? | |
| Dörre: Es ist nirgendwo in einem relevanten Maß gelungen, die | |
| himmelschreiende Ungleichheit so zu politisieren, dass sie Wasser auf die | |
| Mühlen der Linken ist. Das gilt nicht nur für Deutschland. In Griechenland | |
| und Spanien feierten Parteien wie Syriza und Podemos zwar kurzzeitig | |
| spektakuläre Wahlerfolge, aber der politische Effekt war letztlich gleich | |
| Null. Niemand traut der Linken – in all ihren politischen Strömungen – noch | |
| zu, dass sie an den als ungerecht empfundenen Vermögens- und | |
| Einkommensverhältnissen etwas zu ändern vermag. Niemand glaubt ernsthaft, | |
| dass die Elon Musks dieser Welt tatsächlich zur Kasse gebeten werden. | |
| taz: Welche Folgen hat das? | |
| Dörre: In repräsentativen Umfragen sagen über 90 Prozent, der | |
| gesellschaftliche Reichtum müsste gerechter verteilt sein. Aber je weniger | |
| geglaubt wird, dass das möglich ist, desto stärker ist die Tendenz, die | |
| wahrgenommenen Unterschiede im eigenen sozialen Umfeld zu Gegensätzen um | |
| Alles oder Nichts aufzubauschen. Das ist der Effekt, und das geht gegen die | |
| Linke. Die AfD inszeniert das: Da werden Oben-Unten-Konflikte umdefiniert | |
| in Konflikte zwischen den Nicht-Anspruchsberechtigten, die von außen | |
| einwandern, und denen der sogenannten autochthonen Bevölkerung, die | |
| angeblich ihres Sozialvermögens beraubt wird. | |
| taz: Wie kann ein Ausweg aussehen? | |
| Dörre: Es gibt keine leichte Antwort. Aus meiner Sicht gibt es gegenwärtig | |
| keine linke Partei in Deutschland, die in der Lage wäre, Hoffnung neu zu | |
| mobilisieren. Keine linke Kraft besetzt, was ich als linksgrün bezeichnen | |
| würde: eine politische Formation, die ökologische Nachhaltigkeit und | |
| soziale Gerechtigkeit zusammenbringt. Und die das durch Personen glaubhaft | |
| vertreten kann, die in der Zivilgesellschaft verankert sind, und zwar auch | |
| in der Arbeitswelt. | |
| taz: Klingt nicht sehr hoffnungsvoll. | |
| Dörre: Immerhin würde ich nicht ausschließen, dass sich neue Formationen | |
| gründen. Nach der Bundestagswahl wird sich die Frage stellen, ob sich im | |
| Parteienspektrum etwas neu formieren muss. Auch der linke Flügel in der | |
| Sozialdemokratie ist ja marginalisiert. Und in den Grünen gibt es trotz des | |
| Endes der Ampel eine enorme Unzufriedenheit mit dem Kurs der Parteiführung, | |
| und zwar bei Mitgliedern, die zum Teil jahrzehntelang dabei sind. Die | |
| würden sich aber nicht der Linkspartei anschließen. | |
| taz: Was wäre das Verbindende? | |
| Dörre: Ich werfe mal das Stichwort ökologischer Sozialstaat in die Debatte. | |
| Das würde zum Beispiel heißen: Je größer der ökologische Fußabdruck – d… | |
| steigt mit Einkommen und Vermögen – desto größer muss der Anteil sein, den | |
| jemand leistet für den sozial-ökologischen Umbau. Das wäre ein | |
| fundamentales Gerechtigkeitsprinzip. Es würde auch bedeuten, die sozialen | |
| Sicherungssysteme robust zu machen, vom Wirtschaftswachstum zu entkoppeln. | |
| Dass die soziale Frage im Kontext der ökologischen Frage gestellt werden | |
| muss, das geht gar nicht mehr anders im 21. Jahrhundert. Aber umgekehrt | |
| gilt das eben auch. | |
| 31 Dec 2024 | |
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