# taz.de -- Stellenabbau bei VW und Thyssenkrupp: Das war die BRD | |
> Stahl aus dem Ruhrgebiet und der VW-Käfer symbolisieren das westdeutsche | |
> Wirtschaftswunder. Ist damit jetzt Schluss? Über den Kampf von | |
> Beschäftigten. | |
Bild: Teil der Industrielandschaft im Ruhrgebiet: Betriebsgelände des Stahlwer… | |
Duisburg und Wolfsburg Drei menschengroße Stoffpuppen stehen neben der | |
Einfahrt von Tor 1 am Duisburger Stahlwerk von Thyssenkrupp. Sie tragen die | |
Nummern 1, 2 und 3. „Jeder 3. kann seinen Arbeitsplatz verlieren“, steht | |
auf der dritten Figur. Niemand, der auf das Betriebsgelände geht oder | |
fährt, kann die Warnung übersehen. | |
Die drei Stoffpuppen gehören zur Mahnwache, die sich wenige Meter von der | |
früheren Thyssen-Hauptverwaltung entfernt befindet. Tor 1 ist einer von 8 | |
befahrbaren Eingängen des riesigen Industriegeländes von Thyssenkrupp | |
Steel im Duisburger Norden. Neben der Einfahrt haben Beschäftigte weiße | |
Zelte aufgebaut, direkt angrenzend an das Betriebsratshaus. An diesem Tag | |
sind sie bereits seit 134 Tagen hier im Einsatz – und ein Ende ist nicht | |
absehbar. | |
„Wir kämpfen, solange es nötig ist“, sagt Dirk Riedel, der vor den Zelten | |
steht. Er trägt eine leuchtend rote Weste mit IG-Metall-Logo auf der Brust. | |
Riedel ist Betriebsrat, er eilt von Besprechung zu Besprechung. Überhaupt | |
verbringt er viel Zeit hier. Er zeigt auf eine Tonne, die vor dem Zelt | |
steht. „Da wohne ich“, sagt er und lacht. Aber es ist ein bitteres Lachen. | |
Es geht um viel. Riedel und seine Kolleg:innen stemmen sich gegen den | |
Abbau Tausender Jobs, den das Management von Thyssenkrupp brachial | |
durchsetzen will. [1][Von 27.000 Stellen in der Stahlsparte sollen 11.000 | |
wegfallen.] 5.000 durch Streichen, 6.000 durch Auslagerung wie den Verkauf | |
von Firmenteilen. Außerdem soll das Werk in Kreuztal-Eichen geschlossen | |
werden. Die Stahlsparte braucht viel Geld, um zukunftsfähig zu werden. | |
## Nicht nur bei Thyssenkrupp | |
Dafür will der Mutterkonzern Thyssenkrupp kein Kapital aufbringen, | |
gleichzeitig schüttet er viel Geld an die Aktionär:innen aus. Besonders | |
der Standort Duisburg wäre vom Stellenabbau betroffen, hier arbeiten mehr | |
als 13.700 Menschen. Riedel ist überzeugt, dass es nicht nur um die | |
Kolleg:innen hier geht, sondern darum, ob hierzulande überhaupt noch | |
Stahl produziert wird. Ohne Stahlerzeugung in Deutschland wandern viele | |
Unternehmen ab, fürchtet er. „Dann droht die Deindustrialisierung“, sagt | |
er. | |
Nicht nur bei Thyssenkrupp brodelt es. Die Meldungen von Unternehmen, die | |
im großen Stil Stellen abbauen wollen, reißen nicht ab. Die deutsche | |
Wirtschaft ist das zweite Jahr in Folge in einer Rezession. Eine schwache | |
Nachfrage, hohe Energiekosten und versäumte Investitionen machen vielen | |
Betrieben zu schaffen. Zur schwachen Konjunktur kommen strukturelle | |
Probleme. | |
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“, sagt der ehemalige | |
Wirtschaftsweise Peter Bofinger. Dieses Modell bestand jahrzehntelang | |
darin, dass Deutschland sehr viel mehr produzierte, als es brauchte, und | |
die Erzeugnisse in die Welt verkaufte. Vor allem Autos, Chemiegüter und | |
Maschinen. Jeder vierte Arbeitsplatz hängt an Ausfuhren. In den | |
