| # taz.de -- Bundestagswahl 2025: Verdrossenheit ist auch keine Lösung | |
| > Das Land ist in der Krise und die Politikverdrossenheit groß. Schlechte | |
| > Stimmung hilft aber nicht, wenn die Demokratie verteidigt werden muss. | |
| Deutschland hat schlechte Laune: Wetter, Zukunftssorgen und jetzt auch noch | |
| Winterwahlkampf. Zumindest letzteren hat sich das Wahlvolk in gewisser | |
| Hinsicht selbst eingebrockt. Seit dem Sommer und über Monate hinweg | |
| verlangte mehr als die Hälfte der Deutschen das, was sie nun bekommen: eine | |
| vorgezogene Neuwahl. | |
| Aber was sollte die bringen? Zwar erreichte die Unzufriedenheit mit | |
| Noch-Kanzler Olaf Scholz und seinen Koalitionären bis dahin ungekannte | |
| Negativrekorde. Der wahrscheinliche Nachfolger und Anführer der größten | |
| Oppositionspartei – Friedrich Merz – war schon damals nicht viel beliebter | |
| als der Amtsinhaber. Bei der Frage, was man denn von ihnen halten soll, | |
| liegen [1][SPD-Mann Scholz] und CDU-Kandidat Merz nun zu Beginn des | |
| eigentlichen Wahlkampfes annähernd gleichauf, Merz (und der Grünen-Kandidat | |
| Robert Habeck) mit einem kleinen Vorsprung. Spitzenwerte konnte allerdings | |
| kein Kandidat für sich verbuchen. | |
| Nochmal deutlich unbeliebter sind unter den bekanntesten | |
| Politiker:innen [2][Sahra Wagenknecht,] Christian Lindner und Alice | |
| Weidel. Doch auch für die Linke gibt es an dieser Stelle keinen Grund zur | |
| Freude: Ihr Spitzenduo (zur Erinnerung: Jan van Aken und Heidi Reichinnek) | |
| ist so unbekannt, dass überhaupt keine Messwerte vorliegen. Helfen soll | |
| hier deshalb nun das letzte Aufgebot der sogenannten Silberlocken. [3][Die | |
| Malaise beschränkt sich aber nicht auf das Personal,] sondern betrifft die | |
| Parteien insgesamt. Im letzten Politbarometer vor Weihnachten erwarteten | |
| lediglich 29 Prozent der Befragten, dass eine zukünftige unionsgeführte | |
| Bundesregierung eine bessere Politik machen würde. Das ist tatsächlich noch | |
| etwas weniger als der Anteil derjenigen, die angaben, für CDU und CSU | |
| stimmen zu wollen. | |
| Die zweitgrößte Oppositionspartei hat in der laufenden Legislaturperiode | |
| zwar erheblich an Zuspruch gewonnen. Trotzdem ist die AfD für die große | |
| Mehrheit der Bevölkerung keine Alternative. Als die Frage zuletzt im | |
| Februar (und damit unter dem frischen Eindruck der Enthüllungen über Pläne | |
| für eine „Remigration“) gestellt wurde, zeigten sich mehr als drei Viertel | |
| der Bürger:innen überzeugt, dass in der AfD rechtsextremes Gedankengut | |
| weit verbreitet sei. Gering sind auch die positiven Erwartungen an eine | |
| Regierungsbeteiligung des BSW, von dem aktuell noch nicht einmal klar ist, | |
| ob es überhaupt im nächsten Bundestag vertreten sein wird. Kurzum, die | |
| Stimmung beim Wahlvolk ist denkbar trübe, dementsprechend niedrig sind auch | |
| die Erwartungen an die Wahl. | |
| Letzteres könnte sich im Wahlkampf durchaus noch einmal ändern, was | |
| mittelfristig aber auch nichts Gutes erwarten ließe. Die Union verspricht | |
| aktuell eine Rückkehr in die Vor-Merkel-Zeit nicht nur in der | |
| Gesellschafts-, sondern auch in der Wirtschafts- und Fiskalpolitik: | |
| Niedrigere Steuersätze für Reiche und die gehobene Mitte sollen zusammen | |
| mit drastischen Kürzungen bei den Sozialausgaben die Wirtschaft so sehr | |
| beflügeln, dass dies die Lücken im Etat wie von selbst schließt und eine | |
| (modifizierte?) Schuldenbremse eingehalten werden kann. Dazu soll es | |
| möglicherweise eine etwas robustere Unterstützung für die Ukraine geben. | |
| Die SPD gönnt sich derweil eines der linkesten Programme der vergangenen | |
| Jahre. Sie will endlich investieren, Familienleistungen ausbauen, das | |
| Rentenniveau stabil halten und den Sozialstaat, wenn nicht gar ganz | |
