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# taz.de -- Vor der Bundestagswahl: Links liegen gelassen
> Die rechte Hegemonie wirkt überwältigend in diesen Zeiten. Wer sie
> überwinden will, muss sich den eigenen Fehlern stellen.
Bild: Hand in Hand gegen die „Remigrationspläne“ der AFD, in Berlin und ü…
Berlin taz | Würde es die Linken nicht geben, müsste man sie erfinden – als
Sündenbock für Probleme, die Rechte verursacht haben und Populisten nicht
lösen wollen. Vor acht Jahren fing es an, mit dem ersten Wahlsieg von
Donald Trump. Der Politologe Mark Lilla und die Philosophin Nancy Fraser
identifizierten eine linksliberale Intellektuellenelite als Ursache dafür,
dass in den USA weiße Männer ohne College-Abschluss von den Demokraten zu
den Republikanern abgewandert waren.
„Progressiver Neoliberalismus“ und Identitätspolitik lauteten die
Stichworte. Die dazugehörige These besagte, dass die kulturellen und
demokratischen Establishments, also Linke und Linksliberale, die
Arbeiterklasse verachten. Linke sollten also Schuld haben am Rechtsruck.
Ein Erklärmodell, das hierzulande rasend schnell Abnahme fand – bei
AfD-Politiker:innen, bei Rechtskonservativen, bei Medien wie der Welt.
Dass diese Übertragung nicht wirklich passte, weil das amerikanische
Parteiensystem gänzlich anders ist, es hier gar kein Hollywood gibt, also
eine mächtige, von progressivem Gedankengut geprägte
Unterhaltungsindustrie, dafür aber (noch) relativ gut verankerte
Gewerkschaften und ein Sozialsystem, in dem man nicht mit dem Jobverlust
die Krankenversicherung verliert – geschenkt.
Seit Jahren läuft das so: Nennt man als Wohnort Berlin-Kreuzberg, als Beruf
Journalistin („links-grüner Mainstream“), erwähnt man noch dazu weitere
Trigger-Faktoren wie Vegetarierin („Grill-Verbot“) und Fahrradfahrerin
(„Verbrenner-Aus“), kommt sogleich, je nach politischer Weltanschauung des
Gegenübers, entweder die Identifizierung als arrogante Vertreterin eines
progressiven Neoliberalismus oder als Repräsentantin einer linken
Hegemonie, die es nie gab.
## Welche Gesellschaft soll das abbilden?
Also als jemand, der rein gar nichts vom „wirklichen Leben“ und den Sorgen
der „normalen“ Menschen versteht, auch wenn nach der Mietüberweisung noch
sehr viel Monat übrig bleibt. Wenn Friedrich Merz sich der Mittelschicht
zuordnet und findet, „nicht Berlin, nicht Kreuzberg ist Deutschland,
Gillamoos ist Deutschland“ – übrigens kein Ort, sondern ein Jahrmarkts- und
Politikspektakel, lautet die Frage: Welche Gesellschaft soll das eigentlich
abbilden?
Meine Generation, oder vielleicht genauer: meine linke Blase, die
allerdings nicht ganz untypisch für meine Generation ist, wurde durch die
von der Union systematisch verharmlosten Baseballschlägerjahre, Antifa und
Punkrock politisch sozialisiert. Viele studierten (Aufstiegsversprechen),
viele jobbten in den Semesterferien an den Fließbändern der Industrie (gut
bezahlt) und kellnerten nebenbei.
Nach dem Studium folgten lange und prinzipiell unbezahlte Praktika, die die
Chance erhöhten, sich danach von einem befristeten Job zum nächsten zu
hangeln. Wir waren die ersten, deren Berufseinstieg auf dem sogenannten
flexibilisierten Arbeitsmarkt begann. Es war die Zeit, in der dank einer
stramm neoliberalen Politik das Aufstiegs- und Wohlstandsversprechen
zerschellte und die Lebensentwürfe fragil wurden.