Exportbranchen verdienen die Beschäftigten meistens gut, auch weil hier die | |
Gewerkschaften stark sind. Das steht jetzt auf der Kippe. | |
Der größte Teil der Stahlproduktion von Thyssenkrupp in Duisburg geht in | |
die Autoindustrie. Doch die leidet unter einer Nachfrageflaute. Die | |
Manager:innen haben den Umstieg auf E-Autos falsch angepackt und die | |
Digitalisierung verschlafen. | |
## Erst ab 2027 billige E-Autos | |
Sinnbild dieser Krise ist Volkswagen. Mit einem Umsatz von 322 Milliarden | |
Euro ist das Wolfsburger Unternehmen nicht nur Deutschlands größter | |
Autobauer, sondern auch Europas größter Industriekonzern. Der VW Käfer ist | |
das Symbol des westdeutschen Wirtschaftswunders. Über Jahrzehnte fuhren | |
Eigentümer:innen hohe Dividenden und Arbeiter:innen gute Löhne | |
ein. Doch die Zukunftsaussichten sind schlecht. | |
Besonders in China ist der Absturz beim Absatz hart. Dort hat der Konzern | |
vergangenes Jahr noch rund jedes dritte Auto verkauft. Doch er hat ein | |
Problem mit seinen Elektromodellen. Sie sind zu teuer, die chinesische | |
Konkurrenz hat den deutschen Autobauer in der Volksrepublik abhängt. VW hat | |
zwar extra Werke auf den E-Autobau umgerüstet, aber kein günstiges Modell | |
im Programm. Erst ab 2027 soll ein E-Auto in der Preisklasse von 20.000 | |
Euro vom Band laufen. | |
Anfang September kündigte der Konzernvorstand ein hartes Kürzungspaket an. | |
Die Kundschaft für jährlich 500.000 Fahrzeuge fehlt, hieß es aus der | |
Chefetage. Das entspricht der Produktion von zwei Werken. Zehntausende | |
sollen entlassen, ganze Werke geschlossen werden. Der Lohn soll pauschal um | |
zehn Prozent sinken. Der Konzern will 5 Milliarden Euro zusammenbringen, | |
die für Investitionen nötig sind. An die Aktionär:innen hat der Konzern | |
aber gerade 4,5 Milliarden Euro ausgeschüttet. Auch der Dieselskandal um | |
manipulierte Abgasvorrichtungen hat Milliarden gekostet, die jetzt fehlen. | |
Wie die Kolleg:innen in Duisburg nehmen die Beschäftigten von VW die | |
Kürzungspläne nicht kampflos hin. Während in Duisburg der 134. Tag der | |
Mahnwache läuft, [2][ruft die IG Metall in Wolfsburg zu einem Warnstreik | |
auf.] Es ist ein kalter, sonniger Vormittag. Über den 1,7 Kilometer langen | |
VW-Parkplatz eilen viele zum Werkstor. „Der Umgang, den der Vorstand jetzt | |
an den Tag legt, ist etwas ganz Neues“, sagt Nico Schwarz, Führungskraft in | |
der IT. Schwarzer Anorak, grüne Mütze, um den Hals trägt er einen roten | |
Schal der IG Metall. | |
## Die Manager:innen pfeifen auf die Sozialpartnerschaft | |
„Das ist nicht die Volkswagen-Kultur, die hier seit Jahren gelebt wurde“, | |
sagt er. Der Vorstand hat den bestehenden Tarifvertrag für die | |
Beschäftigungssicherung gekündigt, der bis 2029 ging. So etwas hat es in | |
Wolfsburg noch nicht gegeben. Hier haben sich bislang Unternehmen und | |
Betriebsrat immer geeinigt. Das ist neu an dieser Krise bei VW und auch bei | |
Thyssenkrupp: Die Manager:innen brüskieren die Gewerkschaften, sie | |
pfeifen auf das alte Modell der Sozialpartnerschaft. | |
Schwarz will schnell weiter, er möchte zur Streikkundgebung. Die IG Metall | |
hat auf dem Betriebsgelände eine Bühne aufgebaut, gleich hinter dem | |