| Deutschland, Europa und die Welt vor der [4][„Merz-CDU“] beschützen. | |
| ## Enttäuschung ist vorprogrammiert | |
| Beide Botschaften sind durchaus geeignet, die jeweiligen eigenen Anhänger | |
| noch einmal zu mobilisieren. Sie wecken bei diesen aber auch Hoffnungen, | |
| die offensichtlich so nicht einzulösen sind, wenn der derzeit | |
| wahrscheinlichste Fall eintritt und beide Parteien nach der Wahl einmal | |
| mehr eine gemeinsame Regierung bilden. Mindestens ebenso groß wären auch | |
| die mentalen und emotionalen Zumutungen, die mit der – wiederum nach | |
| aktuellem Stand – einzig anderen plausiblen Konstellation verbunden wären: | |
| einer schwarz-grünen Koalition. Damit ist die Enttäuschung nach der | |
| Mobilisierung vorprogrammiert. Schlimmer noch: wer den absehbaren | |
| zukünftigen Partner im Wahlkampf dämonisiert, macht sich bei großen Teilen | |
| des Publikums schon heute unglaubwürdig. | |
| Misstrauen, Unzufriedenheit und Desinteresse als grundlegende Probleme der | |
| deutschen Demokratie sind zum großen Teil strukturell bedingt und | |
| keineswegs neu: Bereits 1992 wählte die Gesellschaft für Deutsche Sprache | |
| „Politikverdrossenheit“ zum Wort des Jahres. Vorangegangen war dem eine | |
| lange politische und akademische Debatte, die bis heute nicht abgerissen | |
| ist. In dieser wurden einige historische Entwicklungen identifiziert, die | |
| helfen können, zu verstehen, warum „die Politik“ in Deutschland, aber auch | |
| in vielen anderen Demokratien seit Jahrzehnten so unbeliebt ist und unter | |
| erheblichem Druck steht. | |
| Zu nennen ist hier in erster Linie die Pluralisierung und | |
| Ausdifferenzierung der Gesellschaft und der damit verbundene Niedergang von | |
| Kirchen und Gewerkschaften als Organisationen im sogenannten Vorfeld der | |
| beiden Volksparteien. In der Vergangenheit konnten diese – nicht immer, | |
| aber oft – ihre vielbeschworene Funktion als Transmissionsriemen zwischen | |
| Politik und Gesellschaft erfüllen. Noch Mitte der 1970er Jahre gehörte fast | |
| ein Drittel der (zumeist männlichen, oft manuell tätigen) | |
| Erwerbsbevölkerung einer Gewerkschaft an. Heute ist es noch ein gutes | |
| Neuntel. Mehr als 80 Prozent der Gesamtbevölkerung waren Mitglieder der | |
| katholischen oder der evangelischen Kirche. Dieser Wert ist inzwischen auf | |
| [5][deutlich unter 50 Prozent geschrumpft] und sinkt kontinuierlich weiter. | |
| Auch wenn die Zeiten politisch keineswegs ruhig waren, konnten eine große | |
| Mitte-links-Partei, eine große Mitte-rechts-Partei und eine kleine liberale | |
| Partei noch 1976 satte 99 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen | |
| – und dabei behaupten, dass sie „das Volk“ halbwegs angemessen | |
| repräsentierten. | |
| Schon sieben Jahre später zog mit den Grünen erstmals seit den 1950er | |
| Jahren eine neugegründete Partei in den Bundestag ein, die explizit eine | |
| grundlegend andere Politik forderte und neue politische Anliegen | |
| repräsentierte. Seitdem ist durch Modernisierung und Postmodernisierung, | |
| Wiedervereinigung, Globalisierung und Zuwanderung die Zahl politisch | |
| relevanter Gruppen und Streitfragen fast kontinuierlich gestiegen und auch | |
| die Zahl der politisch relevanten Parteien bewegt sich auf (für deutsche | |
| Verhältnisse) hohem Niveau. | |
| Unter diesen Bedingungen ist es schwer, Koalitionen zu bilden, die sich auf | |
| ein gemeinsames, kohärentes Regierungsprogramm einigen können, das | |
| idealerweise auch noch den Vorstellungen einer Bevölkerungsmehrheit | |
| entsprechen sollte. Und selbst dort, wo das gelingt, gibt es eine ganze | |
| Reihe von Vetospielern – angefangen beim ebenfalls von immer bunteren und | |
| komplizierteren Koalitionen geprägten Bundesrat – die dessen Umsetzung im | |
| Wege stehen können. Das macht es ausgesprochen schwierig, die inzwischen | |