Qua Biografie war man antifaschistisch, antirassistisch und
kapitalismuskritisch aufgestellt, ohne sich dafür zwangsläufig auf
elaborierte intellektuelle Höhenflüge begeben zu müssen.
Linksemanzipatorisch zu werden war sozusagen eine vollkommen logische
Entwicklung. Und die derzeitigen Debatten um Asyl und Bürgergeld rufen bei
uns fatale Erinnerungen an die 90er und Nullerjahre hervor.
## Aus jeder Krise gingen die Reichen reicher raus
16 Jahre Merkel-Regierung hießen Schwarze Null, die Straßen und Schienen
bröckelten, die Schulgebäude wurden marode. Finanzkrise und Corona dämmten
zwar das neoliberale Dogma „Mehr Markt als Staat“ ein, aber aus jeder Krise
gingen die Reichen reicher und die Armen ärmer hervor. Linke und
Linksliberale wählten die Linkspartei (zumindest bis die Wagenknechtianer
so richtig loslegten), Grün (trotz Skepsis gegenüber dem grünen
Kapitalismus), oder vielleicht auch SPD (der man allerdings Hartz IV nie
verzieh).
Ein Votum also für eine rot-rot-grüne Mehrheit, die es zwar mehrfach gab,
aber aus der nie eine Regierung wurde.
Dann kam die Ampel: Fortschrittskoalition mit dem Versprechen, die
überfällige sozialökologische Transformation endlich auf den Weg zu
bringen. Auch wenn viele im Unterschied zu Olaf Scholz die Performance von
Christian Lindner nicht überraschte und der Ökonom Joseph Stiglitz und der
Wirtschaftshistoriker Adam Tooze ja explizit davor gewarnt hatten, den
FDP-Chef und Schuldenbremsen-Apologeten zum Finanzminister zu küren, konnte
man die Ampel als besser empfinden als die Aussicht auf weitere Jahrzehnte
Stillstand mit der Groko.
Corona, Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, den Umbau der
Energieversorgung sicherstellen – angesichts einer solchen weltpolitischen
Lage gab es Respekt vor den Aufgaben, die sich da türmten. Dass Friedrich
Merz und Markus Söder der Ampel das Leben schwer machen würden, war zu
erwarten. [1][Dass die Ampel allerdings so dermaßen schnell in die
Defensive gehen würde, nicht.]
Asylrechtsverschärfungen, Lützerath-Räumung, Klimaschutz-Gesetz mit
aufgeweichten Sektorzielen, verschärfte Maßnahmen gegen „Klimakleber“, das
Ausbleiben des versprochenen Klimagelds, schärfere Regeln beim Bürgergeld
statt Sozialstaat auf Augenhöhe, da schwand das anfängliche Wohlwollen
rapide.
## Ein wohltuendes Gefühl der Selbstvergewisserung
Aber dann begann das Jahr 2024 [2][mit den größten Demonstrationen in der
Geschichte der Bundesrepublik]. Rund 3,6 Millionen Menschen gingen
wochenlang gegen Rechtsextremismus auf die Straße. Das Narrativ, dass sich
nur wohlhabende linksliberale Akademiker:innen mit Eigentumswohnungen
in teuren Großstädten antirassistisches Engagement „leisten“ können, lief
mit den Bildern der Massen von Menschen, die auch landauf, landab, in
kleinen Städten und auf dem Dorf demonstrierten, ins Leere.
Das gab ein wohltuendes Gefühl von Selbstvergewisserung, dass man zusammen
weniger allein ist, in diesen Zeiten der permanenten Bewirtschaftung von
Ressentiments.
Der Protest sollte ein Druckmittel gegenüber Politiker:innen der
demokratischen Parteien sein, die eigene Abgrenzung zur AfD zu betonen. Die
Adressierten stimmten Lobeshymnen auf die Zivilgesellschaft an. Und machten
danach weiter wie bisher.