sogenannten Markenhochhaus, an dem das VW-Logo prangt. Im 13. Stock hat der | |
Konzernvorstand seine Büros. Auf dem Platz sammeln sich die Beschäftigten, | |
einige in Werks-, andere in Straßenkleidung. Viele IG-Metall-Fahnen wehen, | |
auch einige Regenbogenflaggen. „Bundesweit kampfbereit“, ruft ein Vertreter | |
der IG Metall von der Bühne. | |
Die Gewerkschaft hat für diesen Montagvormittag in fast allen deutschen | |
Werken zu Warnstreiks aufgerufen. Insgesamt zählt sie bei der Aktion knapp | |
100.000 Leute. Damit streikt rund jeder dritte Beschäftigte des Konzerns in | |
Deutschland, zu dem auch Automarken wie Porsche, Audi und Škoda gehören. | |
Nur in Osnabrück wird gearbeitet. Dort gilt nicht der VW-Haustarifvertrag, | |
sondern der Abschluss für die Elektro- und Metallindustrie. Die | |
Beschäftigten dürfen deshalb nicht in den Ausstand. | |
„Die Lage ist schwieriger als vor 30 Jahren“, sagt ein Wolfsburger | |
Arbeiter, der schon lange bei VW ist. Er trägt eine leichte schwarze | |
Daunenjacke und eine rote Mütze mit IG-Metall-Logo. Wie viele hier will er | |
seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Damals, Anfang der 1990er Jahre, | |
steckte VW schon mal in einer Krise, Arbeitsplätze sollten gestrichen | |
werden. Dann machte die IG Metall einen Vorschlag: Statt einen Teil der | |
Belegschaft zu entlassen, sollten alle etwas weniger arbeiten. Gewerkschaft | |
und Vorstand einigten sich auf die Einführung einer 4-Tage-Woche. 30.000 | |
Stellen wurden gerettet. Seitdem galt eine Jobgarantie – bis das Management | |
sie im September aufkündigte. | |
## Wurzeln im VW-Land | |
Die Krise ist auch eine Bewährungsprobe für Daniela Cavallo. Ihr Vater kam | |
einst aus Italien in die Autostadt, um bei VW zu arbeiten. Seit Mai 2021 | |
ist sie Konzernbetriebsratschefin, die oberste Arbeitnehmervertreterin bei | |
VW. Sie muss nun mit den Arbeitgebern über Sozialplan und | |
Interessenausgleich, über Massenentlassungen und Werksschließungen | |
verhandeln. „Wir haben unsere Wurzeln hier im VW-Land. Viele schon seit | |
Generationen“, ruft Cavallo von der Bühne. „Wir geben unser Geld hier aus. | |
Werktags und am Wochenende. Wir geben es dem Bäcker, dem Schlachter, dem | |
Handwerker um die Ecke.“ Ihre Botschaft: Geht es VW schlecht, leidet die | |
ganze Region. | |
Die Stahlarbeiter:innen bei Thyssenkrupp in Duisburg verfolgen genau, | |
was in Wolfsburg passiert. Kurz vor dem Warnstreik war eine Delegation bei | |
den VW-Kolleg:innen, um Solidarität zu zeigen. Wie VW steht der Stahl aus | |
dem Ruhrgebiet für das westdeutsche Wirtschaftswunder. Das Areal von | |
Thyssenkrupp im Duisburger Norden gilt immer noch als größtes | |
zusammenhängendes Industriegebiet Europas, inklusive 300 Kilometer | |
Schienennetz. | |
Vier Hochöfen stehen hier, rund um die Uhr wird Stahl produziert, für die | |
Autoherstellung, für Haushaltsgeräte, für das Blech von Konservendosen. | |
„420 Kilo Stahl verbraucht jeder Bürger pro Jahr, und das wird nicht | |
weniger“, sagt Tekin Nasikkol, Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats von | |
Thyssenkrupp Steel. „Wir stellen kein auslaufendes Produkt her, was keiner | |
braucht.“ Er ist zudem als Konzernbetriebsratsvorsitzender für das gesamte | |
Unternehmen Thyssenkrupp AG zuständig. | |