| fast 62 Millionen Souveräne zufriedenzustellen. | |
| ## Emotionalisierte Inhalte | |
| Hinzu kommen weitere strukturelle Probleme, die sich seit den 1990er Jahren | |
| abgezeichnet, aber in den vergangenen Jahren noch einmal deutlich | |
| verschärft haben. Erstens ist eigentlich fast immer irgendwo in Deutschland | |
| Wahlkampf. Zweitens stehen Politiker:innen wie niemals zuvor unter | |
| Dauerbeobachtung durch ein digital beschleunigtes Mediensystem, das | |
| zusehends auf kurze, negative, emotionalisierte Inhalte angewiesen ist, um | |
| mit einer immer dünneren Personaldecke hinreichend viel Aufmerksamkeit und | |
| damit Werbeeinnahmen zu generieren. Drittens sind die populistischen Feinde | |
| der liberalen Demokratie inzwischen fest im politischen System verankert | |
| und machen sich dessen Möglichkeiten zu Nutze, um die demokratischen | |
| Parteien zu diskreditieren. | |
| Unter diesen Bedingungen handelt Politik zu häufig reaktiv und ist zu sehr | |
| auf die kurzfristigen Reaktionen in Medien und Umfragen fixiert. | |
| Langfristige Ziele und Pläne bleiben dabei ebenso auf der Strecke wie der | |
| Versuch, die Bevölkerung von deren Notwendigkeit zu überzeugen. Das hat | |
| funktionelle Konsequenzen, die man gerade jetzt wieder beobachten kann: | |
| Weil Wähler:innenstimmen die harte Währung der Demokratie sind und man | |
| die ungnädigen Reaktionen der Bürger:innen fürchtet, wagt es in diesem | |
| Wahlkampf keine der früheren Volksparteien, offen auszusprechen, dass | |
| Deutschlands altes ökonomisches Modell nicht mehr in die veränderte Welt | |
| passt. Obwohl dies allen Verantwortlichen klar sein dürfte. | |
| Die absehbare Folge sind weitere Jahre der Stagnation. Dabei verfügt das | |
| Land (noch) über die Ressourcen, um sich grundlegend zu modernisieren und | |
| in seine Zukunft zu investieren. Die aktuellsten Umfragen zeigen einmal | |
| mehr, dass bei der großen Mehrheit der Blick auf das Land und die | |
| Wirtschaft zwar durchaus sorgenvoll, die Wahrnehmung der individuellen Lage | |
| aber weitaus positiver und der Wunsch nach Veränderung groß ist. Dissens – | |
| siehe oben – besteht allerdings darüber, wohin die Reise denn gehen sollte, | |
| wenn man sich denn aufmachen würde. | |
| Ganz zu Beginn ihrer Regierungszeit hatten sich die Parteien der Ampel | |
| vorgenommen, dieses Potential mit einer neuen Fortschrittserzählung zu | |
| aktivieren. Wegen der vielfältigen, sich überlagernden Krisen ist diese | |
| Erzählung niemals über ihren Anfang hinausgekommen. Ob sie unter | |
| günstigeren Voraussetzungen die erhoffte Wirkung gezeigt hätte, ist eine | |
| andere Frage: Wer darauf hinweist, dass (selbst jetzt noch) die Lage | |
| deutlich besser ist als die Stimmung, und wir uns mit unserer schlechten | |
| Laune selbst im Wege stehen, sieht sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, | |
| selbst Teil jener abgehobenen Elite zu sein, die für das ganze Elend | |
| verantwortlich sein soll. | |
| Was also können wir selbst tun? Vom Rechtsphilosophen und späteren | |
| Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde stammt die berühmte Einsicht, | |
| dass die moderne Demokratie von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht | |
| garantieren kann. Gemeint hat er damit das, was wir heute Zivilgesellschaft | |
| nennen, und hier liegt ein wichtiger Ansatzpunkt. Durch Engagement in | |
| Vereinen, Initiativen und Genoss:innenschaften, in Gewerkschaften und | |
| Kirchen – und ja, wenn wir uns dazu durchringen können, sogar in den | |
| demokratischen Parteien – können alle etwas für diese Voraussetzungen tun, | |
| die nötig sind, damit die Demokratie trotz ihrer inneren Widersprüche | |
| irgendwie weiter funktioniert. Und gegen die schlechte Laune hilft das dann | |
| auch. | |
| 5 Jan 2025 | |
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