Leute wie ich, aber auch viele aus gänzlich anderen Lebenswelten, die gegen
Rechtsextremismus und die Abschiebepläne der AfD demonstriert hatten,
wurden links liegen gelassen. Mehr Entmutigung geht kaum: Die Union setzte
die Ampel unter Druck, die Ampel-Regierung verschärfte in noch höherer
Taktung das Asylrecht, die AfD eilte von Wahlerfolg zu Wahlerfolg.
## Vertane Chancen
Es wäre eine Chance gewesen, sich statt des seit Pegida in der politischen
Debatte omnipräsenten Sozialcharakters des „besorgten Bürgers“ der Sorge
von linken, linksliberalen und liberalkonservativen Milieus vor dem Verlust
der offenen und pluralistischen Gesellschaft zu widmen.
Der 6. November ging dann als Tag in die Geschichte ein, an dem morgens mit
dem erneuten Wahlsieg von Donald Trump eindrucksvoll vor Augen geführt
wurde, wie dominant die rechte Hegemonie ist. Abends kam das Ende der
Ampel. Was unterdessen in der Aufmerksamkeitsökonomie unterging:
Nachmittags hatte das Bundeskabinett noch zwei asylpolitische
Gesetzentwürfe verabschiedet, mit denen sogar Kindern die Inhaftierung
droht.
In sieben Wochen steht eine Bundestagswahl an, bei der entscheidend ist,
dass die Regierung, die daraus hervorgeht, keinen Mist baut. Denn die
Furcht davor, dass bei der übernächsten Wahl die AfD an die Macht kommen
könnte, ist berechtigt. Es reicht, einen Blick auf andere europäische
Länder zu werfen, in denen rechtsextreme Regierungsparteien längst die Axt
an die liberale Demokratie und den Rechtsstaat legen.
Aktuelle Umfragen zur Bundestagswahl zeigen, dass hierzulande die antilinke
Konjunktur auch nach der Trump-Erschütterung konstant geblieben ist. Die
CDU liegt stabil bei der 30-Prozent-Marke, gefolgt von der AfD bei 19
Prozent. Bei den Parteien Mitte-links und links der Mitte kommt die SPD auf
16, [3][die Grünen auf 12 Prozentpunkte], die Linkspartei liegt unter der
5-Prozenthürde, könnte es aber über Direktmandate in den Bundestag
schaffen.
## Und wen wählt man jetzt?
Angesichts dessen ist es für Linksliberale und linke Wähler:innen keine
gute Idee, aus Frust über die Politik der Ampel nun auf eine der
Kleinstparteien zu setzen, die keine Chance auf einen Parlamentseinzug
haben.
Nur, wen wählt man da? Die Linkspartei ist seit dem Abgang von Sahra
Wagenknecht, ihren Getreuen und der BSW-Gründung noch im
Wiederfindungsprozess. SPD und Grüne haben in der Regierungszeit an
Glaubwürdigkeit verloren.
Zum Scheitern der Ampel ist oft zu hören: die FDP, die Karlsruher
Entscheidung zur Schuldenbremse, die Kampagne gegen das Heizungsgesetz. Was
bei SPD und Grünen hingegen eher diskret ausfällt, ist die selbstkritische
Aufarbeitung des eigenen Regierungshandelns in der Ampel.
Und jetzt? Weniger Konzessionen an den rechten Zeitgeist wären eine Idee.
Dass gerade die Grünen als Feindbild Nummer eins funktionieren, – trotz
ihres pragmatischen Agierens bis zu ihrer eigenen Schmerzgrenze – sagt viel
über die derzeitige Schwäche linker und linksliberaler Parteien im
Allgemeinen und der gesellschaftlichen Linken aus. Aber sie werden alle
zwingend gebraucht, um der rechten Hegemonie etwas entgegenzusetzen.
4 Jan 2025
## LINKS
[1] /Gruende-fuer-das-Aus-der-SPD-Kanzler/!6054126
[2] /Demonstrationen-gegen-rechts/!6010897
[3] /Nach-Ruecktrittswelle-bei-den-Gruenen/!6035815
## AUTOREN
Martina Mescher
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