Neben seinem Büro in der Konzernzentrale in Essen hat er eines in Duisburg | |
im Betriebsratshaus. An der Wand hinter seinem Schreibtisch hängen Papiere | |
und Flugblätter. „Vorwärts erinnern – 25 Jahre Rheinhausen“, steht auf | |
einem. Der Name des Duisburger Stadtviertels steht für den legendären | |
Arbeitskampf in den 1980ern. Die ganze Stadt kämpfte für den Erhalt des | |
Stahlwerks, Arbeiter:innen und Bürger:innen besetzten Brücken und | |
Autobahnen – vergebens. „Die Geschichte von Rheinhausen hat sich wie eine | |
Narbe in Duisburg eingeprägt“, sagt er. „Aber die Situation jetzt ist nicht | |
mit Rheinhausen zu vergleichen.“ Denn Rheinhausen war ein kleiner Standort. | |
Hier im Duisburger Norden geht es nicht um einen Teil. Hier geht es ums | |
Ganze. | |
## Die Transformation ist teuer | |
Die gigantische Industrieanlage ist mit den umliegenden Stadtteilen fest | |
verwachsen. Schornsteine, runde und rechteckige Zweckbauten ragen hinter | |
Häusern hervor. Riesige Rohre laufen an Überführungen und Straßen vorbei. | |
„Hochofengas“ oder „Kokereigas“ steht darauf – sehr klimaschädliche … | |
Wie die gesamte Branche steht Thyssenkrupp vor einer enormen | |
Herausforderung: Die Produktion des Unternehmens soll klimaneutral werden. | |
Diese Transformation ist teuer. Stahl wird heute mit Kohle hergestellt, | |
dabei werden große Mengen CO2 freigesetzt. Thyssenkrupp gehört zu den | |
Unternehmen, die vormachen sollen, wie es geht: [3][Statt Kohle soll | |
Wasserstoff bei der Stahlerzeugung benutzt werden.] Die Bundesregierung und | |
die NRW-Landesregierung fördern die erste Direktreduktionsanlage mit zwei | |
Milliarden Euro, daran hält das Unternehmen trotz der angedrohten | |
Stellenstreichungen fest. „Das ist politisch gut investiertes Geld in den | |
Strukturwandel, in die grüne Transformation und in den Wirtschaftsstandort | |
Deutschland“, sagt Nasikkol. „Man lernt bei der Transformation im | |
Vorwärtsgehen. Wenn die erste Anlage steht, wird es einfacher.“ | |
Nasikkol sieht in klimaneutralem Stahl einen Hebel für die ganze Industrie. | |
Alle aus grünem Stahl hergestellten Produkte vom Auto bis zur Waschmaschine | |
werden klimafreundlicher, das könnte ein enormer Wachstumsmarkt werden. | |
„Deutschland kann eine Vorreiterrolle spielen beim grünen Stahl“, sagt | |
Nasikkol. Aber vieles ist unklar: Was wird der Wasserstoff kosten, wird es | |
überhaupt genug davon geben? Welchen Preis können Hersteller für grünen | |
Stahl abrufen? Manager:innen könnten wegen der nötigen hohen | |
Investitionen und der Risiken beschließen, ganz auf die Produktion in | |
Deutschland zu verzichten. „Eine Reduzierung der Rohstoffkapazitäten oder | |
eine Verlagerung der Wertschöpfungsketten ins Ausland hat Konsequenzen für | |
den Wirtschaftsstandort Deutschland“, warnt der Gesamtbetriebsrat. | |
Das wäre der erste Schritt zur Deindustrialisierung. Dann müsste Stahl | |
importiert werden. Die Abhängigkeit von anderen Staaten würde Deutschland | |
erpressbar machen, sagt Nasikkol. „Die Welt wird ja nicht friedlicher, die | |
geopolitischen Risiken wachsen.“ Lieferketten würden fragiler. | |
## Mahnungen ohne Erfolg | |
Bund und Land wollen am Stahl festhalten, aber was Thyssenkrupp will, ist | |
unklar. „Stahl ist system- und sicherheitsrelevant. Die Politik hat ein | |
klares Bekenntnis zur Stahlproduktion in Deutschland abgelegt“, sagt | |
Nasikkol mit Blick auf die Förderung für das Transformationsprojekt. „Das | |
verpflichtet auch das Unternehmen.“ Doch das Management hadert seit Langem | |
mit der Stahlsparte. Mehr, als sie auszulagern, fällt den Managern nicht | |
ein. Im Frühjahr holten sie dafür den umstrittenen [4][tschechischen | |
Milliardär Daniel Křetínský als Investor an Bord.] Im August schmiss der | |
frühere SPD-Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel seinen Aufsichtsratsvorsitz | |
im Streit um die künftige Ausrichtung des Unternehmens hin. | |
Die Hersteller leiden nicht nur unter billigen Importen aus Asien und dem | |
Konjunkturtief. Für Thyssenkrupp sind die hohen Energiepreise ein Problem. | |
Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) wollte deshalb einen günstigen | |
Industriestrompreis für energieintensive Betriebe einführen. Doch daraus | |
ist nichts geworden. Nasikkol blickt mit gemischten Gefühlen auf den | |
beginnenden Wahlkampf. „Wir bekommen jetzt jede Menge Bekenntnisse zum | |
Stahlstandort“, sagt er. Nasikkol will mehr, etwa wettbewerbsfähige | |
Energiepreise. Doch bis zum kommenden Sommer wird sich auf Bundesebene | |
industriepolitisch nicht viel bewegen. | |
Eine weitere Option zur Stabilisierung von Thyssenkrupp Steel könnte ein | |
größeres Engagement des Staates sein. „Wenn das Land und der Bund | |
mitinvestieren, müssen sie auch dafür sorgen, dass das Geld gut angelegt | |
ist“, sagt Nasikkol. Die Hoffnung: Die Politiker:innen sorgen dafür, | |
dass die Rahmenbedingungen für die Stahlproduktion in Deutschland so gut | |
sind, dass die Unternehmen sie nicht verkleinern oder ins Ausland | |
verlagern. | |
Bei VW ist das Land Niedersachsen mit einem Anteil von 20 Prozent beteiligt | |
und der zweitgrößte Einzelaktionär. Mehr als die Hälfte der Aktien sind im | |
Besitz der Familien Porsche und Piëch. Auch Katar hält Anteile. So ist der | |
Arbeitsplatzerhalt bei Volkswagen auch ein Politikum. Bei der | |
Betriebsversammlung zwei Tage nach dem Warnstreik ist neben Konzernchef | |
Oliver Blume auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil. „Der langfristige | |
wirtschaftliche Erfolg dieses Unternehmens geht nur mit den Beschäftigten | |
dieses Unternehmens – und nicht gegen sie“, sagt der SPD-Politiker. Eine | |
solche Ermahnung hat der Minister in der Vergangenheit auch gen | |
Thyssenkrupp gerichtet. Ohne Erfolg. | |
## „Unsere Arche Noah war Thyssenkrupp“ | |
In Duisburg kann die Gewerkschaft nicht zu einem Streik aufrufen. Es | |
herrscht die sogenannte Friedenspflicht, solange der geltende Tarifvertrag | |
läuft, das ist bis 2026. Betriebsräte und IG Metall müssen sich auf | |
Aktionen und die Mahnwache beschränken. Im Eingangszelt der Mahnwache | |
stehen Bänke. An der Rückwand ist das Fenster zum Betriebsratshaus | |
geöffnet. Durch eine Zeltplane geht es in einen zweiten Raum. 39 | |
freigestellte Betriebsräte gibt es bei Thyssenkrupp. Sie wechseln sich mit | |
ihren Schichten bei der Mahnwache ab, zusätzlich zur Betriebsratsarbeit. | |
Das Zelt hat einen Holzboden, Bänke, Tische, an der Wand stehen lila | |
Sessel. Ein Heizlüfter sorgt für Wärme. | |
Es herrscht ein Kommen und Gehen. Viele waren früher auf anderen „Hütten“, | |
wie sie die Stahlbetriebe hier nennen. Davon gab es einst eine ganze Menge. | |
Hoesch, Mannesmann, Thyssen, Krupp. Fusion für Fusion wurden es weniger | |
Unternehmen und weniger Arbeitsplätze. Die Betriebsräte im Zelt wünschen | |
sich mehr Engagement von den Kolleg:innen im Werk. Sie glauben, dass | |
viele noch nicht realisiert haben, was ihnen droht – oder davon ausgehen, | |
dass es sie nicht trifft. „Es ist schon menschlich, zu hoffen, verschont zu | |
werden“, sagt einer. | |
Ihr Kollege Peter Ludwig kommt nach der Schicht im Zelt vorbei, er trägt | |
noch die graue Arbeitskleidung. Er arbeitet im Bereich der Gasversorgung. | |
Bei den sauberen Gasen, betont er. Das sind die, die wie Stickstoff für die | |
Reinigung von Ventilen benutzt werden – nicht die klimaschädlichen. Ludwig, | |
Jahrgang 1966, arbeitet seit 1982 in der Stahlindustrie. Machte früher ein | |
Stahlhersteller zu, gingen die einen Kolleg:innen in Frührente, die | |
anderen zu einem anderen Unternehmen. „Unsere Arche Noah war Thyssenkrupp“, | |
sagt Ludwig. „Wenn es das nicht mehr gibt, wissen wir nicht, wohin.“ | |
Ludwig hat denselben Beruf wie sein Vater, sein Sohn hat das Gleiche | |
gelernt: Betriebsschlosser, heute heißt es Industriemechaniker. Solche | |
Familientraditionen gibt es hier oft. „Mein Vater hat zu mir gesagt: Geh | |
auf die Hütte, das ist krisensicher und es gibt ein gutes soziales Netz“, | |
sagt Ludwig. Der Vater wurde vor 30 Jahren mit 54 in die Frührente | |
geschickt, am Morgen war er noch bei der Mahnwache. „Er ist mit 110 Prozent | |
in den Ruhestand gegangen“, berichtet Ludwig. Der Vater hat als Rentner | |
also zehn Prozent mehr Geld bekommen als vorher. | |
## Duisburg ist jetzt schon arm | |
Die Betriebsräte nicken, solche Geschichten kennt hier jeder. Aber keiner | |
glaubt, dass ihnen der vorzeitige Ruhestand so schmackhaft gemacht wird. Im | |
Gegenteil, sie müssen heftige Abstriche fürchten. Für die jungen wie | |
Ludwigs Sohn kommt das sowieso nicht in Frage. Er ist 23. „Er bildet sich | |
weiter“, sagt Ludwig. Das wird den Sohn vor Arbeitslosigkeit bewahren, | |
hofft er. | |
Duisburg ist schon jetzt eine Stadt mit überdurchschnittlicher Armut und | |
Arbeitslosigkeit. Massenentlassungen bei Thyssenkrupp würde die Lage weiter | |
verschlimmern. | |
Auch für Wolfsburg wäre ein Stellenabbau bei VW bitter. „Es ist in | |
Wolfsburg immer zu spüren, wenn es Volkswagen nicht gut geht“, sagt eine | |
Lebkuchenverkäuferin in der Fußgängerzone. Auch im Outlet-Center unweit des | |
Bahnhofs ist die VW-Krise angekommen. „Ja, das merkt man schon“, sagt Robin | |
Paar, der im Center den Laden eines Grill-Herstellers leitet. | |
Das Weihnachtsgeschäft läuft auf „nicht ganz so hohem Niveau“ wie sonst, | |
erzählt der Wolfsburger, dessen Vater bis vor einem Jahr bei VW gearbeitet | |
hat. Die Stammkundschaft, die nach Schichtende vorbeischaut, kauft jetzt | |
eher Kleinigkeiten. Dennoch bleibt Paar optimistisch: „Krisen gab es schon | |
öfter mal da drüben“, sagt er Richtung VW-Werk. „Dieses Mal sind die Sorg… | |
etwas größer. Aber auch das wird sich wieder legen.“ | |
6 Dec 2024 | |
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Anja Krüger | |
Simon Poelchau | |
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